Ich bin überglücklich über einen Platz unter den ersten Fünf beim Buchblog-Award 2018 in der Kategorie „Allesleser“. Herzlichen Dank an alle, die mir ihre Stimme gegeben haben! Die Sieger werden am 12.10.2018 auf der Frankfurter Buchmesse bekanntgegeben, die Daumen dürfen also gerne gedrückt bleiben.
Alex Capus: Königskinder
Beharrlichkeit und Beständigkeit
Eine Nacht eingeschneit im Auto auf dem Jaunpass, weil man wie Tina und Max aus purem Übermut die Absperrung einfach umfahren hat, ist eigentlich keine angenehme Vorstellung. Trotzdem hätte ich beim Lesen gerne mit Tina getauscht, denn Max ist ein so begnadeter Geschichtenerzähler, dass mir beim Zuhören auch bei 12 Grad Innentemperatur warm ums Herz geworden wäre.
Was er Tina erzählt, um die Zeit bis zur Rettung zu verkürzen und keine Panik aufkommen zu lassen, ist belegt, soweit es um die äußeren Daten und den groben Ablauf der Handlung geht. Alex Capus hat sie in Schweizer Archiven und sogar in Versailles recherchiert, wo sie in den Briefen und Tagebüchern einiger Adeliger Spuren hinterlassen hat. Helden dieser Erzählung sind der arme Kuhhirte Jakob Boschung und Marie-Françoise Magnin, Tochter eines reichen Bauern, aus dem Greyerzerland. Ihrer Liebe steht zehn Jahre lang Maries Vater im Weg, doch ihrem geduldigen Beharren und ihrer unerschütterlichen Beständigkeit muss auch dieser „ungehobelte Grobian“ schließlich nachgeben. Freilich braucht es dafür den Einsatz einer wahrhaftigen Prinzessin, der Schwester Ludwigs des XVI., in deren Diensten Jakob 1789 kurz vor dem Ausbruch der Französischen Revolution als Kuhhirte stand. Während die Welt aus den Fugen geriet, revoltierende Bauern die Schlösser und Klöster niederbrannten, in Paris hungernde Kleinbürger die Waffenarsenale der Polizei plünderten und Versailles sich langsam entvölkerte, konnten Jakob und Marie am 26.05.1789 auf dem Puppenstuben-Bauernhof der Prinzessin endlich heiraten.
Nun könnte man befürchten, die märchenhaft anmutende Geschichte wäre gar zu kitschig. Diese Klippe umschifft Alex Capus gekonnt durch die kritischen Kommentare und Zwischenfragen Tinas, die immer genau zum richtigen Zeitpunkt kommen. Außerdem verhindert der leichte, humorvolle und dichte Erzählstil, der die romantischen Details nicht unnötig vertieft, dass man nicht zu sehr ins Schwelgen gerät. Mit den Schlussworten „Na also… Geht doch.“ überlässt uns Alex Capus dann unserer Fantasie und unseren Träumen sowohl bezüglich Tina und Max als auch Jakob und Marie.
Der kleine, knapp 200 Seiten umfassende Roman Königskinder ist keine tiefschürfende Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit, sondern ein warmherziges, optimistisches Buch, wie ich es von Zeit zu Zeit unbedingt brauche und sehr gerne verschenke.
Alex Capus: Königskinder. Hanser 2018
www.hanser.de
Mick Herron: Slow Horses
Ein Ausflug ins Londoner Agentenmilieu
Geheimdienstthriller gehören normalerweise nicht zu meiner bevorzugten Lektüre, genauso wenig wie ich James-Bond-Filme mag. Für ein Buch des Diogenes Verlags mache ich jedoch auch gerne ab und zu einen Ausflug in ein anderes Genre und habe es letztlich nicht bereut, auch wenn ich vermutlich trotzdem nicht zur Wiederholungstäterin werde.
