Christina Braun: Wale und Delfine

  Anspruchsvolle Lektüre für Erstleser und Erstleserinnen

Die bewährte Kinder-Sachbuchreihe Was ist was, die seit 2013 in einer inhaltlich und gestalterisch komplett neu konzipierten Fassung erscheint und damit bereits für Kinder ab etwa acht Jahren empfohlen wird, gibt es seit Juni 2018 auch für wissbegierige Erstleser und Erstleserinnen. Nicht jedes Kind findet Zugang zum Lesen über Geschichten, deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass einige Verlage auch Sachbücher für Lesestarter anbieten. Das Niveau ist dabei oft höher als bei Geschichten, begründet in der Hoffnung, dass die Kinder aufgrund ihres Wissensdrangs beim Lesen über sich hinauswachsen. Aus der Reihe Was ist was – Erstes Lesen gibt es inzwischen zehn Bände, den ersten, Wale und Delfine, möchte ich hier exemplarisch vorstellen.

In fünf Kapitel ist der Band unterteilt:

  • Was sind Wale?
  • Welche Wale gibt es?
  • Was fressen Wale?
  • Die Sinne der Wale
  • Wale und ihr Verhalten

Jedes Kapitel beginnt mit einem großen Foto, dann folgen Texte in großer Fibelschrift mit farbigen Überschriften, Fotos und Zeichnungen mit informativer Beschriftung und farblich abgesetzte Infokästen. Die bis zu 15 verkürzte Zeilen langen Fließtexte sind für die bessere Lesbarkeit in kurze Blöcke unterteilt. Das Layout ist ebenso abwechslungsreich wie übersichtlich, die Texte sind gut verständlich, wobei durchaus anspruchsvolle Begriffe wie „Buckelwalmännchen“, „Nordpolarmeer“, „Wasseroberfläche“ oder „Geschmacksknospen“ zu bewältigen sind. Durch das Buch begleitet der Delfin Fini, der immer wieder interessante Informationen beisteuert und nach jedem Kapitel drei Quizfragen stellt. Ein Interview mit Fini sowie ein großes Abschlussquiz beschließen den 63 Seiten umfassenden Band. Zu allen Quizfragen gibt es Lösungen, so dass der Erfolg sofort überprüft werden kann.

Der Verlag Tessloff empfiehlt die Sachbuchreihe ab dem Ende der ersten bis in die dritte Klasse, eine realistische Einschätzung, wenn man bedenkt, dass die Kinder je nach Lesefähigkeit mit kleinen Textmengen und Bildunterschriften beginnen können.

Mir gefällt sowohl das Konzept dieser Reihe als auch die Auswahl der bisher erschienenen Themen Planeten, Vulkane, Natur entdecken, Bienen, Wald, Pferde und Ponys, Wetter, Polargebiete und Unsere Erde sehr gut. Ich hoffe, dass man damit Kinder für Sachbücher begeistern und den ein oder anderen Lesemuffel bekehren kann.

Christina Braun: Wale und Delfine. Tessloff 2018 (Was ist was – Erstes Lesen. 1) www.tessloff.com

