Salah Naoura & SaBine Büchner: Superhugo rettet Leben!

Ein Superhund und eine kleine Katze

Büchersterne heißt die Reihe für Erstleser aus dem Oetinger Verlag, die für Lesespaß in drei Stufen sorgen soll. Der vorliegende Band Superhugo rettet Leben! von Salah Naoura gehört zur mittleren Kategorie für die erste und zweite Klasse, ist in großer Fibelschrift und im Flattersatz mit kurzen Zeilen gedruckt, hat kurze Leseabschnitte und ist in fünf Kapitel unterteilt, textunterstützend illustriert von SaBine Büchner und bietet auf acht Doppelseiten am Ende viele abwechslungsreiche Rätselangebote mit Lösungen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Hugo, ein kleiner Hund, der zu Beginn akzeptieren muss, dass das Kätzchen Mimi bei ihm und Oma Frieda einzieht. Was Superhund Hugo mit seinen Superstiefeln und seinem Superauto erlebt und wie er schließlich nicht nur eine Fliege, sondern sogar Mimi rettet, ist fantasievoll-verrückt erzählt und ebenso knallbunt wie humorvoll illustriert.

Salah Naoura & SaBine Büchner: Superhugo rettet Leben! Oetinger 2015
www.oetinger.de

Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege

Die Waage neigt sich hin und her

Der Einstieg in Elena Ferrantes dritten Band ihrer neapolitanischen Saga gelang mir wie schon beim letzten Mal trotz einiger Monate Wartezeit problemlos: nach wenigen Seiten war ich wieder eingetaucht in die ungleichen Biografien der Kinderfreundinnen Elena und Lila aus dem neapolitanischen Rione.

Wies das Cover des zweiten Bandes „Die Geschichte eines neuen Namens“ durch den im Sturm wehenden Brautschleier von Lila auf den turbulenten Verlauf ihrer Ehe hin, so wirkt die Mutter mit dem in die Ferne zeigenden Kind auf dem Arm als Titelbild des dritten Bandes „Die Geschichte der getrennten Wege“ ruhig und friedlich. Doch davon sollte man sich nicht täuschen lassen, denn weder Elenas noch Lilas Leben verläuft in ruhigen Bahnen. Die soziale Distanz zwischen den beiden Frauen vertieft sich zu Elenas Gunsten nach ihrer Heirat mit dem Universitätsprofessor Pietro Airota aus einer seit Generationen für den Sozialismus kämpfenden Familie der intellektuellen Oberschicht. Kurz vor der Hochzeit und ihrem Wegzug nach Florenz kommen sich Elena und Lila noch einmal näher, als Elena der völlig entkräfteten, in einer Wurstfabrik schuftenden Lila, die dem Wohlstand und Ansehen ihrer unglücklichen Ehe und dem Rione entflohen ist und in einer WG mit ihrem kleinen Sohn und ihrem Jugendfreund Enzo lebt, zur Hilfe eilt. Dank ihrer neu gewonnenen Beziehungen verschafft Elena Lila Arzttermine, einen Anwalt zur Eintreibung ihres ausstehenden Lohns und Kontakt zu einem Computerspezialisten, der Enzo und Lila den Einstieg in diese neue Branche vermittelt. Doch Lila dankt es ihr am Ende nicht: „Du weißt gar nichts mehr über uns, also halte lieber die Klappe.“ Der Konflikt spiegelt im Kleinen den Konflikt zwischen Studenen und Arbeitern der linken Bewegungen in den 1960er- und 70er-Jahren wider.

Während Lila und Enzo sich in der neuen Digitalbranche hocharbeiten, ist Elena in ihrer Ehe mit einem zwar hochintelligenten, aber „farblosesten aller Akademiker“ gefangen und zum Stillstand verurteilt. Pietro, der größte Probleme an der Florentiner Universität hat, haben ihre Erfolge als Romanautorin nie behagt, er ermutigt sie nicht zu intellektueller Arbeit und zum Schreiben, sieht sie nicht als Partnerin auf Augenhöhe und reduziert sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zweier Töchter.

