Rolf Dobelli: Massimo Marini

Aufstieg und Fall

Als Säugling wird der kleine Massimo von seinen Eltern, Saisonarbeitern aus Süditalien, in die Schweiz eingeschmuggelt. Es dauert Jahre, bis die Familie offiziell als Familie in der Schweiz leben kann. Die Eltern bringen es von rechtlosen Fremdarbeitern zu einem eigenen Tunnelbauunternehmen, aber der Sohn rebelliert. Er beteiligt sich zu ihrem Entsetzen an den gewalttätigen Opernhauskrawallen, die 1980 die Schweiz erschüttern, und an den militanten Atomkraftprotesten in der Bundesrepublik. Erst nach dem Tod des Vaters kehrt Massimo zurück und übernimmt das erfolgreiche Familienunternehmen. Der Auftrag für den Gotthardtunnel und der Durchstich könnten sein größter Triumph sein, doch es wird sein Untergang.

Rolf Dobelli, Schweizer Schriftsteller und Max-Frisch-Verehrer, hat mit Massimo Marini den ersten Roman vorgelegt, der nicht ausschließlich in der ihm vertrauten Businesswelt spielt. Gekonnt verknüpft er die Geschichte der Migranten in der Schweiz, des Gotthardtunnelbaus und Aufstieg und Fall des Massimo Marini zu einem spannenden, temporeichen und leichtfüßig geschriebenen Roman. Definitiv einer meiner Favoriten unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren!

Rolf Dobelli: Massimo Marini. Diogenes 2012
www.diogenes.ch

Uwe Timm: Vogelweide

Wahlverwandtschaften oder Wie konnte es so weit kommen?

Schauplatz von Uwe Timms Roman Vogelweide, der es 2013 auf die Longlist zum deutschen Buchpreis schaffte, ist die kleine Sandinsel Scharnhörn in der Elbemündung, die ausschließlich bei Ebbe per Kutsche zu erreichen ist. Dort lebt nur ein Vogelwart, Christian Eschenbach. Bis vor sechs Jahren gehörte er zum gehobenen Berliner Bürgertum, hatte eine florierende Softwarefirma und eine Luxuswohnung am Zoo, eine polnische Dauerfreundin und eine Geliebte, Anna, die Frau seines Freundes Ewald.

Während Eschenbach auf den überraschend angekündigten Besuch von Anna wartet, die ihn damals zeitgleich mit der Insolvenz seiner Firma verlassen hat, rekapituliert er sein Leben.

Vogelweide ist ein melancholischer Roman um Ehe, Treue, Partnertausch, Begierde und Moral, gekonnt in der Balance gehalten zwischen altmodisch und aktuell und in der für Uwe Timm charakteristischen Puzzlemanier erzählt, die mich als großen Timm-Fan wieder einmal zugleich gefordert und fasziniert hat.

Uwe Timm: Vogelweide. Kiepenheuer & Witsch 2013
www.kiwi-verlag.de

Ulf Nilsson: Herz Schmerz

Unsterblich verliebt

Um große Gefühle ging es schon in seinem Kinderbuch Die besten Beerdigungen der Welt. Mit Herz Schmerz hat Ulf Nilsson zusammen mit der Illustratorin Lena Ellermann ein sensibles Buch zum Thema Liebe geschrieben, in dem die Gefühle des neunjährigen Ich-Erzählers mit allem Auf und Ab und seinen Hoffnungen und Enttäuschungen anrührend geschildert werden.

Der Junge ist in Britta aus der Sommerstraße verliebt, vielleicht schon sehr lange. Da die Auserwählte davon nichts weiß und der beste Freund Bengt zugleich der größte Rivale ist, scheint guter Rat teuer. Was immer er sich ausdenkt misslingt und als er Britta schließlich direkt anspricht, kassiert er eine Absage. Und so beschließen Bengt und er, dass sie der Liebe abschwören und sich für die nächsten 15 Jahre lieber mit Erfindungen beschäftigen wollen.