Fernando Aramburu: Langsame Jahre

  Baskische Kindheitserinnerungen mit zwei Erzählebenen

2018 gehörte der gut 750 Seiten starke Roman Patria von Fernando Aramburu zu meinen Lieblingsbüchern. Nun ist sein im Original bereits 2012 veröffentlichtes, nur 200 Seiten umfassendes Buch Langsame Jahre auf Deutsch erschienen. Obwohl beide Titel sich mit dem Baskenland und der ETA befassen, sind sie doch inhaltlich und erzähltechnisch ganz verschieden. In Patria geht es um zwei Familien, Opfer und Täter. In den kurzen, nicht chronologisch geordneten Kapiteln steht je einer der neun Protagonisten im Mittelpunkt und einzelne Sätze werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Langsame Jahre dagegen ist die Erinnerung eines Mannes an seine Kindheit in den Jahren 1968 bis 1971, als er Pflegekind im Haushalt seiner Tante in San Sebastián war. Er erzählt seine Geschichte dem Schriftsteller Fernando Aramburu und mahnt diesen immer wieder zur literarischen Verfremdung und zum Persönlichkeitsschutz. Beide, Erzähler und Romanautor, haben ihre Kindheit vor 40 Jahren im Stadtviertel Ibaeta verbracht. Der erzähltechnische Clou besteht darin, dass Aramburu 39 Einschübe mit Anmerkungen für einen zu schreibenden Roman in die im Original wiedergegebene Ich-Erzählung einfügt. In diesen nummerierten „Notaten“ ergänzt Aramburu eigene Erinnerungen, berichtigt Fehler des Erzählers, spielt mit möglichen Erzählvarianten und entwirft probeweise Dialoge. Durch diesen Blick in die Schreibstube gaukelt er dem Leser Authentizität vor.

Der namenlose Ich-Erzähler, von seinem Cousin Txiki genannt, kommt Anfang 1968 als Achtjähriger aus einem Dorf in Navarra nach San Sebastián. Seine Mutter kann die drei Söhne nach dem Weggang des Vaters nicht ernähren, und so kommt er als jüngster in den Haushalt seiner Tante, die beiden älteren ins Armenhaus nach Pamplona. Onkel, Tante, Cousine und Cousin nehmen ihn einigermaßen liebevoll auf, er verlebt hier insgesamt neun Jahre „ohne all jene Grausamkeiten und Kümmernisse, die sich für die Romanliteratur gewöhnlich als so nutzbringend erweisen“. Der intelligente Junge teilt sein Zimmer mit seinem zehn Jahre älteren Cousin Julen und wird, ohne es richtig zu verstehen, als einziger in der Familie Zeuge von dessen Radikalisierung unter dem Einfluss des örtlichen Priesters. Julen träumt davon, ein Held der baskischen Befreiung zu werden, und muss dafür teuer bezahlen. Die Cousine Mari Nieves führt zum Entsetzen ihrer Mutter ein lasterhaftes Leben und wird schwanger, sodass schnellstmöglich ein Ehemann gefunden werden muss – koste es, was wolle.

Anders als in Patria gibt es in diesem Roman nicht nur Verlierer. Zwar ist die Geschichte nicht ganz so intensiv und einiges bleibt der Interpretation des Lesers überlassen, doch hat mir die Perspektive des Kindes auf den Alltag „einfacher Leute mit wenig Bildung“ im franquistischen Baskenland und die Rekrutierung durch die ETA gefallen. Zusammen mit der originellen Erzählweise, der wertigen Aufmachung und dem sehr gut ausgewählten Cover ist auch dieser ältere Roman des in Deutschland lebenden Basken Fernando Aramburu auf jeden Fall empfehlenswert.

Fernando Aramburu: Langsame Jahre. Rowohlt 2019
www.rowohlt.de

Jerome K. Jerome: Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund!

  Mäßig amüsant, aber in einer wunderschönen Ausgabe

Zwei Dinge haben mir an diesem Klassiker aus dem Jahr 1889 ausgesprochen gut gefallen: das wunderschöne Manesse-Bändchen, das sich in die Hand einschmeichelt und mit der Fadenheftung, dem farbenfrohen Cover, dem Lesebändchen und dem bestechenden Druck und Papier ein haptischer Hochgenuss ist, und die Sprache. Wenig anfangen konnte ich dagegen mit dem Humor, den Harald Martenstein in seinem ansonsten sehr guten Nachwort für mich völlig unverständlicherweise mit jenem von Loriot vergleicht. Ich kann hier nur entschieden widersprechen, ist doch der von mir überaus geschätzte Loriot einmalig, wird nie platt und spielt somit in einer anderen Liga. Jerome K. Jeromes Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! ist mir dagegen zu absurd übertrieben, der Ich-Erzähler und seine Freunde zu unsympathisch und rüpelhaft und die viel zu langatmigen Pointen verpuffen. Wenn die Protagonisten in ihrer Unfähigkeit beispielsweise 25 Minuten lang vier Kartoffeln schälen, bleibt der Witz auf der Strecke. Nur bei den Passagen über den Foxterrier Montmorency konnte ich tatsächlich schmunzeln.