Band drei der Saga spielt Ende der 1960er- und in den 1970er-Jahren vor der Kulisse der politischen Konflikte und der explosiven Stimmung in Italien: eskalierende Gewalt zwischen Faschisten und Kommunisten, Spannung unter den Kommunisten, expandierende Mafia-Strukturen, Arbeiterproteste, Studentenunruhen, Terrorismus und Frauenbewegung. Am Ende ist nicht nur die Welt aus den Fugen, sondern auch Elenas Leben. Während sich bei Lila, die in den Rione zurückgekehrt ist und ausgerechnet für den verhassten Mafia-Boss Michele Solare hochbezahlt in dessen neuer Lochkartenfabrik arbeitet, alles zum Besseren zu wenden scheint, stehen bei Elena alle Zeichen auf Sturm.

Obwohl ich auch diesen dritten Teil von Elena Ferrantes erfolgreichem Vierteiler gern gelesen habe, hat er mir doch nicht ganz so gut gefallen wie die beiden Vorgänger. Längen in der ersten Hälfte und die für mich nicht immer nachvollziehbare Schere zwischen Abhängigkeit, Zuneigung, Ablehnung und sogar Hass zwischen den beiden Protagonistinnen haben das Leseerlebnis dieses Mal etwas getrübt. Trotzdem freue ich mich auf das Erscheinen von Band vier und bin selbstverständlich auch dann wieder dabei!

Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Suhrkamp 2017
www.suhrkamp.de

Anne von Canal: Whiteout

Eisschichten

Drei Freunde, so unzertrennlich, dass sie zusammen nur einen Schatten werfen, zehn gemeinsame Kinder- und Jugendjahre, Zukunftspläne für eine Studenten-WG in Hamburg und ein Leben als Polarforscher, herübergerettet aus alten Kindheitsträumen – und dann urplötzlich ein Bruch: „Nichts, was darauf hinwies, warum du uns nicht mehr kennen wolltest.“ Nach einem gemeinsamen Urlaub an der französischen Atlantikküste verabschiedet Fido sich wie immer von den Geschwistern Hanna und Jan, um dann vollkommen aus deren Leben zu verschwinden. 20 Jahre ist das nun her und Hanna, die trotz allem ihren Traum von der Forscherkarriere verwirklicht hat, ist damals emotional eingefroren, einsam geworden, hat das Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit eingebüßt, hat alles weggeräumt, was mit Fido zu tun hatte und sogar den Kontakt zu Jan und ihrer Familie weitgehend abgebrochen. Wie bei einem „Whiteout“, einem meteorologischen Phänomen, das durch stark diffuse Reflexion des Sonnenlichts ein Verschwinden des Horizonts zur Folge hat, hat das abschiedslose Verschwinden Fidos bei Hanna eine Desorientierung ausgelöst, die sie nur mit Hilfe der zielstrebigen Verwirklichung ihres Lebenstraums verdrängen konnte.

Nun leitet sie eine fünfköpfige Antarktisexpedition, bei der an diesem „Außenposten im Grenzbereich des Möglichen“ ein 300 Meter langer Eiskern herausgebohrt werden soll, um „dem Eis seine Geheimnisse zu entlocken“. Und genau hier, wo sie ihren Erinnerungen nicht entkommen kann, erreicht sie die Mail ihres Bruders vom Tod Fidos.

Whiteout ist nach Herz auf Eis und Everland die dritte Neuerscheinung des Jahres 2017 für mich, die in der Antarktis spielt, einer Region, die durch die Diskussion über den Klimawandel immer mehr in den Fokus des allgemeinen Interesses und damit offensichtlich auch der Literatur gerät. Doch die Antarktis ist in Anne von Canals Roman weit mehr als nur Handlungsort, sie ist Metapher für Hannas Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen, aber auch für ihre Einsamkeit und das Eis, das sich nach dem überraschenden Verlassenwerden durch die Freundin gebildet hat. Was hat sie damals übersehen, welche Fehler hat sie gemacht und warum hat Fido so anhaltend geschwiegen? Welche Folgen hat ihr Tod mit knapp 40 Jahren für Hanna? Welche Erinnerungen halten einer kritischen Überprüfung stand? Und was können wir als Leser überhaupt glauben, wo wir doch nur eine, Hannas Sicht auf die Geschehnisse erfahren?

