Beatrice Salvioni: Malnata

  Ein Unterhaltungsroman in Schwarz und Weiß

 

Italien präsentiert sich im Oktober 2024 als Gastland der Frankfurter Buchmesse, weshalb nun verstärkt Bücher aus diesem Land auf Deutsch erscheinen. Malnata, der Debütroman der 1995 geborenen Beatrice Salvioni, erhielt in Italien große Aufmerksamkeit, wurde in viele Ländern verkauft, darunter Japan, die USA und Deutschland, wird als Fernsehserie verfilmt und soll fortgesetzt werden.

Ein furioser Beginn
Mit einem Paukenschlag eröffnet Beatrice Salvioni den Roman: In Monza, einer lombardischen Kleinstadt 20 Kilometer nordöstlich von Mailand, liegt am Ufer des Lambro ein toter junger Mann im Schlamm, darunter die zunächst namenlose 12-jährige Ich-Erzählerin, blutverschmiert und mit zerrissener Unterhose. Ein weiteres Mädchen, Maddalena, übernimmt beim Verstecken der Leiche das Kommando und schließt dem jungen Faschisten, der die Anstecknadel mit Trikolore und Rutenbündel am Revers trägt, die Augen. Es ist das Jahr 1936, Benito Mussolini (1883 – 1945) regiert seit 1922, seit Oktober 1935 führt das faschistische Italien einen völkerrechtswidrigen kolonialen Eroberungskrieg gegen das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien.

Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin

Eine Freundschaft über Gesellschaftsgrenzen hinweg
Kein Jahr vor der dramatischen Szene am Lambro hatte die Freundschaft der beiden ungleichen Mädchen begonnen. Die Ich-Erzählerin Francesca ist das einzige Kind eines durch die amerikanische Bankenkrise gebeutelten Hutfabrikanten aus der Mittelschicht, einem politischen Mitläufer aus wirtschaftlichem Interesse, und einer vom Leben enttäuschten Mutter, die gute Manieren über Bildung und Schein über Sein stellt. Ihre Warnung vor „Gesindel“ wie Maddalena schreckt Francesca nicht. Sie fühlt sich magisch angezogen vom rebellischen, scheinbar angstfreien und respektlosen Verhalten des um ein Jahr älteren Mädchens aus der Arbeiter-Vorstadt, das Unglück bringen soll und daher nur Malnata, „die Unheilbringende“, genannt wird. Sehnsuchtsvoll beobachtet Francesca Maddalena und deren beiden Freunde, einen Faschisten- und einen Kommunistensohn, bei ihren wilden, unkonventionellen Spielen:

Ich beobachtete ihre Welt vom Rand aus. Und ich konnte es kaum erwarten, mich ganz hineinfallen zu lassen. (S. 62)

Gegen alle Widerstände wird Francesca Maddalenas Freundin, stiehlt sich trickreich aus der strengen häuslichen Enge, begünstigt durch die Unaufmerksamkeit der mit sich selbst beschäftigten Eltern. Im Zusammensein mit Maddalena und deren Familie beginnt sie, die Scheinheiligkeit ihrer eigenen Welt zu begreifen, religiöse Heuchelei, patriarchale Strukturen und politische Verlogenheit.

Fehlende Grautöne
Das mitreißende erste Kapitel und der historische Hintergrund haben mich zunächst sehr für den Roman eingenommen. Ein wenig fühlte ich mich an Elena Ferrante und Meine geniale Freundin erinnert, doch bleibt Malnata mit seinen größtenteils statischen Charakteren ohne Grautöne leider wesentlich oberflächlicher, zu eindeutig verortet die Autorin ihre Figuren im Spektrum von Gut und Böse. Verlässt eine Figur trotzdem ihren vorgezeichneten Raum, wie der Obsthändler Tresoldi, wirkt die abrupte Verwandlung eher kurios als glaubhaft. Auch der spannende politische Kontext verblasst zusehends und wird zu einem immer bedeutungsloseren Hintergrundrauschen. Die im Vordergrund stehende Mädchenfreundschaft mit ihrem Aufnahmeritual, den Mutproben und kindlichen, oft jedoch keineswegs harmlosen Streichen taugt eher für einen Jugendroman, die altklugen Weisheiten aus Maddalenas Mund wirken aufgesetzt, die Handlung wird immer klischeehafter. Spätestens ab der Mitte hat mich das Buch daher verloren und mit dem melodramatischen Finale enttäuscht.

