Katrine Engberg: Krokodilwächter

Alle Puzzleteile finden ihren Platz

Herausstechend und zweifellos preiswürdig an Krokodilwächter ist der Umschlag: eindeutig Diogenes und doch mit den Schnitten, die den Blick auf den roten Leineneinband freigeben, ganz außergewöhnlich.

Mit Schnitten ist auch die erste Leiche übersät, die Verletzungen im Gesicht wirken sogar wie ein Scherenschnitt. Julie Stender, 21 Jahre alt, wird von einem anderen Mieter ihres Mehrfamilienhauses in der Kopenhagener Innenstadt gefunden. Was diesen Fall so ganz besonders macht, ist die unglaubliche Tatsache, dass die Hausbesitzerin, die berentete Unidozentin Esther de Laurenti, an einem Krimimanuskript arbeitet, das wie ein Drehbuch genau diesen Mord beschreibt. Wer ist der von der Presse als „Messermonster“ titulierte Täter, der so gut wie keine Spuren hinterlassen hat? Wer außer Esther hatte Zugang zu diesem Manuskript? Wer ist Julies geheimnisvoller neuer Freund „Mr. Mox“? Wer postet auf Instagram Fotos der übel zugerichteten Toten? Welche Rolle spielt ihr bulldozerhafter Vater, der sie zugleich vergöttert und bevormundet hat? Wer schwebt noch in Gefahr? Und nicht zuletzt: Was in aller Welt hat es mit dem titelgebenden Krokodil auf sich?

Um es vorwegzunehmen: Die Dänin Katrine Engberg hat in ihrem Debütthriller alle wesentlichen Fragen logisch und befriedigend geklärt. Dazu bedient sie sich zweier Polizeiassistenten, dem eher ruhigen Jeppe Kørner und der manchmal aufbrausenden, eher undiplomatischen Anette Werner, und ihrem Team von der Mordkommission Kopenhagen. Jeppe, dessen Ehe vor acht Monaten am unerfüllten Kinderwunsch gescheitert ist, hat seinen trennungsbedingten Nervenzusammenbruch und seine Selbstzweifel noch nicht überwunden, was sein berufliches Verhalten zwischendurch unprofessionell und gefährlich werden lässt. Dieser Aspekt des Buches ist zwar durchaus interessant und passt letztlich sogar überraschend gut zur Haupthandlung, hätte für mich aber deutlich kürzer ausfallen dürfen. Über Anette, die in einer Musterehe lebt, erfahren wir dagegen wenig, vermutlich wird sie in einem der nächsten Bände mehr in den Fokus rücken.

Der sehr spannende Thriller – oder Krimi – spielt an nur sechs Tagen: vom achten August, dem Todestag Julies, bis zum dreizehnten August, an dem Jeppe im Gespräch mit seinem Freund die äußerst komplexen Umstände noch einmal rekapituliert, wofür ich ihm angesichts der Verwicklungen dankbar war.

Ein Ermittlerteam mit viel Potential für kommende Bände, ein gutes sprachliches Niveau, viel Kopenhagenflair für Kenner, viele sorgfältig ausgearbeitete Charaktere, klug aufgebaute, nahezu durchgängige Spannung und eine gut nachvollziehbare Auflösung als Ergebnis sorgfältiger Ermittlungen zeichnen diesen dänischen Bestseller aus.

Katrine Engberg: Krokodilwächter. Diogenes 2018
www.diogenes.ch

Alain Claude Sulzer: Postskriptum

Ein Künstlerleben mit Höhen und Tiefen

Eingerahmt wird der Künstlerroman Postskriptum des Schweizers Alain Claude Sulzer von zwei Kindheitserlebnissen des 1888 in Lemberg geborenen Protagonisten Lionel Kupfer. Im Prolog wird das Ertrinken seines Bruders geschildert, das er als Sechsjähriger miterlebt, im Postskriptum geht es um die Lektüre von Goethes Ballade vom Erlkönig, mit der er zwölfjährig sein Schauspieltalent entdeckt. Dazwischen erzählt Alain Claude Sulzer ein deutsches Schauspielerleben zwischen Januar 1933, als der gefeierte Star Lionel Kupfer im berühmten Hotel Waldhaus in Sils Maria zu Gast ist, und 1963, als die durch Krieg und Exil schmerzlich unterbrochene Karriere in den USA wieder in Gang gekommen ist.

