Mary Basson: Die Malerin

Eine begabte Frau im Schatten großer Künstler

Wer mehr über das Leben, aber auch die Kunst der expressionistischen Malerin Gabriele Münter (1877 – 1962) erfahren möchte, ist mit dem biografischen Roman Die Malerin von Mary Basson gut bedient. Die Autorin, die im Milwaukee Art Museum mit der größte Münter-Sammlung Nordamerikas arbeitet, spürt dem Leben der Künstlerin von 1902 bis 1957 streng chronologisch nach. Dazwischen sind Bildbeschreibungen eingestreut, zwar ohne die Werke abzudrucken, aber diese lassen sich leicht im Internet auf der Homepage des Milwaukee Art Museum oder des Lenbachhauses München finden. Ich habe sie zum besseren Verständnis ausgedruckt und in mein Buch gelegt.

Gabriele Münter, genannt Ella, strebte zu einer Zeit eine Künstlerinnenkarriere an, als Frauen an den etablierten großen Kunstakademien noch nicht akzeptiert wurden. Mit ihrem Erbe ging sie 1901 zum Studium nach München an die Malschule des Künstler-Vereins, später in die neue Malschule „Phalanx“, wo Wassily Kandinsky, damals bereits ein namhafter Künstler, ihr Lehrer wurde. Obwohl Kandinsky verheiratet war, wurden sie ein Paar, ein Skandal vor allem für Gabriele Münter, denn dem bekannten Maler wurde ein Leben jenseits der Konventionen eher verziehen. Gabriele Münter litt unter dem Leben jenseits der Gesellschaft, das sie zunächst auf Reisen, dann in dem von ihr in Murnau gekauften Haus, von den Dorfbewohnern als „Russenhaus“ tituliert, mit ihm führte. Auch nach seiner Scheidung 1911 schob er die Eheschließung immer wieder hinaus. Als er Deutschland 1914 verlassen musste, heiratete er 1917 in Russland eine andere, ein Umstand, von dem Gabriele Münter erst 1921 erfuhr, und der sie in eine jahrelange psychische Krankheit stürzte. 1927 lernte sie ihren zweiten Lebensgefährten, den Gelehrten und Kunstkritiker Johannes Eichner kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1958 in Murnau zusammenlebte.

Besonders interessant beschreibt Mary Basson die Zeit des Nationalsozialismus, als Gabriele Münter die Bilder der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“, inzwischen als entartete Kunst verboten, aus einem Münchner Depot nach Murnau holte und dort unter Lebensgefahr versteckte, u. a. Bilder von Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc und eigene. Viel Überwindung muss sie das gekostet haben, denn wenn man der Autorin glaubt, kam Gabriele Münter nie über die Demütigung durch Kandinsky hinweg. Die geretteten Bilder stiftete sie 1957 dem Lenbachhaus in München.

Ich muss zugeben, dass ich nach den ersten Seiten eine allzu leichte Lektüre befürchtet habe, doch diese Angst hat sich zum Glück nicht bestätigt. Nach dem für mich etwas holprigen Einstieg hat mich der Roman immer mehr gefesselt und ich bin überzeugt, einen sehr guten Eindruck von der Person Gabriele Münter – als Künstlerin wie als Mensch – erhalten zu haben. Gut gefallen hat mir, dass Mary Basson die Malerin nicht idealisiert, sondern mit ihren durchaus vorhandenen Schwächen porträtiert. Vermisst habe ich dagegen ein Vor- oder Nachwort, in dem die Autorin über ihre Recherchearbeit berichtet und ihre Quellen benennt. Zu gerne hätte ich erfahren, wo sie sich im Rahmen des Romans erlaubte künstlerische Freiheiten genommen hat und ob zum Beispiel die Briefe und Tagebucheinträge authentisch oder erdacht sind. Davon abgesehen kann ich das unterhaltsame Buch aber allen empfehlen, die sich für Kunst oder für bewegende Frauenschicksale interessieren.