Für mich ist Malnata Opfer der großen Worte seiner Werbekampagne, die einen feministischen Roman über die „Macht weiblicher Selbstbestimmung“ ankündigt, ein Versprechen, für dessen Einlösung es der Autorin an Mut fehlt. Wer einen nicht zu tiefschürfenden Unterhaltungsroman über eine ungleiche Mädchenfreundschaft sucht und Kitsch nicht scheut, könnte dagegen an Malnata Freude haben.

Beatrice Salvioni: Malnata. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Penguin 2024
www.penguin.de/Verlag/Penguin

Szczepan Twardoch: Kälte

  Der Zweck heiligt auch im Roman nicht alle Mittel

Der 1978 in Oberschlesien geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Szczepan Twardoch gehört zur Minderheit der Schlesier. Er engagiert sich mit Spendenaufrufen und eigenhändigen Lieferungen von militärischem Material im Angriffskrieg Russlands für die Ukraine und befürwortet das Eingreifen der NATO. Im Lichte der polnischen Angst vor Einflussnahme und Bedrohung durch Russland ist Twardochs 2022 in Polen und nun in deutscher Übersetzung von Olaf Kühl erschienener Roman Kälte zu lesen. Am Beispiel des Schlesiers Konrad Widuch stellt der Roman die Frage, wie lange man angesichts seiner Taten noch als Mensch gelten kann, und warnt vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch Russland:

Denn wenn Russland kommt, dann so, dass hier von eurem Leben nichts mehr bleibt. (S. 384)

Die Notizbücher des Konrad Widuch
Nicht der übliche Dachbodenfund von Briefen und Dokumenten spielt dem in der Rahmenhandlung selbst auftretenden Autor zwei umfangreiche Notizbücher in die Hände. Während einer Auszeit auf Spitzbergen lernt Szczepan die 83-jährige Norwegerin Borghild Moen kennen, die ihn nicht nur auf ihrer Yacht Isbjørn mitnimmt, sondern ihm auch die Aufzeichnungen überlässt.

Diese beginnen im Juni 1946 und handeln von Widuchs liebloser Kindheit in Schlesien, von seinem Weggang mit 14 Jahren, von der Arbeit im Bergwerk, zunächst in Schlesien, dann an der Ruhr, von früher Neigung zur Gewalt und Begegnung mit dem Sozialismus, von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg bei der Marine und am Kieler Matrosenaufstand Ende 1918. Zunehmend radikalisiert folgte Widuch 1920 dem Trotzkisten Karl Radek (1885 – 1939) nach Russland, wo er als bolschewistischer Politoffizier beim grausamen großen Marsch der Reiterarmee vom Kaukasus in die Ukraine dabei war. Zusammen mit seiner noch radikaleren Frau Sofie überstand er die Stalinschen Säuberungen zunächst in Murmansk, kam nach deren Flucht mit den beiden Töchter jedoch als politischer Gefangener in einen sibirischen Gulag. Nach einem abenteuerlichen Ausbruch fand Widuch zusammen mit der ebenfalls entflohenen Kriminellen Ljubow Aufnahme bei einem sibirischen Wildvolk in Cholod, einer 30 Gehöfte umfassenden Siedlung in der Taiga, bis auch dort Russen auftauchten.

Brutal, vulgär und teilweise langatmig
So thematisch interessant dieser Ritt durch die ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts ist, so wenig konnte mich Szczepan Twardoch mit seinem Schreibstil gewinnen. Von Beginn an widerten mich vor allem die jeden Rahmen sprengenden Darstellungen exzessiver Brutalitält und das penetrant eingestreute obszöne Vokabular an, eingebaut in wohlgeformte Sätze und Beschreibungen, die so gar nicht zum intelligenten, jedoch wenig gebildeten Protagonisten passen. Ab der Mitte kamen zur unsäglichen Gewalt und den ekelerregenden Sexszenen enervierend langatmige Ausführungen über das fiktive Naturvolk. Mit der Landung des Aeroplans zweier russischer Wissenschaftler eröffnete sich zwar die Bühne für Widuchs anti-russische Brandrede, letztlich sprengten zunächst jedoch nicht die Russen, sondern die beiden Flüchtlinge die Gemeinschaft und wurden ihrer Gastfamilie zum Verhängnis.