Kupfers Aufenthalt im Waldhaus wird für den jungen Silser Postbeamten Walter Staufer zum unvergesslichen Erlebnis. Als glühender Verehrer des gefeierten Schauspielers schmuggelt er sich ins Hotel, wird ihm durch einen Zufall vorgestellt und verbringt schließlich einige intime Tage mit ihm. Die Affäre endet, als Kupfers jugendlicher Liebhaber Eduard zu Besuch kommt und ihm die Nachricht vom Ende seiner Karriere als jüdischer Schauspieler in Nazideutschland überbringt.

Die Geschichte von Eduard, einem Kunstbeschaffer der Nazis in Wien, der ein doppeltes Spiel spielt und dafür mit dem Leben bezahlt, fand ich besonders interessant. Auch das Schicksal des homosexuellen Walter und seiner unverheirateten Mutter in den Kriegs- und Nachkriegsjahren in der konservativen Schweiz ist sehr gut erzählt. Atmosphärisch haben mir die Kapitel im Waldhaus am besten gefallen, außerdem ist die Kulisse von real existierenden Zeitgenossen Kupfers aus der Filmbranche und anderen Bereichen des künstlerischen Lebens sehr gut gemacht. Der Protagonist Kupfer ist für mich dagegen unnahbar geblieben. Trotz des großen Unrechts, das ihm widerfährt, konnte ich nicht das nötige Mitgefühl für ihn aufbringen, da er mir anfangs zu arrogant, später zu selbstmitleidig erschien. Auch Eduard und Walter waren mir nicht besonders sympathisch, sodass ich nur mit Walters einfacher Mutter Theres wirklich mitgelitten habe.

Achim Buch, den ich bisher als Sprecher nicht kannte, liest den ungekürzten Roman auf sechs CDs in knapp siebeneinhalb Stunden sehr ruhig und angenehm. Auch wenn ich bei dieser kunstvoll erzählten Geschichte gerne zugehört habe, hatte ich doch immer noch auf irgendeine Art von Überraschung am Ende gewartet, die allerdings ausblieb.

Alain Claude Sulzer: Postskriptum. Gelesen von Achim Buch. argon hörbuch 2018
www.argon-verlag.de

Hans de Beer & Hermann Krekeler: Der kleine Eisbär und der Angsthase

Von wegen Angsthase!

Eine wirklich gute Idee hat der Schweizer Nord-Süd Verlag hier in seiner Reihe Ich lese selber umgesetzt: ein bekannter Bilderbuchheld als Lockvogel für Erstleser. Hermann Krekeler hat den Text nach der Erzählung von Hans de Beer für Leseanfänger bearbeitet, die unverwechselbaren Illustrationen stammen natürlich weiterhin vom bekannten holländischen Künstler selbst.

Wie in Texten für Erstleser üblich, ist die Schrift groß, die Zeilen sind verkürzt und im Flattersatz gesetzt, die Textmenge pro Seite ist knappgehalten und die Wörter sind meist einfach. Der im Verhältnis zum Text sehr hohe Anteil farbiger Illustrationen mit dem vielen Kindern vertrauten kleinen Eisbären Lars erleichtert den Schritt zum Selberlesen, macht das Buch aber auch als Vorlesebuch ab vier Jahren attraktiv.

Zu Beginn der Geschichte lernt Lars den kleinen Schneehasen Hugo kennen, den er aus einem tiefen Loch rettet. Hugo ist ein Angsthase, das erkennt Lars schnell: Er traut sich nicht, einen steilen Hang hinunterzurollen, er hat Angst, nicht wieder nach Hause zu finden, fürchtet sich im Dunkeln, vor dem Schneemobil und vor der Polarstation. Aber als drauf ankommt und Lars in eine gefährliche Situation gerät, wächst Hugo über sich hinaus und Lars wird seinen neuen Freund sicher nie mehr als Angsthasen bezeichnen!