Mary Basson: Die Malerin. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de

Michael Bond & Catherine Rayner: Hier kommt Olga da Polga

Ein Vorlesebuch der Extraklasse

Als der britische Kinderbuchautor Michael Bond am 27. Juni 2017 im Alter von 91 Jahren starb, wurde er in allen Nachrufen als Schöpfer von Paddington Bär gefeiert. In unserer Familie war dagegen immer eine andere Figur Bonds prägend, die er ab 1971 schuf: die Meerschweindame Olga da Polga. Wir waren daher sehr glücklich, als der Verlag Thienemann die Geschichten dieses abenteuerlustigen, fantasievollen, mutigen und liebenswerten Tieres im Jahr 2015 als wunderschön gestalteten, fadengehefteten Hardcover-Band wieder aufgelegt hat, versehen mit herausragenden Illustrationen von Catherine Rayner, die nicht nur das Aussehen, sondern auch die Seele und den Charakter der Tiere wiederzugeben versteht.

Und so stellt Michael Bond seine Protagonistin zu Beginn des Romans vor: „Von Anfang an gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass Olga da Polga ein Meerschweinchen war, das es einmal weit bringen würde. Sie war charmant, trug ihr Barthaar auf eine ganz besondere Art, hatte einen sorglos-unbekümmerten Wirbel in den Rosetten ihres braunweißen Fells und einen Glanz in den Augen, der sie von allen anderen Meerschweinchen unterschied.“

Der Besitzer der Zoohandlung ist nicht gerade traurig, als Olga, die immer für Unruhe im Stall gesorgt hat, verkauft wird. Olga, abenteuerlustig und neugierig, zieht bei Karen, Papa und Mama Sägemehl in einen Stall auf Stelzen ein, der ihrer Meinung nach einem Palast recht nahe kommt, findet im Kater Noel, im Igel Fangio, in der Schildkröte Graham und anderen Tieren gute Freunde, flunkert beim Geschichtenerzählen was das Zeug hält, streut aus Übermut gefährliche Gerüchte, erfährt bei einem Ausflug, dass die große weite Welt unter den Pfoten viel weniger schön ist als ihr Zuhause, frisst gemäß dem Motto „Ein Kleeblatt im Mund ist besser als zwei auf der Wiese“ was das Zeug hält und muss nach einem Sturz von ihrer Familie gesundgepflegt werden.

Lauter spannende Geschichten also, in denen die eigenwillige Olga erwachsenen Vorlesern wie Kindern ab fünf Jahren so ans Herz wächst, dass man anschließend garantiert auch ein Meerschweinchen haben möchte – oder besser gleich zwei, denn im Gegensatz zur Entstehungszeit des Kinderbuchs ist heute eindeutig belegt, dass diese Tiere nur zu zweit oder in Gruppen gehalten werden sollten.

Michael Bond & Catherine Rayner: Hier kommt Olga da Polga. Thienemann 2015
www.thienemann-esslinger.de/thienemann

Franz Hohler: Das Päckchen

Die Odyssee einer mittelalterlichen Handschrift

Wieder einmal lässt Franz Hohler, 1943 geboren und inzwischen einer der bedeutendsten Schweizer Autoren, diesen Roman an einem Bahnhof beginnen, dem Berner Hauptbahnhof. Dort entscheidet sich der Bibliothekar der Züricher Zentralbibliothek, Ernst Stricker, der eigentlich weder zu spontanen Handlungen noch gar zu Abenteuern neigt, den klingelnden öffentlichen Fernsprecher abzunehmen. Auf den Hilferuf einer nahezu blinden alten Frau hin, die ihn mit ihrem Neffen verwechselt, eilt er zu ihr in die Gerechtigkeitsgasse und nimmt ein Päckchen ihres 1980 in den Bergen verschollenen Mannes entgegen, das sie in Sicherheit wissen möchte. Es ist, wie Ernst sofort vermutet hat, ein Buch, aber zu seinem maßlosen Erstaunen nicht irgendeines, sondern eine unschätzbar kostbare mittelalterliche Handschrift aus Pergament, der Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, das älteste Buch in deutscher Sprache, von dem sonst nur drei Abschriften in Bibliotheken in Karlsruhe, Paris und St. Gallen existieren. Handelt es sich um eine weitere Abschrift oder gar um das Original?