Die Notizbücher richten sich an eine „fiktive Leserin“, an die Widuch nicht glaubt, die er aber im letzten Teil als „elende Schlampe“, „Hündin“ und „Nutte“ beschimpft. Nicht nur dazu blieb mir der intellektuelle Zugang verwehrt, verärgert hat es mich dennoch.

Nicht mein Roman
Mag sein, dass ich auch deshalb keinen Zugang zu Kälte fand, weil ich Abenteuergeschichten nur selten und Schelmenromane generell nicht mag. Definitiv lag es nicht am geschichtlichen Hintergrund und der politischen Aussage, weswegen ich einem Sachbuch des Autors jederzeit eine Chance geben würde, einem weiteren Roman keinesfalls.

Kälte endet zwischen Wahnsinn und Nebel. Für die grausigen Bilder in meinem Kopf erhoffe ich letzteres.

Szczepan Twardoch: Kälte. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt 2024
www.rowohlt.de

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

  Lange Schatten

Bis zur Einführung der Invalidenversicherung, dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der obligatorischen Arbeitslosenversicherung in den 1960er- und 1970er-Jahren war die soziale Absicherung in der Schweiz überwiegend außerstaatlich organisiert: in den Familien, Kirchen, Firmen oder Gewerkschaften. Eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Schweizer Geschichte ist auf diese fehlende Sozialstaatlichkeit zurückzuführen und dauerte von 1800 bis in die 1960er-Jahre: die behördlich angeordnete Fremdunterbringung von Kindern, das sogenannte Verdingwesen.

Das Verdingkind
Auch die Großmutter väterlicherseits des 1944 geborenen Schweizer Autors Lukas Hartmann erlitt das Schicksal eines Verdingkinds. Nachdem ihr Vater durch einen Arbeitsunfall zum Pflegefall geworden war, konnte die Mutter zunächst die Verdingung ihrer sechs Kinder abwenden. Nach dessen Tod jedoch wurden sie rasch auf verschiedene Pflegefamilien im Berner Umland aufgeteilt, auch die Zweitjüngste, die erst achtjährige Martha:

Die Kinder müssen mitgehen, auch wenn sie die Leute nicht kennen, denn darunter sind solche aus anderen Dörfern, aber nur Männer. Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden. (S. 17)

Martha kommt zur Bauernfamilie Bürgi, gläubige „Stündeler“ aus einer evangelischen Gemeinschaft. Obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Verdingkindern weder körperlichen noch sexuellen Missbrauch erfährt, muss sie doch hart arbeiten, leidet als letzte am Tisch unter Hunger, erfährt keinerlei Zuwendung und bleibt eine Fremde.

Alles opfern für den Aufstieg
Wäre Martha und die Ihren ein leichter Unterhaltungsroman, aus dem um seine Kindheit betrogenen, entwurzelten Verdingkind würde eine liebende Ehefrau und Mutter, die ihrer Familie die Wärme und Geborgenheit schenkt, die sie selbst so schmerzlich vermisst hat. Stattdessen macht das Schicksal aus ihr jedoch eine zähe, harte und dominante Frau, die weder Nähe noch Schwäche zulassen kann, und der kein glückliches Leben beschieden ist. Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, eines kränkelnden Schusters, für den sie heimlich die Werkstatt führte, steht sie mit den beiden ihr fremdgebliebenen Söhnen erneut vor dem Nichts. Selbst als sie durch das Milchgeschäft ihres zweiten Ehemanns und mit dem von ihm ererbten Haus bescheidenen Wohlstand erlangt, kommt sie nicht zur Ruhe.

Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes

Marthas Dämonen gehen über auf ihren älteren Sohn Toni, der wie sie nur für die Arbeit und den sozialen Aufstieg seiner Familie lebt und daran zugrunde geht. Gegen seine Strenge, sein kleinbürgerliches Leben und die patriarchalisch geprägte Ehe lehnt sich sein ältester Sohn Bastian auf, hinter dem sich der Autor versteckt.

Bewegung durch Öffnung
Erst mit dem Abstand der Enkelgeneration gerät etwas in Bewegung: Angeregt durch die bruchstückhaften Erzählungen seiner Großmutter im Altersheim beginnt Bastian, Martha und die Folgen ihres Traumas auf ihre Nachfahren zu verstehen – als Voraussetzung für die eigene Gesundung.