Die sehr empfehlenswerte Erstleser-Geschichte Der kleine Eisbär und der Angsthase um die Themen Freundschaft, Mut und Vorurteile erscheint inzwischen nicht mehr im ursprünglichen Verlag Nord-Süd, sondern im Verlag Hase und Igel. Dort hat man den Text noch einmal ein wenig vereinfacht, mit mehr Absätzen versehen, Zeilen verkürzt und die Textmenge auch auf die bisher reinen Illustrationsseiten verteilt, sodass das Buch ab dem Ende der ersten Klasse gelesen werden kann. Außerdem gibt es im neuen Verlag einen dazu passenden Band Materialien und Kopiervorlagen zur Klassenlektüre von Birthe Lagemann.

Hans de Beer & Hermann Krekeler: Der kleine Eisbär und der Angsthase. Nord-Süd Verlag 1992
nord-sued.com

Celeste Ng: Kleine Feuer überall

Mutterschaft

Zwei ganz unterschiedliche Lebensentwürfe prallen im zweiten Roman von Celeste Ng (sprich: Ing), Kleine Feuer überall, aufeinander. Elena Richardson ist wie Shaker Heights, der Vorort von Cleveland, in dem bereits ihre Großeltern lebten und den sie selbst nur zum Studium für kurze Zeit verlassen hat: durch und durch geplant, reglementiert, geordnet. Sie und ihr Mann haben vier Kinder, zwei Häuser, vier Autos, ein kleines Boot und Angestellte für die perfekte Abwicklung des Alltags. Elena wählt demokratisch, denkt in Maßen fortschrittlich und ist der Überzeugung, dass die Welt nur richtig funktioniert, wenn man feste Regeln einhält. Einziger Wermutstropfen ist die jüngste Tochter Izzy, 14 Jahre alt, die sich seit der Schwangerschaft an keine Regel hält und das schwarze Schaf der Familie ist, impulsiv, kompromisslos und „dazu geboren, andere in Rage zu bringen“, vor allem ihre Mutter. Das ererbte Zweithaus in der Winslow Road stellt Elena als eine Form der Nächstenliebe für eine niedrige Miete Leuten zur Verfügung, „die es verdienen“. Die sorgfältig ausgewählten neuesten Bewohnerinnen sind die Fotokünstlerin Mia Warren und deren 15-jährige Tochter Pearl. Mia und Pearl führen ein Nomadenleben, besitzen nur, was sie in ihrem VW Golf transportieren können, sind seit Pearls Geburt 46 Mal umgezogen und leben, was Elena zugleich fasziniert und beunruhigt, nach eigenen Regeln. Doch dieser Umzug soll ihr letzter sein, Mia hat Pearl endlich versprochen, sesshaft zu werden.

Mit der Freundschaft zwischen der begabten Pearl und dem ebenfalls 15-jährigen Moody Richardson beginnt die immer stärkere Verflechtung zwischen den einzelnen Mitgliedern der ungleichen Familien, die schließlich in die zu Beginn des Romans geschilderte Tragödie mündet: Izzy hat viele kleine Feuer im Haus ihrer Familie gelegt und Mia macht sich mit Pearl wieder einmal auf den Weg. Doch schon lange bevor das Haus der Richardsons in Flammen aufgeht, gab es diese kleinen Feuer, sie loderten in der Vergangenheit der beiden Familien, in ihrer Umgebung und direkt in ihren Herzen.

Mutterschaft in all ihren Spielarten ist für mich das zentrale Thema dieses amerikanischen Gesellschaftsromans, der während der Clinton-Ära angesiedelt ist. Verschiedene Auffassungen über das Muttersein spielen genauso eine Rolle wie ungewollte Schwangerschaft, unerfüllter Kinderwunsch, Leihmutterschaft, Kindesaussetzung, Adoption und Kindesentführung. Während sich Celeste Ng für meinen Geschmack im ersten Drittel des Buches etwas zu viel Zeit für die Vorstellung ihrer Protagonisten lässt, nimmt es ab dann sehr an Fahrt auf, greift weit in die Vergangenheit zurück, verschränkt die verschiedenen Handlungsstränge sehr gekonnt und ist flüssig und packend erzählt. Die Autorin schlüsselt die Gründe, die zur Tragödie geführt haben, minutiös auf und wird dabei der Rolle jedes Mitglieds der beiden Familien gerecht.

