Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

  Swim!

Jedes Jahr versuchen über 100 Personen, den Ärmelkanal zwischen Dover und Calais bzw. Cap Griz-Nez unter Wettbewerbsbedingungen zu durchqueren, erlaubt sind nur konventionelle Badebekleidung, Schwimmbrille und das Auftragen einer Fettschicht. Nahrung wird vom Beiboot an einer Stange gereicht, die jedoch nicht berührt werden darf. Wind, Wetter, Strömungen, Tide, eine Wassertemperatur von maximal 17 Grad im August, Unrat und Schiffsverkehr gefährden die Extremsportler auf ihrem Weg durch die befahrendste Wasserstraße der Welt. Was bewegt Menschen zu diesem Wagnis?

Charles, 62, Biochemiker an der Universität Oxford und in einer Lebenskrise, möchte sich durch den sportlichen Gewaltakt über seine Vergangenheit, aber auch über seine Zukunft Klarheit verschaffen. Seine Vision von einem müßigen Ruhestand ist geplatzt, seit ihm seine Frau Maude eine Ménage-à-trois mit seinem ehemals besten Freund Silas, der zugleich sein Vorgänger war, vorgeschlagen hat. Damals, vor etwa 40 Jahren, waren sie zu viert, eigentlich sogar zu fünft, ein kompliziertes Beziehungsgeflecht während dreier gemeinsamer Sommer, das Charles während des Schwimmens noch einmal Revue passieren lässt. Seit er vor 13 Monaten aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist und nach 37 Jahren Ehe eine Auszeit vereinbart hat, trainiert er für die Kanalüberquerung:

Seit er allein lebte, empfand er, wie begrenzt die ihm verbliebene Lebenszeit war, er spürte seine Sterblichkeit. Aber auch Maudes. Regelmäßig schalt er sich dafür: De facto war nichts daran vor seinem Auszug anders gewesen, doch dieser vernünftige Ist-gleich-Gedanke besserte sein Elend nicht, er vertiefte es. […] Sie fragte nicht, wie er seine Tage verbrachte. Garantiert nahm sie an, dass er sich in seinem Labor verkroch. Charles, einfallslos. Dank seiner Schwimmpläne konnte er ihr ins Gesicht blicken. Wie sie sich täuschte!

Minutiös schildert Ulrike Draesner in ihrem nur 176 Seiten umfassenden Roman die Kanalüberquerung mit allen technischen Details, äußeren Bedrohungen und inneren Kämpfen. Dieser Handlungsstrang hat mich viel mehr gefesselt als der Rückblick auf das Beziehungsdrama eines Helden, dem ich nicht so recht nahekam. Ob so viel Kopfkino während einer derartigen körperlichen und psychischen Grenzerfahrung überhaupt möglich ist, sei dahingestellt.

Gehadert habe ich mit der sehr lyrischen Sprache, die für mich mit zu vielen Metaphern überfrachtet war. Auch den Sinn der kurzen englischen Einsprengsel habe ich nicht verstanden. Sehr gelungen fand ich dagegen die kunstvolle Verschränkung der beiden Handlungsstränge und die durchgängig hohe Spannung, die sich aus zwei Fragen speist: Wird Charles die Kanaldurchquerung schaffen und wird sie ihm dabei helfen, mit sich ins Reine zu kommen?

Absolut herausragend ist die Ausstattung des Buches mit einem sehr feinen blauen Leineneinband, Lesebändchen und genial passender Covergestaltung.

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer. mare 2019
www.mare.de

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