Das Hören dieses Romans hat mir aus verschiedensten Gründen großes Vergnügen bereitet, auch wenn die immer wieder eingebauten Zufälle fast schon überirdischer Natur zu sein scheinen. Zum einen hat es mich fasziniert, die Veränderung meines Kollegen Ernst zu verfolgen, der von einer Stunde zur anderen vom biederen, grundehrlichen, fast langweiligen Musterbibliothekar zum routinierten Lügner und risikofreudigen Abenteurer wird, indem er das Missverständnis nicht aufklärt, seiner Frau Jacqueline, seinen Kollegen, der Polizei und allen Beteiligten immer neue, spontan erdachte Flunkereien serviert und unkalkulierbare Risiken eingeht. Wie selbstverständlich und nahezu ohne Gewissensbisse verstrickt Ernst sich immer tiefer in das Geschehen. Dieser Teil des Romans gleicht einem Detektivroman, daneben gewährt Hohler Einblicke in eine Ehe und in die moderne Bibliothekswelt, beides oftmals mit einem Augenzwinkern. Zum zweiten hat mir die gekonnte Verstrickung von zwei Haupt- und einer Nebenzeitebene gut gefallen. Erste Haupthandlung ist natürlich die des Ernst Stricker, nahezu gleichberechtigt jedoch ist die des jugendlichen Mönchs und Skriptors Haimo, der das Original zwischen 770 und 780 im Benediktinerkloster Weltenburg nach Vorlagen seines Abts geschrieben hat und dann von diesem über die Klöster Wessobrunn, St. Gallen und Bobbio nach Monte Cassino entsandt wurde, um die Handschrift zur Abschrift anzubieten und gleichzeitig dortige Werke zu kopieren, eine im Mittelalter übliche Form der Verbreitung von Schriften. Seine Geschichte und die seiner ungeheuerlichen Verbindung mit einer Frau, die ihn auf der Reise zu Fuß mit einem Esel begleitete, ist eine mittelalterliche Abenteuererzählung, die manchmal an Umberto Eco denken lässt. Ein weiterer, kleinerer Erzählstrang enthält eine Kriegsgeschichte aus dem Italienfeldzug der Wehrmacht, die erklärt, wie der Abrogans letztlich in die Küchenschublade der alten Frau gelangte. Last but not least hat mich als Bibliothekarin natürlich das wunderbare Happy End für die Handschrift erfreut, das ich mir nicht schöner hätte wünschen können.

Gert Heidenreich liest den Roman ungekürzt auf fünf CDs in 318 Minuten sehr professionell und unterhaltsam, nuancenreich und der jeweiligen Zeitebene angepasst, und bringt sowohl Hohlers Naturbeschreibungen als auch seinen immer wieder aufblitzenden Humor wunderbar zur Geltung.

Franz Hohler: Das Päckchen. Gelesen von Gert Heidenreich. Random House Audio 2017
www.randomhouse.de