Ein einfühlsames Buch für Jungen ab ca. sieben Jahren, das aber sicherlich auch manches Mädchen interessieren wird und auf jeden Fall Erwachsenen viel Spaß macht.

Ulf Nilsson: Herz Schmerz. Moritz 2013
www.moritzverlag.de

Wiebke Eden: Die Zeit der roten Früchte

Eine Frau, die sich nicht in ein System pressen lässt

Ein Dorf bei Stettin 1939. Wenn die jüngeren Schwestern der Mutter helfen, sitzt die 20-jährige Greta lieber mit dem Vater vor dem Haus oder hilft ihm mit den Schafen. Der Vater, der schon früh Stellung gegen die neuen Machthaber bezieht, ist ihr Fels in der Brandung. Auch sonst ist Greta anders: Als sie nach einer kurzen Affäre schwanger wird, bringt sie ihr Kind lieber unehelich zur Welt, als einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Sie verliert ihre Anstellung in einem Ausflugslokal und wird hart mit den Zwängen der kleinbürgerlichen Moral konfrontiert. Erst als viele Männer in den Krieg ziehen, findet sie eine Anstellung als Straßenbahnschaffnerin und eine neue Liebe.

Wiebke Eden schreibt in einer reduzierten, kühlen Sprache fast ohne wörtliche Rede über eine Generation, die keine Jugend hatte. Greta bleibt weitgehend sprachlos, wenn es um ihre Gefühle geht, aber sie verfolgt mit einer beeindruckenden Hartnäckigkeit ihren Weg.

Wiebke Eden: Die Zeit der roten Früchte. Knaur 2010
www.droemer-knaur.de

Ian McEwan: Abbitte

Leben mit der Schuld

dengland 1935. Es ist ein unerträglich heißer Tag. Auf dem Landsitz der Familie Tallis beobachtet die 13-jährige, fantasiebegabte und zugleich kindlich überspannte Tochter Briony ihre ältere Schwester Cecilia mit Robbie Turner, dem Sohn einer Hausangestellten, zweimal in für sie unverständlichen Situationen. Schnell hat sie ihr Urteil gefällt: Robbie ist ein Psychopath, vor dem sie Cecilia beschützen muss. Als dann am Abend im Park ein Verbrechen geschieht, ist Briony überzeugt, den Täter nicht nur zu kennen, sondern ihn auch tatsächlich gesehen zu haben. Durch ihre Aussage löst sie eine Katastrophe aus und verändert das Leben aller Beteiligten so dramatisch, dass sie selber ein Leben lang unter ihrer Schuld zu leiden hat.

Für mich ist Abbitte Ian McEwan mit Abstand bester Roman, spannend und berührend, immer wieder mit Gewinn neu zu lesen. Auch die Verfilmung des englischen Regisseurs Joe Wright (Stolz und Vorurteil) mit Keira Knightley als Cecilia aus dem Jahr 2007 hat mir gut gefallen, erreicht aber die Tiefe des Buches bei weitem nicht.

Ian McEwan: Abbitte. Diogenes 2004
www.diogenes.ch

Udo Riccarelli: Der vollkommene Schmerz

Eine toskanische Familiensaga und 100 Jahre italienische Geschichte

Spannend, klar und in kraftvollen Bildern erzählt Riccarelli von zwei toskanischen Familien vor dem Hintergrund von fast 100 Jahren italienischer Geschichte.

Kurz vor 1900 kommt ein junger Lehrer und Anarchist aus dem Süden in das toskanische Dorf Colle. Vier Kinder entstammen seiner Verbindung mit einer Witwe, bevor er bei einer Demonstration erschossen wird. Ein Sohn heiratet die Tochter eines reichen Schweinezüchters aus einer reaktionären, später faschistischen Familie.

Immer wiederkehrendes Motiv ist Der vollkommene Schmerz bei Verlust, Trennungen, Tod, aber auch Geburten. Das Leben gleicht dem Perpetuum mobile, an dem ein Enkel des Lehrers baut.