Der Ich-Erzähler und seine beiden Freunde George und Harris, Hypochonder und gelangweilte junge Männer ohne Ehrgeiz und Biss, planen zur Entspannung – es bleibt unklar, wovon – eine Tour auf der Themse von Kingston nach Oxford und zurück. Vorbereitung und Durchführung sind eine stete Folge von Pleiten, Pech und Pannen und es grenzt an ein Wunder, dass sie tatsächlich rudernd und treidelnd bis Oxford gelangen. Als es auf dem Rückweg regnet, brechen sie ab, verlassen klammheimlich ihr Boot und beenden die Unternehmung wesensgerecht mit der Bahn.

Interessant sind die eingestreuten Anekdoten aus der britischen Geschichte. Wer die Tour auf der Themse selbst unternimmt oder wenigstens die Gegend kennt, profitiert sicher von den detaillierten Ortsbeschreibungen. Für mich als Ortsunkundige wäre eine kleine Landkarte hilfreich gewesen.

Dieses Buch ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass man über Humor nicht streiten kann. Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! machte Jerome K. Jerome (1859 – 1927) schlagartig nicht nur in Großbritannien berühmt, der Roman wurde auch diverse Male verfilmt, ist Schullektüre und gilt bis heute als Klassiker des englischen Humors. Nur meins ist er eben leider nicht und ich bin dankbar, dass ich ihn nicht im Englischunterricht lesen musste.

Jerome K. Jerome: Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! Manesse 2017
www.randomhouse.de

Olivier Norek: All dies ist nie geschehen

  Zwischen zwei Welten

Was passt besser zum heutigen Weltflüchtlingstag, als ein Roman über den Dschungel von Calais? Laut UNHCR sind aktuell 70,8 Millionen Menschen weltweit von Flucht und Vertreibung betroffen, Tendenz steigend.

Zwei dieser Flüchtlinge sind der Syrer Adam Sarkis und der etwa zehnjährige stumme Sudanese, den Adam Kilani nennt. Beide treffen im Juli 2016 im Lager von Calais zusammen, im sogenannten „Dschungel“. Zwar wurde dieses vermutlich größte Elendsviertel Europas, an der Küste auf einer ehemaligen Mülldeponie mit mehreren tausend Quadratkilometern gelegen, im Oktober 2016 aufgelöst, doch ist keines der Probleme dadurch verschwunden und der Roman bleibt leider weiterhin topaktuell.

Adam war 16 Jahre als Polizist in Syrien tätig, gehörte aber zuletzt der Rebellengruppe Freie Syrische Armee an und hat die Militärpolizei infiltriert. In letzter Sekunde kann er Syrien verlassen. Ziel ist das Lager von Calais, in das er kurz zuvor Frau und Tochter vorausgeschickt hat. Als er ankommt, fehlt von den beiden jede Spur. Während seiner verzweifelten Suche lernt er Kilani kennen und rettet ihn aus den Fängen der Afghanen im Lager, was der traumatisierte, verstümmelte Junge mit hingebungsvoller Anhänglichkeit belohnt.

Ein zweiter Handlungsstrang zeigt die Polizei von Calais. Die BAC, Brigade anti-criminalité, versucht Nacht für Nacht, die Flüchtlinge am illegalen Besteigen der Lastwagen nach Großbritannien zu hindern. Die BSU, Brigade de sûreté urbaine, schaut tagsüber soweit möglich über  Vergehen der Flüchtlinge hinweg und hält sich vom Lager fern. Die Zustände sind unbeschreiblich, auch wenn verschiedene Helfergruppen die größte Not zu lindern versuchen. Lieutenant Bastien Miller, der sich aus familiären Gründen nach Calais hat versetzen lassen, ist schockiert vom „Calais-Style“, der angeordneten Arbeitsweise der Polizei. Als die Millers Adam und Kilani kennenlernen, können sie nicht mehr einfach wegschauen: „Wenn so etwas in den Nachrichten kommt, ist es einfach, das wieder zu vergessen, aber wenn das in deinem eigenen Wohnzimmer passiert?“.