Michel Bussi: Fremde Tochter

Spannende Unterhaltung vor atemberaubender Kulisse

Der 23. August spielt eine bedeutsame Rolle im Leben der Familie Idrissi: Am 23.08.1968 hat der Korse Paul Idrissi seine Frau Palma kennengelernt, die auf dem Campingplatz von La Revellata ihr Zelt aufgeschlagen hatte und ihn schließlich seinem Clan und der Insel entrissen und mit nach Nordfrankreich genommen hat. Genau 21 Jahre später, am 23.08.1989, verunglückt die inzwischen vierköpfige Familie beim Urlaub auf Korsika mit ihrem roten Fuego und nur die 15-jährige Tochter Clotilde überlebt. 27 Jahre später kehrt sie zurück, nun selber verheiratet und mit einer 15-jährigen Tochter, um ihre Großeltern wieder zu sehen, um ihrer Familie Korsika und die Unglücksstelle zu zeigen, und um Licht ins Dunkel des Unfalls zu bringen, was ihr schließlich am 23.08.2016 gelingt – bei einem furiosen Finale… Doch bis dahin wird der Aufenthalt für sie immer surrealer, denn sie erhält mit einem „P.“ unterzeichnete Briefe, die eigentlich nur ihre Mutter geschrieben haben kann, die ungewöhnlichen Zufälle häufen sich und jemand scheint ein Spiel mit ihr zu spielen. Während ihr Mann, der nur an Effizienz und Rationalität glaubt, versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten, taucht Clotilde immer weiter in die Geheimnisse der Vergangenheit ein und ahnt nicht, dass jemand die Aufdeckung der Wahrheit unter allen Umständen verhindern will. Hätte sie nur ihr Tagebuch aus jenem Sommer 1989 noch, dem sie damals alles über die Jugendclique auf dem Campingplatz, große Emotionen, die Konflikte mit ihrer Mutter, die Entdeckungen über ihren Vater und die Streitereien der Eltern anvertraut hat, doch das war nach dem Unfall spurlos verschwunden.

Eigentlich lese ich eher selten leichte Unterhaltungsromane, aber wenn ich das Bedürfnis danach habe, hat mich der französische Bestsellerautor und Professor für Politologie und Geografie an der Universität Rouen Michel Bussi bisher noch nie enttäuscht. In diesem Fall hat mich die Geschichte über die reine Spannung der Handlung auch deshalb gefesselt, weil sie an einem Ort spielt, den ich aus mehreren Urlauben gut kenne: die Umgebung von Calvi auf Korsika. Die detaillierte Beschreibung der Region und besonders der Menschen mit ihrem Lebensmotto „Respekt, Ehre und Tradition“ hat mir sehr gut gefallen und Erinnerungen geweckt. Wie schon bei Das Mädchen mit den blauen Augen konnte ich mir bis kurz vor dem Ende absolut keine Auflösung vorstellen, so wenig haben die Umstände zusammengepasst, und doch gab es sie. Die Kombination von zwei Zeitebenen, der Zeit von 2016 in erzählter Form und der Zeit von 1989 kurz vor dem Unfall als Auszüge aus Clotildes Tagebuch, ist gut gewählt und hat die Dramatik noch verstärkt, da man nicht weiß, wer da in diesem verschwundenen Heft liest und es bisweilen kommentiert.

Mich hat der Roman über stark 500 Seiten gut unterhalten und ich habe gerne beim ein oder anderen Zufall ein Auge zugedrückt. Schließlich habe ich es immer geahnt: Korsika ist nicht nur die Île de la Beauté, dort können sich auch Dinge zutragen, die man anderswo nicht für möglich halten würde…

Michel Bussi: Fremde Tochter. Rütten & Loening 2017
www.aufbau-verlag.de

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken

Gedanken-Rodeo in einer Spirale

Bestechend an diesem Roman ist zunächst das Äußere. Der Hanser Verlag hat mit dem auffällig gestalteten Wendecover, schöner als das der Originalausgabe, dessen Motiv sich während der Lektüre erschließt, dem orange eingefärbten Schnitt, der das Buch beim ersten Lesen sanft und angenehm knistern lässt, und dem künstlerisch bedruckten Vorsetzblatt ein kleines Meisterwerk geschaffen, das man deshalb nicht als E-Book lesen sollte. Schade nur, dass die Zahl der Druckfehler verblüffend hoch ist, was vermutlich dem Zeitdruck geschuldet ist, denn die deutsche Ausgabe erschien nur einen Monat nach dem amerikanischen Original. Der Roman wird das erste Buch in einer limitierten Auflage mit Nummerierung in meinem Bücherregal sein, eine bibliophile Besonderheit.