„Manchmal muss man alles abbrennen und von vorn anfangen“ sagt Mia irgendwann zu Izzy, nicht ahnend, wie wörtlich das Mädchen diese Bemerkung nehmen würde. Genau dieser Neuanfang steht am Ende allen Beteiligten bevor.

Celeste Ng: Kleine Feuer überall. dtv 2018
www.dtv.de

Ulrich Trebbin: Letzte Fahrt nach Königsberg

Schnapsidee oder Husarenstück?

Angezogen vom Cover und dem verheißungsvollen Titel Letzte Fahrt nach Königsberg wollte ich diesen Debütroman des BR-Hörfunkjournalisten und Gestalttherapeuten Ulrich Trebbin unbedingt lesen und hatte das richtige Gespür. Das Buch hat mich mit den ersten Sätzen des Prologs in seinen Bann gezogen, tief berührt und aufgewühlt habe ich es nach dem Epilog zugeklappt.

Inspiriert von der Lebensgeschichte seiner Großmutter, auf deren Sekretär bis zu ihrem Tod 2009 das Sepiafoto eines jungen Mannes stand, der nicht ihr geschiedener Hinrich war, erzählt Ulrich Trebbin nicht nur ein Flüchtlingsschicksal, sondern auch ein Stück deutsche Geschichte. Er tut dies so einfühlsam, detailliert und bildmächtig, dass Königsberg und die Ostseeküste der Jahre 1932 bis 1945 sehr lebendig vor meinen Augen erstanden sind – die Architektur, die Natur und die Menschen gleichermaßen.

Mit dem frühen Tod des geliebten Vaters, eines vermögenden Weinhändlers, endet für die 13-jährige Ella Aschmoneit 1932 die unbeschwerte Königsberger Kindheit. Die in Geldangelegenheiten ahnungslose Mutter lässt sich beim Erbe über den Tisch ziehen, was für Ella den Besuch der Höheren Handelsschule anstatt des humanistischen Gymnasiums bedeutet, Sekretärin anstatt Ärztin. Als sie wieder Boden unter den Füßen hat, trotzt sie lebenslustig dem Schicksal ab, was es ihr bieten kann: Radtouren am Haff, Liebeleien, Kinobesuche und Kasinobälle. Ihre Passion ist das hingebungsvolle Präparieren von Schmetterlingen.

Nachdem ihre erste große Liebe, der gleichaltrige Victor, der „Fixstern in ihrem Universum“, zaghaft und unentschlossen bleibt, entscheidet sie sich bei Kriegsausbruch nach langem zweifelndem Abwägen für den heftig um sie werbenden, kühlen Hamburger Historiker Hinrich Jensch, eine „töricht vernünftige Heirat“. Mit zwei Kleinkindern verlässt sie Königsberg nach der Zerstörung durch britische Bomber und zieht im Herbst 1944 zu ihrer Schwester nach Potsdam. Doch die Erinnerung an die vielen Weckgläser in ihrem Keller, Schweinebraten, Blutwurst, Gänseleberpastete, eingelegtes Kraut, Gemüse, Obst, Mus und Marmelade, lässt ihr keine Ruhe, und so kehrt sie ein letztes Mal zurück in eine dem Untergang geweihte Stadt. Ihre gefährliche „Königsberger Hamsterfahrt“, angetreten ohne Erlaubnis ihres Mannes, entzündet einen nicht mehr zu kittenden Dissens in ihrer Ehe.

Letzte Fahrt nach Königsberg ist ein Roman, keine Biografie, bei dem jedes Wort Gewicht hat, und bei dem mir vor allem die tiefe Zuneigung des Autors zu seiner Protagonistin unglaublich gut gefallen hat sowie die nicht-chronologische Erzählweise in einzelnen Zeitfenstern. Das letzte, 1948 im Westen spielende Kapitel und der Epilog 2009 haben mir die Tränen in die Augen getrieben, obwohl der Roman ganz gewiss weder rührselig noch kitschig ist. Vielmehr ist es ein Buch über eine beeindruckende Frau, die unter widrigsten Bedingungen das Beste aus ihrem Schicksal macht. Meine Empfehlung: unbedingt lesen!