Olivier Norek, laut Klappentext Star der französischen Krimiszene und vielfach ausgezeichnet, hat selbst drei Jahre für Pharmaciens sans frontières gearbeitet und war Police Lieutenant. Die Danksagung lässt erahnen, wie intensiv er bei der BAC von Calais und im Dschungel recherchiert und wie viele Gespräche mit Flüchtlingen er geführt hat.

All dies ist nie geschehen ist kein Krimi, kann es aber in punkto Spannung mit jedem Thriller aufnehmen. Dass die Geschichte wahr ist, schockiert. Über den Blick in eine unbekannte Welt hinaus, die doch fast vor unserer Haustüre liegt, hat mir sehr gut gefallen, dass Norek nicht urteilt, nur durch die Augen seiner Protagonisten beschreibt. Er zeigt durchaus auch die Gewalt, die von Flüchtlingen ausgeht, von Anwerbern des IS, von Schleppern, von Traumatisierten und Vergewaltigern: „Du kannst nicht einfach zehntausend Menschen aus den gefährlichsten Ländern der Welt zusammenpferchen und quasi gefangen gehalten, Menschen mit der Hoffnung auf eine illegale Überfahrt, die von der Großzügigkeit der Calaisiens und von den Hilfsorganisationen abhängig sind – und dann glauben, dass schon alles gut gehen wird.“ Am Ende sind alle Verlierer: die britischen Lastwagenfahrer, die Polizisten, die Einwohner von Calais, aber in erster Linie die Flüchtlinge. Hoffnung besteht nur, wenn Einzelne Zivilcourage zeigen.

Olivier Norek: All dies ist nie geschehen. Blessing 2019
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Sehnsucht Frankreich

  Eine akustische Reise von der Bretagne bis nach Korsika

Meine Rezension zum Hörbuch Sehnsucht Italien im Juli 2017 habe ich mit der Hoffnung beendet, dass Der Hörverlag aus diesen wunderbaren Reisefeatures eine Reihe machen möge. Mit Sehnsucht Frankreich ist nun tatsächlich eine zweite, ebenso überzeugende Sammlung erschienen, die mir, da ich dieses Mal viele der porträtierten Städte und Regionen kenne, sogar noch mehr Hörspaß bereitet hat.

„Eine akustische Reise von der Bretagne bis nach Korsika“ lautet der Untertitel zu diesen fünf CDs, die in knapp sechseinhalb Stunden Features und Reportagen des Bayerischen Rundfunks 2 aus den Jahren 1980 bis 2018 zum Thema Frankreich bieten. Auf einer bunten Landkarte lassen sich die Stationen, die man auch dem hübsch gestalteten Booklet entnehmen kann, genau verfolgen. So bunt wie die Liste der Autoren und Sprecher ist auch die Art der 28 Beiträge: nur gesprochener Text oder mit Musik und Originaltönen angereichert, ausführlicher oder knapper, eher informativ oder eher emotional, wird es eines auf jeden Fall beim Zuhören garantiert nie: langweilig.

Es fällt mir schwer, einzelne Beiträge mit ihren gut gemachten Überleitungen besonders herauszuheben. Da sind einmal die Features, die Erinnerungen an eigene Reisen bei mir lebendig werden lassen, wie zum Beispiel an die Natur, Küche und Kultur der Bretagne, den Duft und die Musik Korsikas, den Zauber der Kapelle Notre Dame du Haut de Ronchamp, die Schlösser der Loire, das „blaue Wunder“ von Chartres, den Mont Saint Michel oder an einen Spaziergang durch Arles. Besonders gut gefallen hat mir auch der Beitrag über die Heimat der Sch’tis mit der Sprecherin Francine Singer und vielen Bezügen zum Film von Dany Boon. Andere Features haben eher Reisefieber bei mir ausgelöst, beispielsweise die Hausbootfahrt durch die Camargue, die Interviews mit den Schleusenwärtern am Canal du Midi, der Spaziergang mit einem Architekten durch Étretat oder der Besuch auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.