Der US-Amerikaner John Green, der in seinen Jugendbüchern gerne schwierige Themen anpackt, hat bei seinem neuen Roman Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken aufgegriffen, was er aus eigener Erfahrung kennt: Zwangsstörungen und Panikattacken. Die 16-jährige Ich-Erzählerin Aza Holmes, ein äußerst intelligentes Mädchen, das als Kind den Vater verloren hat, leidet unter diesen psychischen Erkrankungen. Sie ist stark und mutig bei Dingen, die andere Leute nervös machen, wird aber panisch bei der Vorstellung, durch Bakterien, besonders Clostridium difficile, schwer zu erkranken. Fünf Jahre Verhaltenstherapie und drei verschiedene Medikamente haben nicht zu einer durchschlagenden Besserung geführt, es gibt lediglich bessere und schlechtere Phasen, abzulesen am Abstand zwischen ihren Therapiesitzungen. Ein Segen für sie ist ihre Freundin aus Kindertagen, die zupackende Daisy, die sich ihr Studium selbst verdienen muss und für ihre regelmäßig im Internet verfasste Fanfiction zu Star Wars lebt. Daisy kann mit Azas Symptomen umgehen, zeigt ihr aber zugleich Grenzen auf.

Nun macht die Beschreibung von Krankheitssymptomen noch keinen Roman, vor allem aber kein Jugendbuch. Deshalb hat John Green einen Vermisstenfall, zwei Liebesgeschichten, einen Fall von Kindesvernachlässigung, die Begeisterung für Star Wars, die Kritik am amerikanischen System der Studienfinanzierung sowie die Themen Trauer und Forschung an der Verlängerung des Lebens mit eingebaut. Neben all ihren psychischen Problemen ist Aza auch ein pubertierender Teenager mit den üblichen Abgrenzungsproblemen zur Mutter. Viel Stoff also für gut 280 Seiten und in meinen Augen nicht ganz so gelungen, wie der Teil über die Krankheit, aber das mag auch daran liegen, dass ich nicht zur eigentlichen Zielgruppe gehöre. Vor allem Azas Liebesgeschichte mit dem Millionärssohn Davis ist mir mit der gemeinsamen Sternenguckerei etwas zu abgedroschen ausgefallen und die Dialoge, sei es mündlich oder per Social Media, wirken aufgesetzt (oder sehr amerikanisch?), auch wenn beide durch den Verlust eines Elternteils sicher über ihr tatsächliches Alter hinaus entwickelt sind.

Ausgesprochen gut gelungen fand ich dagegen den sicher schwer zu schreibenden Schluss des Romans, der zum Glück überhaupt nicht platt ist. Ich verdanke es dem Buch, dass ich jetzt eine klarere Vorstellung davonhabe, wie und worunter Menschen mit  Zwangsneurosen leiden, und was die Gedankenspiralen sind, in die sie immer wieder haltlos fallen. Dank Daisy weiß ich aber auch, dass gute Freundschaften mit Erkrankten möglich sind, wenn alle Beteiligten ehrlich miteinander umgehen und vereinbarte Haltelinien respektieren.

Die letzten Sätze der Danksagung fassen zusammen, was ich aus der Lektüre mitnehme: „Manchmal ist es ein langer und beschwerlicher Weg, aber psychische Krankheiten sind behandelbar. Es gibt immer Hoffnung, selbst wenn einem die eigenen Gedanken vormachen, es gebe keine.“

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken. Carl Hanser 2017
www.hanser.de

Dagmar Chidolue & Gitte Spee: Millie übernachtet in der Schule

Was für eine Nacht!

Büchersterne ist die Reihe für Erstleser aus dem Oetinger Verlag, die für Lesespaß in drei Stufen sorgen soll. Der vorliegende Band Millie übernachtet in der Schule von Dagmar Chidolue gehört zur leichtesten Kategorie für die erste Klasse, ist in sehr großer Fibelschrift und im Flattersatz mit sehr kurzen Zeilen gedruckt, hat kurze Leseabschnitte, ist in sechs Kapitel unterteilt mit textunterstützenden und sehr klaren Illustrationen von Gitte Spee und bietet auf 12 Doppelseiten am Ende viele abwechslungsreiche Rätselangebote mit Lösungen.

Nach zwei Wochen Beschäftigung mit dem Thema Weltraum im Unterricht darf Millies Klasse zusammen mit der Lehrerin in der Turnhalle übernachten, Sterne-Gucken inklusive. Und was alles in dieser einen Nacht passiert, bis endlich alle schlafen!