Das Besondere an Slow Horses ist nicht der Fall als solcher, bei dem ein Neunzehnjähriger entführt und mit der Enthauptung vor laufender Kamera gedroht wird. Viel spannender war für mich das Szenario, in das der britische Autor Mick Herron das Verbrechen einbettet. Nicht die Zentrale des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 in Regent‘s Park und ihre Topagenten stehen hier im Mittelpunkt, sondern Slough House, ein verkommenes Gebäude, in das die „Schmutzflecken in der Geschichte des Secret Service“ abgeschoben werden, die Versager, die zu Recht oder zu Unrecht Degradierten. Deren verschiedene Geschichten, die einen beträchtliche Teil des Thrillers einnehmen, habe ich am liebsten gelesen. Diese „Gefallenen“ werden von der Zentrale mit Routinearbeiten zermürbt, von Informationen ausgeschlossen, unterfordert, zur Kapitulation gedrängt. Einer dieser Versager ist der junge, einst vielsprechende Agent River Cartwright, der nach einem spektakulär verpatzten Übungseinsatz nun ein klägliches Dasein fristet, ein anderer sein Chef Jackson Lamb, König von Slough House, ein ungewaschener Despot ohne Manieren. Lamb ist die Hauptfigur der Reihe, deren erster Band nun auf Deutsch erschienen ist.
Mit der Entführung nimmt der Thriller deutlich an Fahrt auf, doch konnten mich das Ultimatum, das Verwirrspiel um die Entführer, das Rätsel um einen ins rechte Milieu abgerutschte Ex-Starreporter und die Intrigen, Manipulationen und Lügen innerhalb des MI5 nicht wirklich packen. Dazu trägt auch die flapsige Sprache der Dialoge bei, die auf mich so gänzlich unwahrscheinlich wirkt, dem Genre aber vermutlich entspricht. Gefallen hat mir dagegen, wie die Einzelkämpfer des Slough House im Angesicht der Gefahr und gegen die Zentrale zum Team zusammenwachsen und die Hoffnung auf Rehabilitation ihren Ehrgeiz anspornt. Obwohl flüssig geschrieben, braucht es beim Lesen eine ganze Menge Konzentration und ab und zu einen Blick in das äußerst hilfreiche Personenregister, um den Überblick über die Agentenschar und das aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Verwirrspiel zu behalten.
Wer gerne Geheimdienstthriller liest und das Besondere sucht, könnte bei dieser Reihe genau richtig sein.
Mick Herron: Slow Horses. Diogenes 2018
www.diogenes.ch
Buchblog-Award 2018
Die Nominierungsphase für den
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit
Trügerische Erinnerungen
John Banville war nach Donal Ryan der zweite bedeutende zeitgenössische irische Autor, den ich während meines Irland-Urlaubs gelesen habe. Sein Stil ist bedeutend literarischer, dafür gibt es weniger Lokalkolorit als bei seinem Kollegen Ryan.
Im Lichte der Vergangenheit lässt Figuren aus Banvilles früheren Romanen Sonnenfinsternis und Caliban wiederaufleben, doch kann man es, wie ich es getan habe, auch unabhängig lesen. Erzählt werden drei Geschichten aus dem Leben des ehemaligen Bühnenschauspielers Alex Cleave. Die erste ist die Erinnerung an seine erste Liebe und liegt 50 Jahre zurück, die zweite kreist um den Selbstmord seiner Tochter Cass vor zehn Jahren und die dritte spielt in der Gegenwart, als der bereits von der Bühne abgetretene Mittsechziger seine erste Filmrolle übernimmt.
Alex‘ erste Liebe im Alter von 15 Jahren galt der Mutter seines besten Freundes, Mrs Celia Gray. Die Erinnerungen, die der Ich-Erzähler an die knapp fünf Monate währende Affäre hat, sind zugleich präzise und mit unmöglichen Einzelheiten versehen, ein Umstand, den er nicht verschweigt: „Biografien sind zwangsläufig, wenn auch nicht absichtlich, immer voller Lügen“ und „Das habe ich doch sicher wieder frei erfunden, wie so vieles.“ Trotzdem – oder vielleicht gerade weil alles zweifelhaft ist – hat mir dieser Erzählstrang am besten gefallen. Die Seelenlage des pubertierenden Jungen zwischen erotischer Verzückung und dem Zurücksehnen nach „alter, unbeschwerter Normalität der Dinge“ schildert John Banville einfühlsam und glaubhaft, die Beziehung selbst trotz vieler Einzelheiten niemals geschmacklos oder gar peinlich. Dass am Ende vieles anders war, kann nicht wirklich überraschen.