Ich habe die fünf CDs gleich zweimal gehört. Bis hoffentlich bald ein weiteres Sehnsuchtsziel erscheint, werde ich sie sicher noch öfter zur Hand nehmen.

Sehnsucht Frankreich. der Hörverlag 2019
www.randomhouse.de

Hanneliese Schulze & Christiane Hansen: Die vertauschten Schuhe

  Rechts und links – links und rechts

Lesedetektive heißt die Erstleserreihe aus dem Duden Verlag, bei der die beiliegenden Lesezeichen als Lösungsschlüssel für die eingestreuten kleinen Quizfragen dienen. Die Bände der Reihe sind nach Klassen unterteilt. Ich selbst bevorzuge eine Einteilung in verschlüsselte Lesestufen, da man schlechten Leserinnen und Lesern so auch ein Buch für eine niedrigere Stufe in die Hand geben kann, ohne sie damit zu beschämen.

Die vertauschten Schuhe richten sich an Leseanfänger in der ersten Klasse und ist deswegen in großer Fibelschrift und im Flattersatz gedruckt. Pro Seite gibt es drei bis vier kurze, nach Sinneinheiten getrennte Zeilen mit maximal 19 überwiegend einfachen Wörtern. Eine Einteilung in Kapitel, die für Kinder das Erfolgserlebnis beim Lesen unterstützen kann, gibt es nicht.

Die reiche, ganz auf das Textverständnis konzentrierte Bebilderung von Christiane Hansen unterstützt die kleinen Leseanfänger und Leseanfängerinnen gut. Die comicartigen, farbenfrohen Illustrationen vermitteln durchweg gute Stimmung und zeigen fast nur fröhliche Kinder.

Es ist erstaunlich, wieviel Handlung man in 31 Seiten mit so wenig Text unterbringen kann. Die Autorin Hanneliese Schulze erzählt die nette Geschichte von Nuri, der einfach nicht mit seinen Schuhen zurechtkommt. Ein ums andere Mal vertauscht er sie und kommt mit „Ziegenfüßen“ in die Schule. Während ihn viele Kinder auslachen, hat Merle schließlich die rettende Idee…

Hanneliese Schulze & Christiane Hansen: Die vertauschten Schuhe. Dudenverlag 2010
www.duden-leseprofi.de

Sarah Moss: Gezeitenwechsel

  Wenn das Undenkbare passiert

Es ist der Alptraum aller Eltern, den Tod ihrer Kinder erleben. Ganz so schlimm kommt es in Sarah Moss‘ viertem Roman Gezeitenwechsel zwar nicht, doch führt sie eine Familie ganz nah an diesen Abgrund.

Die Goldschmidts sind eine durchschnittliche englische Mittelklassefamilie, wenn man von ihrem familieninternen Rollentausch absieht. Der Ich-Erzähler Adam ist Hausmann, kümmert sich hauptberuflich hingebungsvoll um den Haushalt, die fünfzehnjährige Miriam, die achtjährige Rose und seine Frau Emma, eine engagierte Allgemeinärztin. Seine Promotion in Kunstgeschichte liegt fünfzehn Jahre zurück, Aussicht auf eine akademische Karriere besteht längst nicht mehr und ein paar Honorarstunden für Erstsemester sind alles, was ihm bleibt.  Fünfzehn Jahre lang glaubten Adam und Emma, eine normale Familie mit gesunden Kindern zu sein, dann kam der Anruf aus der Schule: „Es ist etwas passiert.“ Atemstillstand, Herzstillstand, Reanimation – und schlagartig ist nichts ist mehr, wie es war. Zwar ist vordergründig alles gutgegangen und Miriam kann nach zwölf Tagen das Krankenhaus wieder verlassen, aber die Ursache für den Zusammenbruch bleibt im Dunkeln und die Diagnose Anaphylaxie, allergischer Schock, wird von nun ab wie ein Damoklesschwert über den Goldschmidts hängen: „Wir werden noch den Rest unseres Lebens mit der Geschichte leben müssen, die gerade beginnt“.