Der Italiener Ugo Riccarelli erzählt in einem sehr eigenen, distanzierten Stil voller Poesie, der an die großen südamerikanischen Erzähler erinnert.

Udo Riccarelli: Der vollkommene Schmerz. Zsolnay 2006
www.hanser-literaturverlage.de

Mariolina Venezia: Tausend Jahre, die ich hier bin

Viele Anekdoten, verwoben zu einer italienischen Familiengeschichte

Ähnlich wie in der italienischen Familiengeschichte Der vollkommene Schmerz von Ugo Riccarelli befasst sich auch der  Roman von Mariolina Venezia Tausend Jahre, die ich hier bin mit dem Schicksal einer italienischen Familie im Zeitraum zwischen 1861 und 1989, spielt allerdings im Süden Italiens, in der zwischen Ferse und Stiefelspitze gelegenen Region Basilikata. Obwohl etwas weniger politisch als Riccarelli, verwebt auch Mariolina Venezia meisterhaft die Geschicke einer Familie mit den historischen Hintergründen von der Einigung Italiens über die beiden Weltkriege, Aufstieg und Niedergang der italienischen KP und die Ermordung Aldo Moros bis zum Ende des Kalten Krieges.

Fünf Generationen verfolgt die Autorin, schildert die Schicksale der zahlreichen Familienmitglieder vor dem Hintergrund einer bis in die jetzige Zeit fast archaisch wirkenden Umgebung und schöpft dabei aus dem großen Vorrat von Anekdoten und Legenden ihrer Geburtsregion.

Mariolina Venezia: Tausend Jahre, die ich hier bin. Piper 2007
www.piper.de

Alice Herdan-Zuckmayer: Das Scheusal

Eine Geschichte für Hundeliebhaber und Hundehasser

Kurz vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich erbte Alice Herdan-Zuckmayer von ihrer Tante neben einem kostbaren Pelz, wertvollem Schmuck und schönem Silber auch eine extrem hässliche, gelbe, blinde, verwöhnte und bissige, dem Alkohol und Chanel Nr. 5 zuneigende Hündin namens Mucki. Carl Zuckmayer beschrieb sie als „Kreuzung zwischen Fledermaus, Wüstenfuchs und Warzenschwein“, Fritz Kortner nannte sie „Kanalröhre“.

Während die wertvolleren Teile der Erbschaft und die treuen Rassehunde der Familie in Wien bzw. Henndorf zurückbleiben mussten, ging Mucki, die man niemandem zumuten konnte, mit ins Schweizer und schließlich sogar ins amerikanische Exil. Hochbetagt starb sie schließlich auf der Farm der Zuckmayers in Vermont.

Mit viel Humor schreibt Alice Herdan-Zuckmayer nicht nur über Das Scheusal, sondern auch über ihr Leben an der Seite von Carl Zuckmayer, die atemberaubende Flucht aus Österreich 1938 und die ersten Jahre im Exil.

Alice Herdan-Zuckmayer: Das Scheusal. Fischer 1988
www.fischerverlage.de

Mercè Rodoreda: Auf der Plaça del Diamant

Die Folgen des Krieges

Mercè Rodoreda wurde 1909 in Barcelona geboren. Als politisch engagierte Schriftstellerin ging sie 1939 ins Exil, zuerst nach Frankreich, dann in die Schweiz. Sie starb 1983 in Romanyà de la Selva. Heute gilt sie als eine der wichtigsten katalanischen Autorinnen.