Chronologisch, mit viel psychologischem Gespür und einem mit seiner knappen Nüchternheit hervorragend zu den Figuren passenden Stil erzählt Lukas Hartmann über drei Generationen und die langen Schatten der Vergangenheit. Besonders gut gefallen hat mir, dass er mit viel Wärme, besonders für die weiblichen Familienmitglieder, erklärt, anstatt zu werten oder gar anzuklagen. Es gelingt Lukas Hartmann hervorragend, Denkprozesse über die eigene Familie aus veränderter Blickrichtung in Gang zu setzen, damit wir im besten Falle verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Was kann man mehr verlangen von Literatur?

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

Fuminori Nakamura: Die Flucht

  Aus Tragödien lernen

Gleich zwei Protagonisten hat der knapp 600 Seiten starke Roman Die Flucht des 1977 geborenen Japaners Fuminori Nakamura, der aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen längst mehr als nur Nachwuchshoffnung ist: den Ich-Erzähler Kenji Yamamine und eine sagenumwobene Trompete, genannt „Fanaticism“. Das legendäre Instrument hält die durch eine riesige Themenvielfalt geprägte Handlung zusammen. Als es dem knapp 40-jährigen Investigativjournalisten und Buchautor Kenji auf den Philippinen in die Hände fällt, bringt es fortan sein Leben gehörig durcheinander und in höchste Gefahr, denn unterschiedlichste Interessengruppen wollen es aus verschiedenen Motiven in ihren Besitz bringen. Die Trompete und ihr ehemaliger Besitzer Suzuki sollen Unglaubliches vollbracht haben: Als ihre magischen Töne während einer Schlacht im Zweiten Weltkrieg erklangen, wendete sich eine aussichtslose Militäroperation der Japaner gegen die Amerikaner auf den Philippinen zum Sieg.

Ein weiter Bogen
Während Kenji im Stile eines Mystery-Thrillers um die halbe Welt gejagt wird – der Roman beginnt mit einem Überfall auf ihn in Köln durch den geheimnisvollen B., laut Nachwort des Autors „eine Figur zwischen Realität und Fiktion“ (S. 581) und stets nass, von Hundegebell begleitet und nach Eau de Cologne riechend – tauchen wir in lange Passagen im Stil eines erzählenden Sachbuchs über die Geschichte Japans und verschiedener Nachbarstaaten ein. Dabei geht es beispielsweise um die unvorstellbar brutalen, detailliert beschriebenen Christenverfolgungen ab ca. 1600, hauptsächlich in der Gegend um Nagasaki, die erst mit den Handelsbeziehungen zum Westen Ende des 19. Jahrhunderts endeten, ein Beispiel dafür, dass das in Verruf geratene „Wandel durch Handel“ doch gelingen kann. Von hier schlägt Fuminori Nakamura den Bogen zu Japans Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg, zum Atombombenabwurf auf Nagasaki, zur Atomkatastrophe von Fukuschima, deutschen Konzentrationslagern und zur Geschichte verschiedener Nachbarstaaten – ein überwältigendes Themen-Potpourri, das hier nur angerissen werden kann.

Japanische Flagge mit dem Namen von Fuminori Nakamura und dem Originaltitel „Tobosha“. © B. Busch. Cover: © Diogenes

Als links-progressiver Journalist und Autor des umstrittenen Buches „Menschen, die am Krieg verdienen“ kämpft Kenji gegen Japans zunehmenden Rechtsruck und nationalistische, demokratiefeindliche Kräfte. Die Trompete als Symbol für eine militaristische Weltanschauung ist ihm daher zunächst suspekt. Trotzdem ist er bei ihrem Anblick sofort gebannt, verfasst einen Artikel über sie und gerät ins Fadenkreuz verschiedenster Interessengruppen.

Nicht nur die Trompete findet Kenji auf den Philippinen, er begegnet auch der Vietnamesin Anh Thi Nguyên, die ihm nach Japan, ins Land ihrer Urahnin, folgt. Die Liebe bleibt ohne Happy End, das gemeinsame Buchprojekt schrumpft zu einem Roman mit dem Titel „Eine Seite der Geschichte“.