Ich war sehr erstaunt und positiv überrascht, wieviel Handlung und Gefühle die Autorin Dagmar Chidolue trotz der geringen Wörterzahl in der Geschichte unterbringt. Wenn die kleinen Erstleserinnen und eventuell auch Erstleser dieses Buch am Ende der ersten Klasse bewältigen können, werden sie eine ganze Menge erleben!

Dagmar Chidolue & Gitte Spee: Millie übernachtet in der Schule. Oetinger 2017
www.oetinger.de

John B. Keane: Whiskey für den Weihnachtsmann

Irische Weihnachtsgeschichten

John B. Keane (1928 – 2002) gehört zu den beliebtesten Dramatikern Irlands. Er war Bühnenschriftsteller, Dichter, Romanautor und verfasste humorvolle Kurzgeschichten, wobei ihn zu letzteren bestimmt Erlebnisse im Familien-Pub in der ländlich-irischen Grafschaft Kerry inspirierten, den er zusammen mit seiner Frau führte.

Drei seiner Weihnachtsgeschichten  liest Otto Sander in gekürzter Form auf der 68 Minuten dauernden CD Whiskey für den Weihnachtsmann, einer Co-Produktion von Radio Bremen und Der Audio Verlag aus dem Jahr 2005. Da geht es in „Lang, lang ist’s her“ um eine alte Frau, die an Weihnachten immer vergeblich auf Post ihres nichtsnutzigen Sohnes wartet, bis der mitleidige Briefträger helfend eingreift, in „Apfelwein“ um einen jugendlichen Sünder, der am heiligen Abend anstatt zur Messe in den Pub geht und mit der furchtbaren Vision der irischen Todesfee bestraft wird, und in der titelgebenden Erzählung „Whiskey für den Weihnachtsmann“ um einen arbeitslosen Schauspieler, der vom Pfarrer als Weihnachtsmanndarsteller engagiert wird und in der Rolle seines Lebens ein wahres Weihnachtswunder vollbringt.

Obwohl die erste und die letzte Geschichte nicht wirklich überraschen, machen die Erzählweise und die schöne Sprache einfach Spaß beim Zuhören. Besonders gelungen finde ich die Charaktere der Protagonisten, die in all ihrer Unvollkommenheit doch stets wohlwollend gezeichnet sind und ans Herz wachsen. Dabei wird es nie weihnachtlich-kitschig, vielmehr geht es handfest und urig zu, eben typisch irisch, was der Sprecher Otto Sander (1941 – 2013) mit seiner rauchig-markanten Stimme gekonnt unterstützt. Schade fand ich nur, dass die Geschichten so vollkommen ohne Atempause aneinandergereiht sind, ein kurzer Moment der Stille oder ein paar Takte Musik haben mir beim Zuhören gefehlt.

John B. Keane: Whiskey für den Weihnachtsmann. Lesung mit Otto Sander. Der Audio Verlag 2005
www.der-audio-verlag.de

Antonin Varenne: Die Treibjagd

Alte Clanstrukturen im Massif Central

Vor acht Jahren hat Michèle Messenet ihre kleine Heimatstadt im Massif Central verlassen, um allem, was sie hasste, zu entfliehen. Nach einem Absturz in die Drogensucht und einem Gefängnisaufenthalt ist sie nun zurückgekehrt. Wegen ihres kranken Vaters? Weil sie ihren Frieden mit ihrem Geburtsort machen will? Oder vielmehr wegen ihrer Jugendliebe Rémi Parrot, der nach einem Unfall im Alter von 15 Jahren, nach zwei Jahren im Krankenhaus und 28 chirurgischen Eingriffen mit chronischen Schmerzen und einer Codeinabhängigkeit als „Monstergesicht“ lebt?