Während in der Antarktis ein Blizzard tobt und das Forschungsprojekt unter einem immer schlechteren Stern steht, kämpft Hanna mit ihrer unbewältigten Vergangenheit. Dass allmählich ein Genesungsprozess in Gang zu kommen scheint, merkt man daran, dass sie zum ersten Mal eine Bemerkung über Fido machen und das zuvor für sie reservierte „du“ für einen anderen Menschen verwenden kann.

Ein sehr stark erzählter, kleiner Roman vor einer beeindruckenden Kulisse, ausdrucksstark, bildreich, mit einem wunderschönen Cover und einem hoffnungsvollen Schlusssatz: „Dies ist ein Ort, an dem Zweifel enden.“

Anne von Canal: Whiteout. mare 2017
www.mare.de

Babett Jacobs: Die Wilma hat Ferien

Ferien auf Norderney

Auch wenn es sich bei Die Wilma hat Ferien von Babett Jacobs bereits um den zweiten Band der Reihe handelt, fällt der Einstieg leicht, denn alles Wissenswerte erfährt man im Vorkapitel „Wer ist eigentlich diese Wilma?“.

Wilma ist knapp sieben Jahre alt, hat das erste Schuljahr gut gemeistert und kann nun zum ersten Mal die Sommerferien genießen. Bevor die Familie zum Zelten nach Norderney aufbricht, muss Wilma erst noch einen Krimi mit Frau Gurkes verrücktem Spitz im Supermarkt überstehen, aber dann geht es auch schon los und zum ersten Mal ans Meer. Zwar wird aus dem Zelturlaub der Laiencamper ein Urlaub in der Pension Strandnixe, aber das ist gar nicht so schlimm. Tränen fließen nur zum Abschied, denn der Urlaub war mit den neuen Freunden einfach zu schön, das Essen zu lecker und Norderney zu spannend!

Die kleinen Alltagsabenteuer der sympathischen Wilma sind ruhig und einfühlsam erzählt, es kommt aber nicht allzu viel Spannung auf. Das herstellerisch sehr schön gemachte Buch mit der großen, klaren Schrift, dem angenehmen Zeilenabstand und den einfachen Sätzen richtet sich vor allem an Erstleser. Allerdings sind die Kapitel relativ lang und die Schwarz-Weiß-Illustrationen von illuBine eher spärlich, was zu einer für diese Zielgruppe umfangreichen Textmenge pro Seite führt. Zweitklässler sind deshalb recht gefordert, nicht zuletzt auch wegen schwieriger Wörter wie „Parterrefenster“, „Kirschlorbeersträucher“ oder „Tohuwabohu“.

Babett Jacobs: Die Wilma hat Ferien. Jacobs Children’s Book 2016
www.jacobschildrensbook.com

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Man kann nicht reparieren, was nicht zu reparieren ist

Fast hätte ich mich von dem jungen Mann mit dem schmerzverzerrten Gesicht auf dem Cover, den annähernd 1000 Seiten und dem Gewicht von einem Kilogramm abschrecken lassen. Hätte ich zusätzlich noch gewusst, wie der Titel Ein wenig Leben zu erklären ist, ich hätte das Buch wahrscheinlich nicht gelesen und damit eines der eindrücklichsten, erschütterndsten und emotional bis ans Limit und darüber hinausgehenden Leseerlebnisse verpasst. Daher meine Empfehlung: keine Rezensionen vorab lesen, je weniger man über den Inhalt des Buches weiß, desto ergreifender die Lektüre.

Nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern vom Findelkind zum Staranwalt schafft es Jude St. Francis, der deutlich mehr als seine drei Freunde Willem, Malcolm und JB im Mittelpunkt des Romans steht. Auf den ersten 100 Seiten sind die Anteile noch annähernd gleich verteilt und man liest über diese vier jungen Männer unterschiedlicher Herkunft, die unzertrennlich sind, seit sie ab 16 Jahren ein Collegezimmer geteilt haben, und nun mit Mitte 20 zielstrebig in New York Karriere machen. Jude hat ein glänzendes Jurastudium absolviert und nebenbei noch Mathematik studiert, Willem träumt von einer Schauspielerkarriere, Malcolm ist auf dem Weg zum Stararchitekt und JB Künstler. Vier aufstrebende junge Männer und doch ist einer anders: Jude, der nie über seine Herkunft und seine ersten 15 Jahre spricht, der unter Schmerzattacken leidet, der hinkt, der seinen Körper verhüllt und über dem ein Schatten zu liegen scheint: „Er konnte sich nicht erinnern, als Kind ein Bewusstsein dafür gehabt zu haben, was Glücklichsein bedeutete: Er hatte nur Elend und Angst gekannt und die Abwesenheit von Elend und Angst, und Letzteres war alles, was er gebraucht oder gewollt hatte.“