Ein schwerer, aber lohnender Brocken
Die Flucht
, in Japan 2020 als Buch und zuvor als Fortsetzungsroman in bedeutenden Zeitungen erschienen, will keine Wohlfühllektüre sein, wie der Autor im Nachwort betont:

Und auch ich bin der Auffassung, dass sich die Welt nicht bessern kann und die Menschheitsgeschichte immer neue Tragödien hervorbringen wird, wenn es nur Geschichten gibt, die den Gerechte-Welt-Glauben bestärken (und uns damit unterbewusst beeinflussen). (S. 582)

Entsprechend erweist sich die äußerst verstrickte, komplexe Mischung aus historischem Roman, Action-Thriller, Liebesgeschichte und brandaktuellem Beitrag zum Zeitgeschehen als schwerer Brocken, der aufgrund seiner Gewaltbeschreibungen starke Nerven erfordert. Nimmt man die Mühen allerdings auf sich, erschließt sich in den umfangreichen historisch-politischen Teilen, die mir als Nicht-Thriller-Leserin wesentlich wichtiger waren, eine ganze, wenn auch meist düstere Welt.

Fuminori Nakamura: Die Flucht. Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

Matthias Jügler: Maifliegenzeit

  Was man nicht sieht

40 Jahre liegen zwischen den beiden zentralen Ereignissen des Romans Maifliegenzeit von Matthias Jügler. Der Ich-Erzähler Hans, ein 65-jähriger pensionierter Lehrer und Hobbyangler, hat 1978 seinen angeblich nur Stunden nach der Geburt verstorbenen Sohn Daniel in einem selbst ausgehobenen Grab auf dem Größnitzer Friedhof im heutigen Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt begraben. Mit dem Tod ihres Wunschkinds zerbrach die Beziehung zwischen Hans und Katrin. Statt gemeinsam zu trauern und sich Halt zu geben, entfernte das schreckliche Ereignis die verhinderten Eltern immer weiter voneinander. Während Katrin sich aufbäumte und zweifelte, verstummte Hans in Schockstarre, akzeptierte die Tragödie und forderte dasselbe von ihr. Schuldgefühle verfolgen ihn deshalb bis heute:

Heute weiß ich, dass der Versuch, die Ereignisse der Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, um das Leben führen zu können, was man ein normales Leben nennt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. (S. 10)

Leben mit dem Verlust
Wie einst sein Vater findet Hans Trost beim Angeln in der Unstrut. Erst 1987 sieht er die von ihrer Krebserkrankung gezeichnete Katrin in Erfurt ein letztes Mal wieder, wo sie ihn bittet, zum richtigen Zeitpunkt die Augen offenzuhalten.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. © B. Busch. Cover: © Penguin.

Wiederholt unternimmt Hans nach der Wende Versuche, Katrins Verdacht nachzugehen, unterstützt von seiner klugen, warmherzigen und einfühlsamen neuen Partnerin Anne. Er trifft auf Ablehnung, Misstrauen und Zurückweisung: Zwangsadoptionen, ja, aber vorgetäuschten Kindstod hätte es wohl in Francos Spanien, nicht aber in der DDR gegeben!

Doch dann geschieht das Unglaubliche: Nach 40 Jahren ruft Daniel, der nun Martin heißt, an:

Ich war am Ende einer unwahrscheinlichen Geschichte angelangt. Dabei fing es, wie ich heute weiß, eigentlich erst richtig an. (S. 82)

Wie ein sicher geglaubter Fisch an der Angel sich manchmal losreißt, droht auch der wiedergefundene Sohn abzutauchen, wenn Hans nicht größtes Geschick beweist:

Geduld, das hatte mir mein Vater vor Jahrzehnten beigebracht, brauchte man als Angler gleich zweimal: bevor der Fisch beißt – und danach. (S. 143)

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. An der Unstrut: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin.

Ein phantastischer Erzähler
Maifliegenzeit
ist der dritte Roman des 1984 in Halle geborenen Autors Matthias Jügler, sehnsüchtig von mir erwartet, da mich bereits die beiden Vorgänger Raubfischen von 2015 und Die Verlassenen von 2021 begeistert haben. Alle drei Bücher sind schmal und extrem verdichtet. Die Sprache ist reduziert und unpathetisch, die Metaphern passgenau und es bleibt genau die richtige Menge Raum für Ungesagtes. Der leise, von Melancholie und Nachdenklichkeit getragene Erzählton, die sensiblen Naturschilderungen und die schmerzlichen Themen erinnern an Skandinavier wie Per Petterson.