Nun könnte man meinen, ein 364-Seiten-Roman über einen Alptraum wäre eine durchgehend niederdrückende Lektüre, aber weit gefehlt, obwohl die Auswirkungen für alle schwerwiegend sind. Adam, der „nicht der Vater eines schwerkranken Kindes“ sein möchte, kann sich keine normale Zukunft mehr vorstellen und würde die Tochter am liebsten nicht mehr aus den Augen lassen. Miriam, die aufmüpfige „marxistische Ökokriegerin“, Mitglied bei Amnesty International, Greenpeace und den Grünen, gibt sich tagsüber cool, offenbart ihrem Vater aber nächtens Todesängste. Emma stürzt sich in noch mehr Arbeit, bemüht sich um eine professionelle Sicht und verliert dabei zunehmend an Körpergewicht, während Rose auf die Minderbeachtung mit Eifersucht reagiert. Gleichzeitig werden wir jedoch Zeugen einer allmählichen Neuordnung der Familienstruktur und einem vorsichtigen Neubeginn. „Du wirst noch verrückt, Adam, wenn du weiter auf die Stille lauschst, du musst darauf vertrauen, dass sie weiteratmet“, fordert Emma ihren Mann auf, und sein lebenskluger Vater rät ihm: “Adam, du hast die Risiken so gut eingegrenzt, wie du kannst, jetzt musst du sie wieder fünfzehn sein lassen.“

Der Kontrast zwischen der ruhigen Erzählweise von Sarah Moss und der existenziellen Bedrohung hat die Dramatik des Geschehens für mich noch erhöht. Wohltuend war der immer wieder aufblitzende Humor des Ich-Erzählers, vor allem, wenn es um sein Hausmannsdasein ging, und die Diskrepanz zwischen innerem Monolog und äußerem Auftreten. Die beiden Nebenhandlungen, zum einen die Lebensgeschichte von Adams Vater, zum anderen Adams Recherchen über die Zerstörung der Kathedrale von Coventry durch Nazibomber 1940 und ihren Neubau, fielen für mich dagegen etwas ab, vor allem deshalb, weil mir bei letzterer eine stärkere Verbindung zur Haupthandlung fehlte.

Gezeitenwechsel ist ein lesenswerter, Hoffnung machender Roman über ein angstbehaftetes Thema und die Kraft einer Familie angesichts existenzbedrohender Gefahr.

Sarah Moss: Gezeitenwechsel. mare 2019
www.mare.de

Anne Müller: Sommer in Super 8

  Kein Ostsee-Bullerbü

Das Cover zu Anne Müllers Debütroman Sommer in Super 8 passt wunderbar zu dieser Geschichte über eine Kindheit in Schleswig-Holstein während der 1970er-Jahren. Eine Strandszene, stahlblauer Himmel, blaues Meer, offensichtlich ein typischer Ausschnitt aus einem Super-8-Film der Familie König. Heile Welt? Eine Bullerbü-Kindheit im abgeschiedenen kleinen Dorf Schallerup unweit der dänischen Grenze? So hatte ich es auf den ersten Seiten empfunden und lag weit daneben.