Im Gegensatz zu seinen Freunden, denen er sich nie öffnen wird, erfährt der Leser Stück für Stück von Judes unvorstellbaren Kindheits- und Jugendqualen. Die große Erzählkunst der 1974 in Los Angeles geborenen Autorin hawaiianischer Abstammung Hanya Yanagihara liegt darin, dass ich mir beim Lesen dieser bruchstückhaften Erinnerungen nicht wie eine Voyeurin vorgekommen bin, und dass die geschilderten Erlebnisse für den Leser überhaupt zu ertragen sind.

Diesen durch und durch entsetzlichen Jahren stellt die Autorin Judes Leben ab seinem Eintritt ins College gegenüber: vier Jahrzehnte geprägt von einem fast schon sensationellen beruflichen und materiellen Aufstieg, von der tiefen Freundschaft zu seinen Collegekollegen, seinem Glück mit seinem Arzt Andy, der immer für ihn da ist, der Adoption durch seinen ehemaligen Professor Harold und dessen Frau Julia und schließlich seine zum platonischen Liebesverhältnis gewordene Beziehung zu seinem Freund Willem. Müsste eine solche Menge glücklicher Fügungen nicht ausreichen, um eine tief verletzte Seele zu heilen? Nein, sagt der Roman, denn Jude kann trotz aller Anstrengungen nie lernen zu vertrauen, er „rechnet ständig damit, getäuscht zu werden“. Er wird als „Form der Bestrafung und Reinigung“ immer zum Instrument der Selbstverletzung greifen, „um sein Leben unter Kontrolle zu behalten“, wird sich weigern, einen Psychotherapeuten aufzusuchen und sich immer fragen: „Wenn er eines Tages auf magische Weise geheilt wäre und so frei von jeder Befangenheit gehen könnte wie Willem oder JB, wenn er sich in seinem Stuhl zurücklehnen und frei von Angst sein T-Shirt über seine Hüfte hinaufrutschen lassen könnte und seine Arme so glatt wie Zuckerguss wären wie Malcolms, was wäre er dann noch für Andy? Was wäre er für die anderen? Würden sie ihn weniger mögen? Mehr? Wie viel von dem, was ihn ausmachte, war mit dem verschränkt, was er nicht tun konnte? Wer wäre er ohne die Narben, Schnitte, die Schmerzen, die Wunden, die Knochenbrüche, die Infektionen, die Schienen und die Ausflüsse?“ Nicht nur den Leser, auch die Menschen, die ihn lieben, bringt Jude mit seinem Verhalten immer wieder an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit, und doch halten alle ihm die Treue.

Obwohl der Roman permanent auf ein schlechtes Ende hinsteuert und man früh erahnt, wie er ausgehen wird, hat mich die Autorin doch einige Male sehr überrascht. Ich habe ihr Buch verschlungen, habe gelitten, manchmal gehofft und sogar geweint. Lediglich den Satz „Es tut mir leid“ konnte ich irgendwann nicht mehr lesen, die permanente Wiederholung hat mich fast in den Wahnsinn getrieben, ohne dass ich einen tieferen Sinn darin erkennen konnte.

Einmal gelesen, wird dieser Roman unvergesslich für mich bleiben. Wenn das Wort „herzzerreißend“, das Harold einmal gebraucht, irgendwo angebracht ist, dann hier. Doch nicht nur der Autorin gebührt Anerkennung, auch der Übersetzer Stephan Kleiner hat vorzügliche Arbeit geleistet und der Hanser Berlin Verlag hat das Buch nahezu ohne Fehler gedruckt – eine Sorgfalt, die ich ausgesprochen schätze. Und auch das Cover passt im Nachhinein hervorragend zum Buch, wobei es nach der Lektüre für mich nicht mehr nur Schmerz, sondern auch Ekstase zeigt.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Hanser Berlin 2017
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Rebecca Hunt: Everland