Ulrich Trebbin: Letzte Fahrt nach Königsberg. btb 2018
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Marie Reiners: Frauen, die Bärbel heißen

Unverhofft kommt oft

Kann ein Tag, der mit dem Fund eines perfekten Stöckchens für ihre Mischlingshündin Frieda beim Morgenspaziergang beginnt, zum Albtraum werden? Er kann, wenn das Stöckchen wie in diesem Fall im Auge einer männlichen Leiche steckt. Von diesem Moment an geht es im Leben der Bärbel Böttcher, 54, arbeitslose Tierpräparatorin, früh verwaist, ledig, ohne Kinder und alleinlebend, drunter und drüber. Sie, deren Hauptverbindung zur Außenwelt bisher die Verkaufsshows eines Shoppingsenders waren, muss die Polizei in Person von Kommissar Lichtblau verständigen, Stunden auf dem Kommissariat verbringen und bekommt dafür nicht einmal das ersehnte Stöckchen überlassen. Am Nachmittag steht die frischgebackene Witwe vor ihrer Tür und attackiert sie mit dem Elektroschocker und einem Ausbeinmesser. Wenige Stunden später hat Bärbel zwei Gefangene und zwei Leichen an der Backe und in den kommenden zehn Tagen passiert mehr, als in den vorhergehenden 54 Jahren. Dabei geraten nicht nur Bärbels beschauliche Gegenwart und ihre Zukunft ins Wanken, auch ihre Vergangenheit stellt sich plötzlich ganz anders dar…

Das Krimidebüt Frauen, die Bärbel heißen der mir bisher unbekannten Drehbuchautorin Marie Reiners ist absolut schräg, irrwitzig, bitterböse, voller schwarzem Humor und witziger Dialoge. Oft hat es mich an die von mir sehr geschätzten Romane von Ingrid Noll erinnert. Männer kommen nur als Rand- bzw. Witzfiguren vor, von den weiblichen Wesen kann man allenfalls die im völligen Gegensatz zu ihrer Besitzerin kontaktfreudige Frieda als normal bezeichnen. Aus der Schrulligkeit Bärbels speist sich ein großer Teil der Komik, denn ihr Mangel an Empathie, ihre Skurrilität, ihre fehlende Sozialisation und die daraus resultierende Unvorhersehbarkeit ihrer Reaktionen und Handlungen sind urkomisch. Allerdings macht sie ungewollt eine Entwicklung durch, denn das abrupte Ende ihres Eremitendaseins bleibt für sie nicht ohne Folgen.

Die Schauspielerin Katja Riemann liest den Roman auf sechs CDs in etwas über acht Stunden absolut überzeugend. Ich habe ihr die skurrile, emotionslose Ich-Erzählerin Bärbel zu jeder Zeit voll und ganz abgenommen. Allerdings hätten ein paar Kürzungen dem (Hör-)Buch in meinen Augen gutgetan.

Obwohl die Morde befriedigend aufgeklärt werden, wäre eine Fortsetzung der Geschichte durchaus denkbar. Mich würde das weitere Schicksal Bärbels und Friedas jedenfalls interessieren und ich wäre lesend oder hörend ganz bestimmt wieder dabei!

Marie Reiners: Frauen, die Bärbel heißen. Gelesen von Katja Riemann. Argon 2018
www.argon-verlag.de

Kristin Hannah: Die Nachtigall

 Leichter Unterhaltungsroman über zwei Frauen im besetzten Frankreich 1939 bis 1945

Im sehr empfehlenswerten Nachwort zu „Die Nachtigall“ schreibt die 1960 geborene US-amerikanische Autorin Kristin Hannah: „Allzu oft werden die Geschichten von Frauen im Krieg übersehen oder vergessen. Frauen neigen dazu, aus dem Kampf zurückzukehren, zu schweigen und mit ihrem Leben weiterzumachen. Die Nachtigall ist ein Roman über diese Frauen und die waghalsigen, gefährlichen Entscheidungen, die sie getroffen haben, um ihre Kinder und ihre Lebensart zu retten.“ Den Frauen im besetzten Frankreich 1939 bis 1945 ein Denkmal zu setzen und die Leser zum Nachdenken darüber anzuregen, wie sie selbst in einer solchen Situation handeln würden, ist die Intention ihres Romans. Beides ist ihr gut gelungen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, die Handlung wäre weniger gefühlvoll und melodramatisch aufbereitet gewesen und die Sprache weniger einfach. Und doch: Wer einen spannenden, emotionalen, leichten Unterhaltungsroman zu diesem Thema lesen möchte, wird ihn hier finden.

Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Vianne und Isabelle. Nach dem Tod der Mutter und der Weigerung des aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrten Vaters, Verantwortung für sie zu übernehmen, stehen beide mit 14 bzw. 4 Jahren fast alleine da. Während die eher brave, angepasste Vianne früh heiratet und eine Tochter bekommt, durchlebt die impulsive, leidenschaftliche Rebellin Isabelle eine Odyssee durch Klöster und Internate.

Mit der Besetzung durch die Wehrmacht und die französische Kapitulation ändert sich schlagartig beider Leben. Vianne muss ihre Tochter Sophie in Carriveau im Loiretal alleine durchbringen und mit Einquartierung, Entlassung aus dem Schuldienst, Lebensmittel- und Brennstoffmängel zurechtkommen und versucht, möglichst unauffällig zu überleben. Isabelle schließt sich – aufgerüttelt durch eine Rede Général de Gaulles – der Résistance an und bringt als legendäre „Nachtigall“ bei unzähligen Pyrenäenüberquerungen zu Fuß abgeschossene britische, kanadische und US-amerikanische Piloten über Saint-Jean-de-Luz zum britischen Konsulat nach San Sebastián. So sehr Vianne Isabelles gefährliches Treiben fürchtet und ablehnt, kann auch sie angesichts der Verschleppung der Juden aus ihrer Umgebung nicht untätig bleiben.

Kristin Hannah malt ein sehr detailliertes Bild des besetzten Frankreich und verzichtet auf eine völlige Schwarz-Weiß-Malerei. Sehr geheimnisvoll ist die Rahmenhandlung um eine alte Amerikanerin französischer Herkunft, die 1995 eine Einladung nach Paris zu einem Treffen zu Ehren der „Nachtigall“ erhält. Erst auf den letzten Seiten habe ich Gewissheit erhalten, um wen es sich dabei handelt, und das Schicksal der Schwestern bei Kriegsende völlig verstanden.

Kristin Hannah: Die Nachtigall. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de

Arthur Isarin: Blasse Helden

Antons beste Jahre

Am 18. März 2018 wurde Wladimir Putin für eine vierte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation wiedergewählt. Angesichts seiner halbdemokratischen, halbautoritären Regierungsweise sprechen westliche Kritiker von Putinismus. Wer verstehen möchte, warum sich dieser ehemalige KBG-Mitarbeiter in Russland großer Zustimmung erfreut, könnte im Roman Blasse Helden des unter Pseudonym schreibenden Arthur Isarin Antworten finden.

In sieben Episoden begleiten wir den Protagonisten Anton durch das Russland der Jahre 1990 bis 1999, dem Jahr, als Putin erstmals als Ministerpräsident vereidigt wurde. Anton ist Deutscher, studierter Ökonom, profunder Kenner und Liebhaber russischer Literatur und Musik und arbeitet in Moskau für einen russischen Kohle- und Stahlkonzern. Zu Beginn 32 Jahre alt, ist er nach Russland gekommen, „um mehr zu erleben als in London oder New York“. Er fühlt sich frei, genießt die Privilegien, die sich für ihn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auftun, beutet als Parasit das Land aus und „lebt zum ersten Mal nicht mehr vorläufig“: „Diese Stadt war für ihn geschaffen, sie verzieh alles, auch seinen Mangel an Grundsätzen, Substanz und Tiefe.“ Es ist die beste Phase seiner Existenz: „Er fühlte sich wohl in Russland, in seiner überbezahlten Position, die ihm alles ermöglichte, wovon ein zur Faulheit neigender Mann seiner Herkunft mit durchschnittlichen Fähigkeiten nur träumen konnte.“ Für Anton zählt nur das Geld, das er für Frauen, Theater- und Konzertbesuche der ersten Kategorie mit vollen Händen ausgibt. Korruption ist sein alltägliches Geschäft, er interessiert sich nicht für Politik, lebt in einer surrealistisch anmutenden Blase und schaut beim Überlebenskampf der Massen gerne weg. Immerhin hat er einige wenige Grundsätze: Er beteiligt sich nicht am Handel mit Drogen, Waffen und Frauen.