Clara, die uns ihre Geschichte erzählt, ist 1963 geboren, ein Sandwichkind, das sich mit zwei älteren Geschwistern und jüngeren Zwillingsbrüdern oft wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen fühlt. Der Vater, aus dem Ruhrgebiet stammend, ist Hausarzt mit eigener Dorfpraxis, ein Partylöwe, Anekdotenerzähler, charmanter und geistreicher Gastgeber, der als Student bezeichnenderweise den Spitznamen „Pirsch“ trug. Clara hängt besonders an ihm, vielleicht, weil die Mutter mehr mit den kaum zehn Monate jüngeren Zwillingen beschäftigt war. Sie ist seine „Königstochter“ und darf ihn schon als kleines Mädchen bei Hausbesuchen begleiten. Instinktiv spürt sie schon als Sechsjährige seine hinter einer Maske verborgene tiefe Traurigkeit. Auch die Mutter ist nicht glücklich in ihrer Ehe. Der Traum von einer Schauspielausbildung scheiterte an ihrem Vater, das Sportstudium hat sie früh zugunsten der Familie aufgegeben und nun führt sie das zeittypische Leben einer gutsituierten Arztgattin mit Villa, Auto, Ansehen, schönen Kleidern und regelmäßigen Friseurbesuchen. Sie ist eine „Meisterin im Drüber-hinweg-Gehen“, hält immer die Fassade aufrecht und schweigt, auch wenn sie wütend ist. Sie bleibt auch als Romanfigur im Schatten ihres Mannes und scheint machtlos angesichts der Familientragödie.

Claras Bericht über eine Kindheit und Jugend in den 1970er-Jahren dürfte in allererster Linie die begeistern, die diese Zeit erlebt haben. Die Mondlandung, der Unfalltod Alexandras, die dramatischen Ereignisse während der Olympiade in München, erste Diskobesuche, Schlager und Tritop – als nahezu Gleichaltrige wurden viele Erinnerungen bei mir wach. Sehr gut gefallen hat mir, wie Clara ihre Beobachtungen innerhalb der Familie beschreibt, wie sie für manches erst mit zunehmendem Alter Worte findet, die Geschwister instinktiv spüren, worüber nach außen Schweigepflicht gilt, und die Fassade trotz kollektiver Bemühungen schließlich nicht mehr aufrecht zu halten ist. Diese Teile des Buches sind ausgezeichnet gelungen, besser als Claras ausführliche pubertäre Auslassungen, die mich weniger interessiert haben. Die Sprache des Romans ist eher einfach, manchmal habe ich Übergänge zwischen Absätzen vermisst und der Text wirkte etwas aneinandergereiht, aber schließlich erzählt eine zu Beginn Sechs-, am Ende Fünfzehnjährige.

Sommer in Super 8 ist trotz leichter Lesbarkeit kein leichter Roman. Die Lektüre lohnt sich, vor allem – aber nicht nur – für die Generation 50 plus.

Anne Müller: Sommer in Super 8. Penguin 2018
www.randomhouse.de

Katja Reider & Henrike Wilson: Saumüde!

  Ein Ferkel, das nicht schlafen will

Eltern können ein Lied davon singen: Sobald die lieben Kleinen abends ins Bett sollen, drehen sie nochmal so richtig auf. Bei Ferkel ist das kein bisschen anders als bei Menschenkindern. Während Mutter Schwein nach einem langen, aufregenden Tag abwechselnd seufzt, gähnt und keucht, ist Ferkel übermütig, voller Unternehmungslust und absolut gar nicht müde. Es stattet Hühnern, Schafen, Fröschen, der Eule und den Kühe einen Abendbesuch ab. Wie gut, dass Mutter Schwein ihr Ferkelchen trotz Müdigkeit überallhin begleitet, sonst hätte es im Kuhstall so richtig gefährlich werden können. So aber hat Ferkel nun endlich genug erlebt und ist im Bewusstsein vollkommener Geborgenheit bei der Mutter endlich, endlich saumüde.

Die großflächigen, klaren Tierzeichnungen von Henrike Wilson sind für kleine Betrachter ab etwa drei Jahren bestens geeignet und spiegeln deutlich die Gemütslage der Tiere wider. Wer das ebenso schöne Bilderbuch Das Schaf Charlotte kennt, wird die Illustratorin sofort anhand der Schafe wiedererkennen. Der kurze Text von Katja Reider ist klar verständlich und passt genau in die Erlebniswelt von Kindergartenkindern. Auch die erwachsenen Vorleser kommen dank des Humors auf ihre Kosten und fühlen mit der erschöpften Mutter.

Ein rundum empfehlenswertes Bilderbuch zum Thema Einschlafen.