„Hauptsache, es geht gut aus, alles andere ist nicht wichtig“

Zwei Feldforschungsexpeditionen in die Antarktis stehen im Mittelpunkt des zweiten Romans der 1979 geborenen Britin Rebecca Hunt. Ging es in ihrem Debüt Mr. Chartwell um Winston Churchill und dessen Depressionen in Gestalt eines schwarzen Hundes, so sind in ihrem 2017 auf Deutsch im Verlag Luchterhand mit einem bestechend schönen Cover erschienen Roman Everland menschliche Beziehungen im Angesicht existenzieller Bedrohungen und der Umgang mit der Wahrheit ihr Thema. Abwechselnd und in kurzen Kapiteln erzählt Rebecca Hunt von den einzigen beiden Expeditionen zur fünf Quadratmeilen großen, fiktiven Antarktisinsel Everland, durchgeführt 1913 und zum hundertjährigen Jubiläum 2012.

Im März 1913 bricht vom britischen Dreimaster Kismet aus ein dreiköpfiges Team zur Erforschung der Insel auf: Napps, der erste Offizier und Leiter der Expedition, der erfahrene Matrose Millet-Bass und der vom Kapitän zur allgemeinen Überraschung und Missbilligung ausgewählte Dinners, ein völlig unerfahrener und schwächlicher Wissenschaftler. Nach zwei Wochen soll die Kismet sie wieder abholen, doch steht die Unternehmung von Beginn an unter keinem guten Stern, denn Stürme, Eis und die erforderliche Reparatur der Kismet werfen alle Pläne über den Haufen. Was sich auf der Insel tatsächlich abspielte, meint die Nachwelt aus dem Tagebuch des Kismet-Kapitäns zu wissen und das Drama wurde sogar aufwühlend verfilmt mit einer klaren Einteilung des Teams in Gut und Böse, die sich hauptsächlich auf Napps Aussage in einem Brief an seine Frau stützt: „Es gibt nichts, was ich nicht tun würde, um zurückzukehren, nichts, womit ich nicht leben könnte, wenn es mich nur nach Hause bringt.“

100 Jahre später, im November/Dezember 2012, ist wieder ein Dreierteam unterwegs mit der Aufgabe, die Pinguin- und Robbenpopulation sowie den Gletscher zu untersuchen. Decker, erfahrener Biologe und Leiter der Expedition, die tüchtige Feldassistentin Jess und die vollkommen unerfahrene Wissenschaftlerin Brix. Eine ähnliche Konstellation? Immerhin ist die technische Ausrüstung ungleich besser, es steht nicht der arktische Winter, sondern der Sommer vor der Tür und es besteht ein ständiger Funkkontakt zum Basislager Aegeus. Und doch bleiben die Naturgewalten unberechenbar.

Die wahren Hintergründe der Katastrophe von 1913, die Rebecca Hunt nach und nach enthüllt, waren für mich spannender als die neue Geschichte, auch wenn die zwischenmenschlichen Reibereien aufgrund der Tatsache, dass alles sich nach dem schwächsten Glied der Kette zu richten hat, in beiden Teams interessant waren. Die Frage, ob es sich lohnt, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um das eines anderen Menschen zu retten, ist 1913 genauso aktuell wie 2012 und wirkt vor der imponierenden Kulisse des ewigen Eises umso eindringlicher. Bedauert habe ich lediglich die Tatsache, dass es mir kaum gelang, eine empathische Beziehung zu den Protagonisten aufzubauen.

Rebecca Hunt: Everland. Luchterhand 2017
www.randomhouse.de

Ilse Bintig & Anke Dammann: Die schönsten Elfenmärchen der Brüder Grimm

Eine sehr empfehlenswerte Klassiker-Ausgabe für fortgeschrittene Erstleser

Bei Elfen habe ich bisher eher an Island gedacht, aber es gibt sie offensichtlich auch in Irland. Die Gebrüder Grimm haben die irischen Elfenmärchen, die Thomas Corfton Croker niedergeschrieben und 1825 unter dem Titel Fairy Legends and Traditions of the South of Ireland erstmals veröffentlicht hat, ins Deutsche übertragen. In der Erstlesereihe Der Bücherbär aus dem Arena Verlag wurden fünf von ihnen für Zweit- und Drittklässler bearbeitet, altersgerecht nacherzählt und in Fibelschrift gedruckt.