Ich habe mich mit dem Einstieg in diesen Episoden-Roman nicht leichtgetan, denn Isarin setzt eine Menge Wissen um die neuere russische Geschichte und Politik voraus, und auch die Anspielungen auf die russischen Klassiker habe ich mangels Vorkenntnissen leider nicht immer verstanden. Mit zunehmender Lektüre haben mich der Gang der Handlung und die Atmosphäre des Romans aber immer mehr gefesselt, bis zum Ende 1999, als der „blasse Held“ Anton sich entscheiden muss. Das Volk hat endgültig genug von Korruption, der Macht der Oligarchen, dem Krieg im Kaukasus und der Expansion von McDonald’s. Mit dem Aufstieg Putins kommen alte KGB-Funktionäre wieder in Amt und Würden und einer von ihnen stellt Anton vor die Wahl: entweder Teil des neuen, aufsteigenden Russlands und noch reicher werden oder den russischen Traum aufgeben. Für Anton ist es die Entscheidung zwischen Geld und Freiheit.

Auch wenn das Lesen dieses Romans sich für mich manchmal wie Arbeit angefühlt hat, hat sich die Mühe doch eindeutig gelohnt. Neben den Einblicken in die 1990er-Jahre der untergegangenen Sowjetunion habe ich viele Anregungen zum Lesen russischer Klassiker bekommen. Auf einige Sexszenen, vor allem zu Beginn des Romans, hätte ich gerne verzichtet, aber die Ironie Isarins hat mich immer wieder laut auflachen lassen, wenn er beispielsweise die sich nach einem Anschlag in einem Restaurant unter dem  Tisch versteckten Gäste beschreibt: „Unter dem Tisch hatte sich eine idyllische Szene entwickelt, die entfernt an Manets ‚Frühstück im Grünen‘ erinnerte.“

Arthur Isarin: Blasse Helden. Knaus 2018
www.randomhouse.de

Daniel Napp: Achtung, hier kommt Lotta

Sehr pfiffige Geschichten

Als Jugendliche habe ich im Französischunterricht Le Petit Nicolas, die Geschichten von René Goscinny mit den Illustrationen von Jean-Jacques Sempé, geliebt. Achtung, hier kommt Lotta von Daniel Napp erinnert mich besonders von der Art der Schwarz-Weiß-Zeichnungen, aber auch vom Text her an diesen Kinderbuchklassiker, obwohl nicht aus der Ich-Perspektive von Lotta erzählt wird. Beides sind nahezu erwachsenenfreie Geschichten, drehen sich um alltägliche Erlebnisse und stellen die kindliche Wahrnehmung in den Mittelpunkt.

Neun Geschichten um die Grundschülerin Lotta Hahnenburger enthält der Band, daneben sind ihr kleiner Bruder Theo und ihre beste Freundin Nicole die weiteren Akteure. Lotta hat eine besondere Begabung dafür, sich in unbequeme Situationen zu manövrieren, obwohl sie das eigentlich gar nicht will. Doch als überaus pfiffiges Mädchen findet sie jedes Mal eine überraschende Lösung, während ihr Bruder meist nur ein Wort pro Geschichte beisteuert und trotzdem oft den Sieg davonträgt.

Die Episoden sind sehr warmherzig und mit einem Augenzwinkern erzählt, verblüffen immer wieder durch Lottas Cleverness und machen einfach Spaß, zum Vorlesen ab sechs, zum Selberlesen wegen der relativ umfangreichen Textmenge ab der dritten Klasse. Schade, dass es bisher bei diesem erstmals 2011 erschienenen Band geblieben ist, ich würde mich über eine Fortsetzung sehr freuen!