Michèle ist Teil des Familienclans der Messenets, neben den Courbiers der beherrschende Familienverband in einer Region, in der Körperkraft und Verwandtschaft die wichtigsten Merkmale sind. Die beiden Großgrundbesitzerfamilien regieren schon seit Generationen ohne Rücksicht auf die Menschen, polarisieren die Bewohner, haben die Politiker in der Hand und degradieren die Staatsmacht zu einer marginalen Größe. Befassen sich die Courbiers mit der Holzwirtschaft, so machen die Messenets ihr Geld mit Vieh. Auch die Familie von Rémi, die erst in der dritten Generation hier lebt, konnte nie Fuß fassen und eine Verbindung zwischen dem Parrot-Enkel und der Messenet-Tochter war (und ist) für Michèles Familie undenkbar. Rémi hat sein Land vor einiger Zeit an die Platzhirsche verkauft, sich in die Waldhütte Terre Noire zurückgezogen, dem letzten Stück des Parrot-Hofs, und arbeitet als Revierjäger. Die Rückkehr von Michèle und das Verschwinden seines Freundes, des Waldaufsehers und Umweltaktivisten Philippe kurz vor der jährlich stattfindenden großen Treibjagd, reißen Rémi aus seinem zurückgezogenen Leben. Eine Lawine kommt ins Rollen, plötzlich tut sich die Chance auf, die seit alters zementierte Ordnung zu überwinden…

Glaubt man dem sehr atmosphärisch gestalteten Cover, so handelt es sich bei Die Treibjagd des Franzosen Antonin Varenne um einen Roman, für mich ist es jedoch eher ein psychologischer Krimi oder Thriller. Die nicht-chronologische Erzählweise stellt in diesem Fall hohe Anforderungen an die Konzentration der Leser, zumal die Überschriften in Bezug auf die zeitliche Abfolge eher zum Rätseln einladen. Da mit den Kapiteln auch die Perspektiven wechseln und immer wieder polizeiliche Vernehmungen von Michèle und Rémi eingestreut sind, die zum Teil Ereignisse vorwegnehmen, habe ich einige Zeit gebraucht, um mich in der Geschichte zurechtzufinden. Dann allerdings habe ich die in einer düsteren, rauen und doch faszinierenden Landschaft angesiedelte Handlung um despotische Familienclans, Machtspiele, Rache, Gerechtigkeit, verletzte Seelen und nicht zuletzt Liebe mit großer Spannung verfolgt und die Puzzleteile Stück für Stück zusammengesetzt.

Ein Wort noch zur Herstellung des Taschenbuchs: Der recht enge Druck bis dicht an die Buchmitte führt dazu, dass man das Buch mit Kraft aufhalten muss, ja, es scheint sich der Lektüre förmlich zu widersetzen. Ich würde in diesem Fall eine leserfreundlichere Ausstattung bevorzugen, auch wenn der Preis dadurch etwas höher wäre.

Antonin Varenne: Die Treibjagd. Penguin 2017
www.randomhouse.de

Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen

Beobachtungen und Fakten

Der Norweger Andreas Tjernshaugen ist zwar kein studierter Ornithologe, doch wurden ihm das Interesse und die Liebe zu den Vögeln in die Wiege gelegt. Gerade die Tatsache, dass er Laie ist und dies auch betont, macht sein Sachbuch über Meisen so allgemein verständlich und gut lesbar.

Wir begleiten Andreas Tjernshaugen und seine Familie durch ein Vogeljahr, beginnend mit der jährlichen norwegischen Gartenvogelzählung im Januar/Februar, nehmen teil am Geschehen in seinem Garten in Nesudden bei Oslo mit einer missglückten und einer erfolgreichen Meisenbrut, die zweite zur Freude der Familie im neu aufgehängten „Spionagenistkasten“ mit eingebauter Kamera. Angereichert sind die eigenen Beobachtungen Tjernshaugens durch Erkenntnisse, die er aus Gesprächen mit verschiedenen Wissenschaftlern gewonnen hat, sowie mit vielen wissenswerten Fakten aus der Fachliteratur über Meisen, insbesondere Kohl- und Blaumeisen. Die Fotos und Zeichnungen sind einerseits hübsch anzusehen, andererseits illustrieren sie die Beschreibungen des Autors sehr anschaulich.