Folgende Märchen umfasst die Sammlung:

  • „Die geheimnisvolle Flasche“, in dem Elfen einem armen Pächter aus der Not helfen und den gierigen Gutsherrn bestrafen.
  • „Der Ritt auf dem Kälbchen“ über erzürnte Elfen, die nachts keine Kuhhirten auf ihrer Wiese dulden.
  • „Die verwandelten Elfen“ mit dem alten Bauern, der fest an ihre Existenz glaubt und darüber mit zwei Schülern in Streit gerät.
  • „Fingerhütchen“, in dem die Elfen einen freundlichen und hilfsbereiten jungen Mann von seinem Buckel befreien und einen rücksichtslosen, herrischen Buckligen mit einem zweiten Buckel strafen.
  • „Das Mädchen und die Spinnerin“ über die schöne Finnja, die nicht spinnen kann, und der die Elfen dazu verhelfen, dass sie es nie wieder versuchen muss.

Sowohl die Handlungen der Märchen, die alle viel Gesprächsstoff bieten, als auch die kindgerechte Auswahl und Bearbeitung von Ilse Bintig und die reichhaltige, eher traditionelle Illustration von Anke Dammann haben mir sehr gut gefallen. Eine sehr empfehlenswerte Klassiker-Bearbeitung für fortgeschrittene Erstleser oder zum Vorlesen ab fünf Jahren und für mich eine Anregung, die Märchen demnächst einmal in der deutschen Originalausgabe der Gebrüder Grimm zu lesen.

Ilse Binig & Anke Dammann: Die schönsten Elfenmärchen der Brüder Grimm. Arena 2011
www.arena-verlag.de

Henning Mankell: Der Sandmaler

Mankells erster Afrika-Roman

Das Thema dieses kleinen Romans ist auch über 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen noch topaktuell. Die Flüchtlinge aus Afrika führen uns Tag für Tag die anhaltenden Folgen von Kolonialismus und Ausbeutung vor Augen. Dass Henning Mankell dies bereits bei seiner ersten Afrikareise im Jahr 1972 im Alter von 24 Jahren erkannte und auf diese Weise thematisierte, ist sicherlich ein Verdienst. Es war sein zweiter Roman, lange vor den Wallander-Krimis und den großen Afrika-Büchern wie Der Chronist der Winde und Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt geschrieben, und zu Mankells Lebzeiten (1948 – 2015) wurde er nicht ins Deutsche übersetzt. Ich bin mir nicht sicher, ob er diese nachträgliche Veröffentlichung gewollt hätte, zu groß ist der Unterschied zu seinen späteren Romanen.

Zwei junge Schweden stehen im Mittelpunkt der Geschichte: Stefan und Elisabeth. Beide haben gerade Abitur gemacht, hatten während der Schulzeit eine kurze Beziehung, aber während Stefans Zukunft als Sohn reicher Eltern vorgezeichnet ist und sein Weltbild bereits zementiert scheint, ist Elisabeth auf der Suche nach ihrer Bestimmung und offen für neue Eindrücke. So ist auch ihre Motivation für eine 14-tägige Afrikareise, bei der sie sich im Herbst 1972 im Flugzeug zufällig wiederbegegnen, eine ganz unterschiedliche: Stefan möchte Meer, Wärme, schnellen Sex mit Afrikanerinnen und reichlich Alkohol, Elisabeth dagegen will durch diese mutige Reise zu sich selber finden, Neues kennenlernen und Sicherheit gewinnen. Für beide werden sich die Erwartungen schließlich erfüllen: Stefan sieht seine Vorurteile über die Einheimischen auf ganzer Linie bestätigt und lebt seinen blasierten, besserwisserischen Rassismus voll aus, Elisabeth öffnet sich für die Probleme des Landes, kann dank dieser Offenheit auch hinter die Kulissen blicken und kehrt erwachsener zurück.