Auch der zweite Erzählstrang um den Selbstmord der psychisch kranken Tochter Cass in Ligurien ist gut gelungen. Die Ehe von Alex leidet unter der Belastung und die Trauer ist eine „anhaltende Flut, die mich ausdörrt“. Dabei quält ihn weniger die Tatsache des Selbstmords, der ein „unausweichliches Ende“ war, als die gänzlich ungeklärten Umstände.
Am wenigsten überzeugt hat mich die Rahmenhandlung. Alex soll in einem Film mit dem beziehungsreichen Titel „Erfindung der Vergangenheit“ den Journalisten und Kritiker Axel Vander spielen, der viel mehr mit ihm zu tun hat, als er zunächst ahnt. Hier waren mir die Anspielungen und Zufälle zu konstruiert.
Ein sprachlich überzeugender, feinsinniger Roman, im kunstvollen Plauderton erzählt, in dem die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion gekonnt verschwimmen, der aber durch seine Rahmenhandlung unnötig kompliziert wird.
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit. Kiepenheuer & Witsch 2014
www.kiwi-verlag.de
Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer
Stürmische Zeiten
Als im Januar 2016 der schlimmste Schneesturm seit Menschengedenken mit den tiefsten Temperaturen seit 1869 in New York tobt, verweben sich während dreier Tage die Leben von Lucía, Richard und Evelyn unwiderruflich miteinander. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, eine Leiche und einen Lexus verschwinden zu lassen, obwohl sie mit beiden nicht zu tun haben – ein bei diesen Wetterbedingungen schwieriges Unterfangen für bislang unbescholtene Zeitgenossen ohne einschlägige Erfahrungen. An den kalten Abenden erzählen sie sich ihr Leben, so ehrlich, wie sie es bisher nie getan haben.
Lucía Maraz aus Santiago de Chile, 62 Jahre alt, Gastdozentin am Zentrum für Lateinamerika- und Karibikstudien der Universität New York, lebt seit vier Monaten in der ungemütlichen Souterrainwohnung ihres Vorgesetzten Richard Bowmaster in Brooklyn. Diese Figur ist Isabel Allende besonders gut gelungen und ich hatte den Eindruck, dass sie ihr am meisten am Herzen liegt. Die lebenshungrige, starke Frau hat beim Militärputsch in Chile ihren Bruder verloren, die Jahre der Diktatur im Exil verbracht, den Krebs und eine Scheidung überstanden und träumt noch immer vom großen Glück, weil die Liebe für sie immer „halbgar“ geblieben ist.
Ganz anders bei Richard Bowmaster, auf den sie ein Auge geworfen hat. Der 60-Jährige hat die große Liebe erlebt und durch Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn verspielt. Er hat als Ehemann und Vater versagt und große Schuld auf sich geladen. Seine quälenden Erinnerungen bekämpft er mit starren Gewohnheiten, hasst jede Abweichung von der Routine, hat ein melancholisches Naturell und scheint für Flirtversuche unempfänglich.
Die Dritte im Bunde, die aus Guatemala stammende Evelyn Ortega, ist vor der Gewalt einer Gang auf abenteuerlichem Weg über Mexico in die USA geflohen und arbeitet als illegale Einwanderin bei einer New Yorker Familie.
Wie immer schafft es Isabel Allende, eine unglaubliche Vielzahl von Themen anzuschneiden, von der politischen Entwicklung Lateinamerikas über Migration, Krankheit, Scheidung, sexuelle Orientierung, Freundschaft, Liebe, Alter, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Rassismus, Behinderung, Menschenhandel und einige andere mehr. Dass ihr dies gelingt, ist ihrem überragenden erzählerischen Talent zu verdanken, weswegen sie schon lange zu meinen Lieblingsautorinnen zählt. Trotzdem gehört Ein unvergänglicher Sommer für mich nicht zu ihren großen Romanen, auch wenn ich ihn gerne gelesen habe. Die Verflechtung der drei Schicksale ist ihr dieses Mal nicht mit der gewohnten Leichtigkeit gelungen, wenngleich jedes für sich genommen einen Roman wert ist. Außerdem war mir das Happyend, sosehr ich es den Protagonisten gönne, etwas zu überstürzt und kitschig.