In ihrem bekanntesten Roman Auf der Plaça del Diamant erzählt eine sehr einfache Frau, Natàlia, ihre Lebensgeschichte vor, während und nach dem Spanischen Bürgerkrieg in genau dem einfach-naiven Stil, den man von ihr erwartet. Sie berichtet fast monoton und absolut ehrlich von ihrer Heirat mit Quimet, einem Aushilfsschreiner und Hobby-Taubenzüchter, ihren beiden Kindern, der finanziellen Not, aus der heraus sie eine Stelle als Dienstmädchen antritt, dem Tod ihres Mannes auf Seiten der Volksfront im Spanischen Bürgerkrieg, ihren Selbstmordplänen angesichts des Hungers und ihrer Rettung in ein neues Leben. Der Kreis schließt sich mit Heirat der Tochter unter völlig veränderten Voraussetzungen.

Auf der Plaça del Diamant ist kein politischer Roman und keiner, der das Elend der Schlachtfelder zeigt. Vielmehr erzählt er von den Folgen des Krieges für die, die ohne ihr Zutun und ohne überhaupt die Zusammenhänge zu verstehen, in ein Stück Geschichte verwickelt werden.

Mercè Rodoreda: Auf der Plaça del Diamant. Suhrkamp 2007
www.suhrkamp.de

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen

„Es war damals nicht sehr leicht, ein guter Mensch zu sein“

Schon lange, vielleicht seit Jean-Michel Guenassias Roman Der Club der unverbesserlichen Opitimisten, habe ich kein Buch mehr gelesen, das eine solche Sogwirkung auf mich ausgeübt und mir so viel gegeben hat.

Die über 500 Seiten lange Geschichte ist mosaikartig aufgebaut, die Kapitel umfassen selten mehr als drei Seiten, und obwohl keinerlei Chronologie eingehalten wird, kann man als etwas geübter Leser jederzeit leicht den Überblick behalten. Erzählt werden drei Geschichten aus den Jahren 1934 bis 1945 und im Nachklapp erfährt man kurz, wie es 1974 und 2014 weiterging.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen das blinde französische Mädchen Marie-Laure aus Paris und der deutsche Waisenjunge Werner aus der Zeche Zollverein. Beide führt das Schicksal im Jahr 1944 für kurze Zeit im stark umkämpften St. Malo zusammen: Marie-Laure ist mit ihrem Vater wegen des Krieges aus Paris dorthin zu ihrem Großonkel und dessen Hausangestellter geflohen, im Gepäck versteckt einen ungeheuer wertvollen Diamanten, das „Meer der Flammen“, aus dem Pariser Musée National d’Histoire Naturelle und Werner, der Junge, dem ein Schicksal in den Kohleminen vorbestimmt schien, der aber dank seiner überragenden Begabung für Sendetechnik einen Platz an einer Eliteschule der Nazis erhalten hat und mit 16 Jahren an die Front geschickt wurde, um versteckte Partisanensender aufzuspüren. Für beide gilt, was Werners Schwester 1974 sagen wird: „Wir wurden alle vor der Zeit erwachsen.“

Der dritte Handlungsstrang erzählt die Geschichte des deutschen Stabsfeldwebels und Diamantenexperten von Rumpel, der für den Führer Kunstschätze requirieren soll und den Diamanten nicht zuletzt deshalb jagt, weil er, der unheilbar Erkrankte, sich von dem sagenumwobenen Stein Heilung erhofft.

Anthony Doerr hat diesen Roman kunstvoll komponiert und erzählt in sehr bildhafter, poetischer Sprache, wobei die Leitmotive „Schlüssel“, „Schnecke“ und vor allem „Licht“ von großer Bedeutung sind. Er geleitet den Leser mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und großem Einfühlungsvermögen für seine Protagonisten durch 500 Seiten, legt unzählige Fäden aus und vergißt keinen wieder aufzunehmen, wofür er zu Recht den Pulitzer-Preis erhalten hat.

Am Ende sind alle losen Enden verknüpft und wir können Juttas Aussage „Es war damals nicht leicht, ein guter Mensch zu sein“ dahingehend ergänzen, dass einige es trotzdem versucht haben.

Anthony Doerr: Alles Licht, das wir nicht sehen. C.H. Beck 2015
www.chbeck.de