Viele der politischen und gesellschaftskritischen Themen späterer Romane sind in diesem frühen Werk Henning Mankells bereits erkennbar, allerdings plumper, mit leider wenig differenzierten Charakteren und sprachlich sehr einfach. Schade auch, dass so wenig vom Flair Afrikas zu spüren ist, und dass immer nur ganz pauschal von Afrika die Rede ist, nicht von einem bestimmten Land. Zu deutlich merkt man dem Autor sein Engagement in der schwedischen 68er-Bewegung und seine gute Absicht, Missstände aufzugreifen, an, alles Dinge, die er in späteren Romanen so unvergleichlich besser, obwohl nicht weniger kritisch, beherrschte.

Als ausgesprochener Mankell-Fan bereue ich die Lektüre dieses Frühwerks definitiv nicht und werde ganz bestimmt auch weitere Neuerscheinungen lesen, egal aus welcher Schaffensperiode. Es ist durchaus interessant zu sehen, wie ein Autor zu dem wurde, was er schließlich war, auch wenn, wie in diesem Fall, der Weg dorthin ein wenig steinig war. Wer allerdings noch kein Buch von Henning Mankell gelesen hat, dem würde ich dieses nicht als Einstieg empfehlen.

Henning Mankell: Der Sandmaler. Zsolnay 2017
www.hanser-literaturverlage.de

Isabel Allende: Der japanische Liebhaber

„Das Herz ist groß, man kann mehr als einen Menschen lieben.“

Natürlich habe ich sie gelesen, die vernichtenden Kritiken über Isabel Allendes 2015 erschienenen Roman Der japanische Liebhaber. So schrieb Oliver Jungen am 17.09.2015 in der FAZ von „Groschenromanödnis und völkerpsychologischer Nonchalence“, warf Allende „Verpilcherung“ vor, ein „Vorabend-Soap“-Niveau und eine „lustlos ausgedachte Romanhandlung“, die zudem „zu wenig überraschend“ sei. Ralph Hammerthaler bezeichnete das jüngste Werk Allendes am 27.10.2015 in der Süddeutschen Zeitung als „gnadenlos heruntererzählte Trivialliteratur“ und ernannte die Autorin zur „Königin des Kitsches“.

Keines dieser Urteile kann ich nach der Lektüre nachvollziehen, obwohl ich weder Trivialliteratur noch Vorabend-Soaps schätze oder gar einen Hang zum Kitsch habe. Im Gegenteil ist dieser Roman der von mir seit ihrem Debüt Das Geisterhaus von 1982 sehr geschätzten Autorin nach einigen zwar sehr gut gemachten, aber inhaltlich weniger fesselnden Titeln wieder ein Highlight für mich, flüssig und mit großer Stilsicherheit erzählt, anrührend und mit mehrdimensionalen Charakteren, persönliches Schicksal und historische Hintergründe verbindend und voller überraschender Wendungen. Die meisten Autoren wären wahrscheinlich angesichts der Anzahl der aufgegriffenen Themen überfordert gewesen, nicht so jedoch Isabel Allende, die alles mit meisterhafter Leichtigkeit verbindet, so dass es nie zu einer erzählerischen „Abarbeitung“ wird.

Alma Belasco und Irina Bazili lernen sich 2010 in Lark House kennen, einer gehobenen Seniorenresidenz in Kalifornien. Beiden ist gemeinsam, dass sie mit sieben Jahren ihre Heimat verlassen mussten. Alma schickten die Eltern Mendel 1939 aus Polen zu Onkel und Tante nach San Franzisco, Irina kam vor einigen Jahren aus Moldawien zu ihrer Mutter in die USA. Doch während Alma zwar den Verlust ihrer Familie ertragen musste, aber bei Onkel und Tante nicht nur in materiell gesicherte Verhältnisse, sondern auch in eine Familie voller Herzenswärme kam, erlebte Irina bei Mutter und Stiefvater eine Hölle, der sie seither durch ständige Ortswechsel zu entkommen sucht. Bei Alma, die Irina für einige Stunden pro Wochen als Hilfe beschäftigt, findet die junge Frau zum ersten Mal eine Art Ruhe, kann aber der beharrlichen Werbung von Almas Lieblingsenkel Seth nicht nachgeben. Gemeinsam versuchen die Irina und Seth jedoch, Almas Geheimnis auf die Spur zu kommen. Warum ist sie 2010 mit 78 Jahren so überstürzt nach Lark House gezogen, welche Rolle spielten ihre Freunde aus Kindertagen, der Cousin Nathaniel Belasco und Ichimei Fukada, der Sohn des japanischen Gärtners, in ihrem Leben, wer schickt ihr regelmäßig Briefe und Blumen und wohin verschwindet sie immer wieder für einige Tage?