Und was hat das Ganze mit dem titelgebenden Sommer zu tun? Eigentlich nichts, aber ein vorangestelltes Zitat von Albert Camus passt trotzdem ganz wunderbar zu Richard, Lucía und Evelyn: „Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist.“
Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de
Donal Ryan: Die Sache mit dem Dezember
Ein Opfer der Umstände
Auf Reisen lese ich gerne Literatur aus meinem Reiseland und in Irland ist meine Wahl inzwischen schon zum zweiten Mal auf Donal Ryan gefallen. Vor zwei Jahren war es Die Gesichter der Wahrheit, ein Potpourri irischer Stimmen zur Zeit der Finanzkrise 2008, nun, während einer Hausbootfahrt auf dem Shannon, Die Sache mit dem Dezember. Beide Bücher spielen im County Tipperary und somit auf unserer Bootsroute, vermitteln aber ein sehr viel derbes irisches Flair, als wir es erlebt haben.
Zwölf Kapitel, benannt Januar bis Dezember, umfasst der Roman und alle beginnen mit allgemeinen Betrachtungen von Johnsey Cunliffes Eltern zu diesem Monat, für den tollpatschigen Einzelgänger Mitte 20 allgemeingültige Weisheiten. Im Januar ist Johnseys Vater schon seit mehr als zwei Jahren tot, tief betrauert von Mutter und Sohn. Johnsey kann den kleinen Hof der Familie nicht weiterführen, er ist ein „Hornochse“, ungeschickt, dick, Hilfsarbeiter im Co-op, wo man ihm nicht einmal den Mindestlohn zahlt. Von den Gleichaltrigen wird er seit der Grundschule gemobbt, als „Behindi“ beschimpft, gepiesackt und jeden Tag auf dem Heimweg von der Arbeit drangsaliert. Allerdings hatte ich beim Lesen oft den Eindruck, dass Johnsey keineswegs so einfältig ist, wie er sich selbst sieht und wie der auktoriale Erzähler es berichtet. Sehr behütet aufgewachsen als Augapfel seiner Eltern fehlt es ihm gänzlich an Selbstbewusstsein, er ist völlig passiv und empfindet sich in einer Familie von Helden als Versager, der beständig alle enttäuscht. An Frauen traut er sich nicht heran und begnügt sich wohl oder übel mit seinen sexuellen Fantasien.
Als im Februar seine Mutter stirbt, fühlt er sich einsamer denn je und denkt sogar an Selbstmord. Doch dann heben eine schwere Attacke der Dorf-Gang, ein langer Krankenhausaufenthalt mit neuen Bekanntschaften und ein folgenschwerer Beschluss der Kreisverwaltung sein Leben völlig aus den Angeln.
Ich habe diesen eher traurigen Roman über ein Außenseiterschicksal gerne gelesen und vor allem die Rückblicke in Johnseys Kindheit und die Bemühungen seiner Eltern, einen normalen Jungen aus ihm zu machen, sind herzzerreißend. Donal Ryans Figuren sind durchweg Originale, Johnsey genauso wie die „sexy Engelskrankenschwester“ Siobhán (sprich: Schiwon) und der aufschneiderische Bettnachbar Nuschel-Dave. Sie alle sind ein Stück Irland, das man in einem gewöhnlichen Urlaub so nicht erlebt, über das ich aber gerne lese.
Donal Ryan: Die Sache mit dem Dezember. Diogenes 2015
www.diogenes.ch
Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf
Heimatlos
Gleich doppelt hat der mareverlag bei diesem Roman das Original übertroffen: Einmal wirkt das sowieso schon wunderschöne Cover in warmen Farbtönen mit dem charakteristischen weißen mare-Balken noch wesentlich edler und zum anderen ist der Titel Drei sind ein Dorf, den man erst gegen Ende versteht, viel ausdrucksstärker als das amerikanische Refuge.