Der Verlag Beltz & Gelberg bietet zu diesem Buch eine Lehrerhandreichung für die Klassen drei bis vier an.

Daniel Napp: Achtung, hier kommt Lotta. Gulliver 2014
www.beltz.de/kinder_jugendbuch/marken/gulliver

Barbara Bierach: Schweigegelübde

Mehr Probleme als Haare auf dem Kopf

Mit Emma Vaughan, Inspector bei der irischen Polizei im 25 000 Einwohner-Städtchen Sligo an der Westküste, möchte man nicht tauschen. Die alleinerziehende Mutter eines Teenagers hat es schwer, Beruf und Erziehung unter einen Hut zu bringen. Ihr Ex-Mann, von dem sie sich aufgrund häuslicher Gewalt längst hat scheiden lassen, sitzt wegen seiner Vergangenheit bei der IRA in Untersuchungshaft und es droht eine Anklage wegen Terrorismus. Ihm verdankt sie auch ihre Schmerzmittelabhängigkeit, denn die Folgen eines Autounfalls zehn Jahre zuvor bekämpft sie regelmäßig mit Oxycodon, einem verschreibungspflichtigen Medikament, das sie sich auch schon illegal aus der Asservatenkammer beschafft hat. Das ausstehende Ergebnis eines von ihrem Chef angeordneten Drogentests schwebt daher wie ein Damoklesschwert über ihr. Zu allem Überfluss interessiert ihr Kollege James Quinn sich mehr für die junge Empfangssekretärin als für sie und der ungelöste sogenannte Fitzpatrick-Mord an einem protestantischen Vikar, Gegenstand von Band eins, Lügenmauer, hat ihr Kritik und eine Strafversetzung eingebracht. Doch wenigstens die wird aufgehoben, als aus dem Sligo General, dem örtlichen Krankenhaus, ein Hinweis auf verdächtige Todesfälle kommt. Acht Patienten sind dort innerhalb kurzer Zeit ohne diesbezügliche Vorerkrankung an Herzversagen gestorben. Schnell erhärtet sich der Verdacht, dass ein Todesengel am Werk ist, und Emma darf in die Detective Unit zurückkehren.

Ich hatte mich aufgrund eines vergangenen und eines bevorstehenden Irland-Urlaubs besonders wegen des landeskundlichen Flairs für diesen Krimi entschieden. Da die Autorin Barbara Bierach in Sligo lebt, hatte ich auf  viel Lokalkolorit gehofft und bin in dieser Beziehung voll auf meine Kosten gekommen. Landschaftsbeschreibungen, teils ernsthafte, teils komische Beobachtungen über die Eigenheiten der Iren und die Nachwirkungen der unruhigen Vergangenheit des Landes spielen neben der Krimihandlung eine zentrale Rolle in diesem komplexen Buch. Die Ermittlerin Emma Vaughan, eine Frau, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht, die nichts von Esoterik hält, auch mal unkonventionell arbeitet, gegen Dienstvorschriften verstößt, und der Menschen wichtiger sind als Fallstatistiken, war mir von Anfang an mit all ihren Schwächen sympathisch.

Es klingt vielleicht seltsam, aber die im Verlagstext im Vordergrund stehenden Krankenhausmorde hatten für mich keine zentrale Bedeutung, zumal ich die Auflösung schon relativ früh erahnt habe. Viel interessanter war der ungelöste Fitzpatrick-Mord, dessen Motiv tief in die Abgründe der 1960er-Jahre zurückreicht und ein tragisches Stück irischer Geschichte enthüllt.  Die diesbezüglichen Ermittlungen führen im letzten Drittel des Krimis zu einer dramatischen Zuspitzung, viel mehr als die Mordserie im Krankenhaus. Obwohl ich erst mit diesem zweiten Band in die Serie eingestiegen bin, konnte ich diesem Handlungsstrang problemlos folgen. Ich werde nun aber Band eins nachholen und bin auch in Zukunft gerne wieder in Sligo dabei.

Barbara Bierach: Schweigegelübde. Ullstein 2018
www.ullstein-buchverlage.de