Isabel Allende erzählt die dramatischen Lebensgeschichten von Alma, aber auch von Irina, den Mendels, den Belascos und den Fukudas so flüssig und spannend, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen konnte und immer wieder überrascht wurde. Alle Facetten von Liebe und Freundschaft werden ausgeleuchtet, emotional, aber nicht melodramatisch und hin und wieder mit der für Isabel Allende so typischen Ironie. Besonders gut gefallen hat mir außerdem der Teil über die Geschichte der japanischen Einwanderer in die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um die es auch in den tollen Büchern Wovon wir träumten von Julie Otsaka, Keiko von Jamie Ford und Schnee, der auf Zedern fällt von David Guterson geht.

Isabel Allende: Der japanische Liebhaber. Suhrkamp 2015
www.suhrkamp.de

Boris Akunin: Fandorin

Ermittlungen im Zarenreich

Am 13.05.1876 erschießt sich im Moskauer Alexandergarten vor den Augen der entsetzten Spaziergänger der 23-jährige Jurastudent und Alleinerbe eines Millionenvermögens Pjotr Alexandrowitsch Kokorin. Dass dies nicht, wie die Moskauer Neueste Nachrichten berichten, „ein bedauerlicher Vorfall, der vom herrschenden Zynismus unter der heutigen Jugend Zeugnis ablegt“ ist, davon ist der Neuling im Kriminalkommissariat, der 20-jährige Erast Petrowitsch Fandorin, Kollegienregistrator im 14. Beamtenrang, sofort überzeugt. Obwohl sein altgedienter, bequemer Vorgesetzter Xaveri Gruschin diese Meinung keineswegs teilt, erhält der ebenso naive wie eifrige Fandorin die Erlaubnis für weitere Nachforschungen und stürzt sich Hals über Kopf in diese Aufgabe. Sosehr er aber ein Geheimnis hinter dieser vermeintlichen Selbsttötung wittert, sowenig hätte er sich zu Beginn ausmalen können, welchen Umfang seine Ermittlungen schließlich annehmen würden, wie oft er sich gleich einer Katze mit sieben Leben in letzter Sekunde würde retten müssen und welch weltumspannender Verschwörung er mit Hilfe seines innovativen neuen Vorgesetzten schließlich auf die Spur kommt…

Das schüchterne, tollpatschige und ehrgeizige Stehaufmännchen Fandorin ist mir aufgrund dieser Eigenschaften und der ironisch-distanzierten Perspektive des Autors Boris Akunin schnell ans Herz gewachsen. Der erste Band der Reihe ist eine temporeiche Geschichte voller unerwarteter Wendungen, bei der man nie weiß, wer auf welcher Seite steht. Dass die Logik dabei das ein oder andere Mal auf der Strecke bleibt, ist schade, hat mich aber nicht übermäßig gestört. Dafür hat mir die Sprache, die der Handlungszeit angepasst ist, Spaß gemacht, ebenso wie die ironischen Anspielungen auf den Beamtenapparat des Zarenreichs. Mit Grigori Tschchartischwili, Moskauer Philologe, Kritiker, Essayist und Übersetzer aus dem Japanischen, schreibt ein Autor unter dem Pseudonym Boris Akunin diese historischen Krimis, dem man nicht nur seine Belesenheit, sondern auch seine Freude am Schreiben deutlich anmerkt. Das vorliegende Buch erschien im Original 1998, auf Deutsch erstmals 2001, und machte Akunin nicht nur in Russland äußerst populär.

Mir ist Fandorin durch einen glücklichen Zufall im Urlaub in die Hände gefallen. Mehr noch denn als Krimi hat es mir als Porträt der russischen Gesellschaft in der Endphase des Zarenreichs gefallen, und wenn der Aufbau Verlag es als Roman bezeichnet, soll wahrscheinlich genau dieser Aspekt hervorgehoben werden.

Boris Akunin: Fandorin. Aufbau 2003
www.aufbau-verlag.de