Nilou Hamidi, geboren im iranischen Revolutionsjahr 1979, wächst behütet als Liebling ihres Vaters in Isfahan und Ardestun, dem Dorf ihrer Großeltern, auf. Als ihre Mutter Pari als Christin und Ärztin zunehmend Zielscheibe der Sittenpolizei wird, verlässt sie mit Nilou und deren jüngerem Bruder Kian 1987 das Land. Der Vater Bahman bleibt zurück, seine Zahnarztpraxis, seine Heimatverbundenheit und seine Opiumsucht hindern am Mitkommen. Zwei Jahre sind Pari, Nilou und Kian auf der Flucht, bis sie Asyl in den USA erhalten. Die Alpträume werden Nilou nie mehr verlassen, auch wenn sie das Lernen als Mittel gegen die Angst entdeckt, in Yale studiert und promoviert, den erfolgreichen Anwalt Gui heiratet und schließlich mit ihm nach Amsterdam geht, wo sie Anthropologie an der Universität lehrt. Äußerlich verkörpert Nilou alles, was eine geglückte Integration auszumachen scheint, doch im Inneren fühlt sie sich gehetzt und heimatlos: „Dass sich nichts je richtig abgeschlossen anfühlt. Dass sie etwas Wesentliches in Isfahan zurückgelassen hat und sich nicht daran erinnern kann, was es war.“ Den verständnisvollen Gui kann sie nicht an ihrer Zerrissenheit teilhaben lassen, beklagt die fehlenden gemeinsamen Wurzeln, gibt ihm aber keine Chance, sie zu verstehen.
Der Roman spielt hauptsächlich im Jahr 2009, in dem Nilou immer unruhiger wird und schließlich in einem von Iranern besetzten Haus in Amsterdam erstmals Freunde findet. Ihnen muss sie nichts erklären, sie verstehen einander ohne Worte. Gleichzeitig wird die Situation für ihren Vater im Iran immer prekärer, denn während der Unruhen nach den Wahlen wird er aufgrund einer falschen Beschuldigung unter Hausarrest gestellt. Daneben gibt es Rückblenden auf die vier Treffen zwischen Nilou und ihrem Vater in 22 Jahren der Trennung: 1993 in Oklahoma City, 2001 in London, 2006 in Madrid und zuletzt 2008 in Istanbul.
Dina Nayeri, die selbst im Alter von zehn Jahren aus dem Iran in die USA emigrierte, erzählt abwechselnd über Bahman und über Nilou, unterbrochen durch die Rückblenden aus Nilous Sicht. Zu Beginn des Romans lässt sie Bahman wegen seiner dritten Scheidung einen Tag im Gericht zubringen, wo er und wir Zeuge von 13 Scheidungen werden – ein meisterhafter Kunstgriff, der mich sofort in den Iran katapultiert hat. Überhaupt war Bahman für mich die eindrucksvollste Figur in diesem Roman, auch wenn er durch seine Opiumsucht und seine Weigerung, den Iran mit seiner Familie zu verlassen, vermutlich die Hauptursache für Nilous Zerrissenheit ist. Mit Nilou habe ich dagegen bei allem Verständnis für ihren doppelten Verlust von Heimat und Vater oft gehadert, mit ihrer Unfähigkeit zur Kommunikation und ihrer Weigerung, Gui an sich heranzulassen.
Drei sind ein Dorf war eine ebenso bedrückende wie desillusionierende Lektüre für mich, die mich etwas ratlos zurücklässt, doch ist es Dina Nayeri ausgezeichnet gelungen, meine Perspektive auf die Flüchtlingsthematik zu erweitern. Ich bin sicher, dass mir die Geschichte nachhaltig im Gedächtnis bleiben wird.