Da auch in unserem Garten nahezu in jedem Jahr Kohlmeisen brüten, konnte ich einige der Beobachtungen Tjernshaugens sehr gut nachvollziehen, anderes werde ich in den kommenden Jahren aufmerksamer verfolgen, zum Beispiel die Revierverteidigung, den Gesang und – falls ich tatsächlich einmal so früh aus dem Bett komme – das tägliche Paarungsritual während der Zeit des Eierlegens. Vieles war mir neu, so habe ich die Meisen fälschlicherweise bisher für treu und monogam gehalten, obwohl es bei Blaumeisen Vielweiberei gibt und man durch Vaterschaftstest seit den 1990er-Jahren weiß, dass einige Eier in den Nestern der Kohlmeise von fremden Vätern befruchtet wurden. Am meisten interessiert hat mich allerdings der Bericht über die „Fremdpflege“, also Kohlmeiseneier, die Blaumeisen von Wissenschaftlern untergeschoben wurden und umgekehrt, sowie das anschließend beobachtete Verhalten der im falschen Nest aufgezogenen Vögel. Weniger folgen konnte ich dem Autor dagegen in seinen Vergleichen zwischen Meisen und Menschen, auch wenn er diese Überlegungen vorsichtig anstellt, und in seinem (gescheiterten) Bemühen, die Meisen handzahm zu machen.

Andreas Tjernshaugen: Das geheime Leben der Meisen. © M. Busch

Zum Glück sind Kohl- und Blaumeisen dank ihrer sehr weiten Verbreitung und ihrer Anpassungsfähigkeit nicht vom Rückgang betroffen, wie so viele andere Vogelarten, im Gegenteil steigt ihre Verbreitung und Zahl.

Im Anhang gibt Andreas Tjernshaugen Tipps zur Fütterung (darf auch ganzjährig erfolgen), zu Nistkästen samt Bauanleitung, zur Vogelbeobachtung und zum Erkennen von Vogelstimmen.

Alles in allem ist Das verborgene Leben der Meisen ein anregendes Sachbuch, unterhaltsam und informativ, und mit dem rustikalen Pappeinband in einer sehr passenden Ausstattung.

Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen. Insel 2017
www.suhrkamp.de

Manfred Mai: Adventsgeschichten

Wann ist endlich Weihnachten?

Warum nur vergeht die Zeit beim Warten auf das Christkind so langsam, jedenfalls aus Kindersicht? Eine Möglichkeit, sich im Advent die Zeit zu vertreiben, sind die netten Adventsgeschichten von Manfred Mai aus der Reihe Leselöwen für fortgeschrittene Erstleser und -leserinnen, die leider nur noch antiquarisch erhältlich sind. Sie sind nicht spektakulär, aber unterhaltsam, und greifen Alltagssituationen aus der Vorweihnachtszeit auf, die sich in jeder Familie so abspielen könnten.

Die sechs unabhängig zu lesenden Geschichten erzählen von Petras und Sarahs Fragen zur Bedeutung des Advents, von einem Nikolaus mit viel zu kleinen Stiefeln und zu kleiner Nase, der bei Patrick erste Zweifel sät, vom neugierigen Michael, der die Bescherung nicht abwarten kann, einem ungewöhnlichen Weihnachtsbaumeinkauf, von Jan, Christina und Thorsten, die Mitleid mit dem Briefträger haben, der selbst nie ein Päckchen bekommt, und vom zerstreuten Onkel Eduard, der sogar Weihnachten vergisst. Mir hat die Geschichte über den ungeduldigen Michael am besten gefallen, weil die Leser hier selbst für ein Happy End sorgen müssen.

Die Adventsgeschichten können dank großer Schrift, kurzer Sätze, Flattersatz und überschaubarer Seitenzahl pro Erzählung ab Ende der zweiten Klasse bewältigt werden. Die sehr hübschen, bunten, gar nicht kitschigen Illustrationen dazu stammen vom Niederländer Alex de Wolf und passen sehr gut zum Text.

Manfred Mai: Adventsgeschichten. Loewe 2004
www.loewe-verlag.de