Katja Reider & Henrike Wilson: Saumüde! Coppenrath 2019
www.coppenrath.de

Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter

  Familienterror

Großmütter gelten gemeinhin als eher lieb, fürsorglich und verständnisvoll. Genau das Gegenteil ist Alina Bronskys Protagonistin Margarita, denn sie terrorisiert nicht nur ihren gutmütigen Mann Tschingis, sondern auch den Enkel Maxim, genannt Mäxchen. Dass sie ihm grundlos Krankheiten andichtet, ihn mit pürierter Kost traktiert, mit einem wahren Desinfektionswahn gegen Keime ankämpft und ein Schulfest für ebenso gefährlich hält wie eine Grippeepidemie, könnte man noch unter dem Schlagwort „Überbehütung“ verbuchen. Beschimpfungen wie „Du bist ein Idiot“ oder „formloser Rotz“ passen dazu jedoch definitiv nicht, und dass sie ihm eintrichtert, „körperlich schwach und geistig minderbemittelt“ zu sein, entspricht mit Sicherheit nicht dem Erziehungsideal der Stärkung von Kindern. „Ein Klotz am Bein“ sei er, versichert sie ihm beständig, und schuld daran, dass für sie „jedes Lebensjahr für zwei“ zählt. „Niemand auf der ganzen Welt würde sich jemals so für mich interessieren wie sie“ versichert sie dem Ich-Erzähler Maxim, der zu Beginn fünf Jahre alt und gerade mit den Großeltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland übergesiedelt ist. Zunächst wehrt sich der intellektuell überlegene Enkel nicht, denn: „Ich käme ja sonst zu nichts anderem mehr“, aber allmählich durchschaut er sie doch und beginnt, „am Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen zu zweifeln“ – ein erster Schritt auf dem Weg zur Emanzipation.

Einen anderen Ausweg aus der Unterdrückung findet der Großvater mit den asiatischen Gesichtszügen. Zwar kann Margarita ihn mit Schuldzuweisungen an sich binden, doch verliebt er sich kurz nach der Ankunft in Deutschland. Maxim, der die Situation instinktiv erfasst, deckt ihn, und so ist ausgerechnet die alles kontrollierende Margarita lange ahnungslos. Umso erstaunlicher reagiert sie, als sie mit der Wahrheit konfrontiert wird: Sie gründet kurzerhand eine Patchwork-Familie. Am Krankenbett des Großvaters ergibt sich deshalb ein verwirrendes Bild: „Wenn ich auf Station war, riefen mich die Schwestern … und fragten, wer die beiden Frauen an Großvaters Bett seien und wer von ihnen mich und meinen kleinen Bruder aus Korea adoptiert habe.“

Leider hat der Humor in der stark 200 Seiten umfassenden Geschichte selten so wie an dieser Stelle bei mir gezündet. Obwohl ich skurrile Protagonisten prinzipiell mag, war mir die Egozentrik Margaritas einfach zu viel. Erklärungsansätze für ihr Verhalten werden zwar im Laufe der Geschichte sichtbar, ihre Einsamkeit, die Entwurzelung, ihre Angst, nicht gebraucht zu werden, und ihre Schuldgefühle, trotzdem kam kein Mitgefühl bei mir auf. Durch die Ich-Perspektive Maxims – es blieb mir unklar, ob er rückblickend aus der Erwachsenenperspektive oder zeitnah erzählt – konnte ich außerdem nicht einschätzen, inwieweit er diese traumatische Kindheit tatsächlich so locker wegsteckt, wie er uns glauben machen will. Darüber hinaus kam das Ende relativ plötzlich, unspektakulär und mit größeren Zeitsprüngen im letzten Drittel des Romans.

Für mich reicht Alina Bronskys neuer Roman Der Zopf meiner Großmutter nicht an Baba Dunjas letzte Liebe heran. Unterhaltsam, kraftvoll geschrieben und gut zu lesen ist er jedoch allemal.

Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter. Kiepenheuer & Witsch 2019
www.kiwi-verlag.de