Dina Nayeri: Drei sind ein Dorf. mare 2018
www.mare.de
Europareise
Historische Reiseberichte vorzüglich gelesen
Seit Juni 2018 verlost die EU im Rahmen ihres Jugend-Programms „DiscoverEU“ kostenlose Interrail-Tickets für 18-Jährige. Das Interesse an Europa soll mit dieser großartigen Aktion geweckt, Toleranz gefördert, Vielfalt und kultureller Reichtum vermittelt und dem Auseinanderfallen Europas entgegengewirkt werden.
Solche Botschafter, die von ihren Reiseerlebnissen erzählen, gab es zu jeder Zeit, und oft waren es berühmte Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Fünfzehn derartige Berichte sind auf acht CDs des Audiobuch Verlags zu hören, 592 erlebnisreiche Minuten aus dem zweiten bis zwanzigsten Jahrhundert. Wie immer sind die Sprecher vorzüglich ausgewählt und interpretieren die Texte bisweilen sogar lebhafter und interessanter, als ich sie beim Lesen empfunden hätte. Ausgezeichnet ist auch das Booklet, das die Autoren im Bild zeigt, Lebensdaten und genaue bibliografische Angaben enthält sowie eine knappe Zusammenfassung des Gehörten bietet.
Was alle Texte verbindet, ist die aus heutiger Sicht große Langsamkeit des Reisens. War das gemächliche Tempo von Ort zu Ort noch den historischen Transportmitteln geschuldet, so wurden die langen Aufenthalte – oft Wochen oder Monate – bewusst geplant und führten zu einem wesentlich tieferen Eintauchen in Landschaft, Sehenswürdigkeiten, Geschichte, Bevölkerung und Sitten, so dass wir heute von äußerst detailreichen Beobachtungen profitieren können.
Wie bei allen Anthologien wird jeder Hörer andere Favoriten unter den Texten küren. Die großartigste Interpretation liefert für mich Oliver Rohrbeck bei Charles Dickens vergnüglichem Durch Frankreich, die ich mir gleich mehrfach angehört habe. Wie immer ein sprachlicher Hochgenuss sind die Texte von Stefan Zweig über Oxford, den Hyde Park, die Provence und vor allem seine Heimatstadt Wien. An sie erinnert sich Zweig 1940 wehmütig aus dem Exil zurück und preist ihre ehemals europäische, tolerante Gesinnung als Hauptstadt eines Weltreiches, aus politischer Sicht ein ganz und gar aktueller Text. In Edward Whympers Der Matterhorngipfel über seine Erstbesteigung 1865 spiegeln sich Triumpf über die Bezwingung und Trauer über die toten Kameraden gleichermaßen und der Sprecher David Nathan arbeitet diesen Zwiespalt wunderbar heraus. Bei Ida Pfeiffers Im hohen Norden konnte ich mit ihr durch Stockholm spazieren und sah alles lebhaft vor mir. Über Franz Grillparzers schlechte Laune beim Reisen in seinem teils stichwortartigen Tagebuch auf der Reise nach Griechenland musste ich schmunzeln, mit seiner Nörgelei und Hypochondrie ist er der personifizierte Alptraum jedes Reiseveranstalters. Sehr interessant war auch Heinrich Heines Über Polen mit seiner Analyse der polnischen Gesellschaft. Mehr versprochen hatte ich mir dagegen von Johann Wolfgang von Goethes Auszug aus Italienische Reise, als schwer verständlich empfand ich Das Erlebnis Russland von Lou Andreas-Salomé, obwohl die Sprecherin Vera Teltz sehr gut liest.
Eine sehr empfehlenswerte Hörbuch-Anthologie für alle, die gerne reisen, tatsächlich oder in Gedanken.
Europareise : historische Berichte von Andreas-Salomé, Dickens, Fürst, Goethe, Grillparzer, Heine, Irving, Kobbe u. Cornelius, Nansen, Pausanias, Pfeiffer, Riesbeck, Seume, Whymper, Zweig. Sprecher: R. Barenberg, D. Bierstedt, T. Hagen, S. Jäger, M. Kautz, D. Nathan, O. Rohrbeck, V. Teltz. Audiobuch 2018
www.audiobuch.com
Buchblog-Award 2018
Ich freue mich sehr über Stimmen für meinen Blog auf