Unsichtbar und doch existent
Man muss nicht die Begeisterung des Autors für das Angeln teilen, um die Szenen an der Unstrut und die Geschichten über Karpfen, Barbe, Aal, Forelle und Hecht zu lieben, die nicht nur Hans, sondern auch die Leserinnen und Leser in den unerträglichsten Momenten trösten. Nie stehen diese Passagen für sich, immer findet sich ein direkter Bezug zur Romanhandlung. Besonders eindrücklich gelingt das beim titelgebenden Maifliegenfischen mit jenen Eintagsfliegen, die erst nach mehrjährigem Larvenstadium auf dem Grund ihres Gewässers einzig zur Fortpflanzung an die Oberfläche kommen:

Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert. (S. 79)

Obwohl wissenschaftliche Beweise für systematisch vorgetäuschten Säuglingstod in der DDR, wie ihn auch die empfehlenswerte ARD-Fernsehserie Weißensee thematisiert, bisher fehlen, sind inzwischen drei solcher Fälle belegt. Wie viele der etwa 2000 Verdachtsfälle begründet sind, ist unbekannt, jedoch ist jeder einzelne eine nicht wiedergutzumachende Katastrophe für die Betroffenen.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Veranstaltung im Rahmen der Lesart Esslingen am 14.01.2025. Fotos: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Penguin.

Matthias Jügler: Maifliegenzeit. Penguin 2024
www.penguin.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Matthias Jügler auf diesem Blog:

 

Maria Borrély: Das letzte Feuer

  Das Lied der Asse

Der exzellenten Übersetzerin Amelie Thoma und dem Kanon Verlag ist es zu verdanken, dass wir nach Mistral aus dem Jahr 1930 nun auch den ein Jahr später erschienenen zweiten Roman Das letzte Feuer der in Marseille geborenen Lehrerin, Autorin, Kommunistin und Résistance-Anhängerin Maria Borrély (1890 – 1963) wieder lesen können. Amelie Thoma entdeckte die zeitweise vergessene Schriftstellerin, die den größten Teil ihres Lebens in der Haute Provence verbrachte, bei einem ihrer zahlreichen Urlaubsaufenthalte im Département Alpes-de-Haute-Provence. Sie verliebte sich – genau wie der Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) und Borrélys provenzalischer Kollege Jean Giono (1895 – 1970) viele Jahre zuvor – in ihre schmalen Romane, deren großes Thema, wie sie im Nachwort zu Mistral schreibt, das „Mit- und Gegeneinander von Mensch und Natur“ ist. Schade, dass der Verlag die Übersetzerin bei diesen Verdiensten nicht auf dem Cover nennt.

Der Stein rollt ins Tal
Im schwer zugänglichen Bergdorf Orpierre-d’Asse gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur wenige Häuser. Es herrschen Armut, Not und Unfrieden unter den „Schmalhänsen“, wie die Dörfler genannt werden:

Es gibt nichts als Zank, Hader und Prozesse, denn wenn die Krippe leer ist, streiten die Ochsen. (S. 10)

Mit dem Bau einer Brücke und der Eindeichung der rauschenden Asse, die zuvor ihre Felder wegspülte und die Ernte vernichtete, ändert sich das ärmliche Leben im Dorf. Nun entstehen fruchtbare, bewässerte und geschützte Flächen. Ein Aufatmen bis hin zum Übermut geht durch Orpierre-d’Asse:

Ihre Freude strömt über wie ein Bach. (S. 25)

Den Ersten, der nach unten zieht, halten die anderen noch für verrückt, aber plötzlich wollen auch sie ins Tal. In der allgemeinen Aufbruchsstimmung entstehen neue Häuser, eine Kirche, ein Gasthof und eine Schule. Man hilft sich gegenseitig:

Vergessen, die alten Ärgernisse und Querelen. (S. 29)

Bald brennt oben nur noch ein letztes Feuer, denn die alte Pélagie weigert sich strikt, mit ihrer Enkelin Berthe hinunterziehen. Zu verwurzelt ist sie und zu sehr misstraut sie auch dem gebändigten Fluss. Nur kurz schöpft sie Hoffnung auf neues Leben in den verfallenden Häusern, als Berthe sich mit Auguste aus dem Tal verheiratet. Doch obwohl auch dort längst nicht alles Gold ist, was glänzt, hofft sie vergeblich:

Der Stein steigt nicht wieder hinauf, er rollt. (S. 72)

Und so bleibt ihr Feuer das letzte, nur sie läutet noch die Totenglocke an Allerheiligen und erinnert die Weggezogenen an ihre Familiengräber. Nichts anderes wünscht sie sich mehr, als rechtzeitig vor der Stilllegung des alten Friedhofs zu sterben.

© B. Busch. Cover: © Kanon

Eine wunderbare Wiederentdeckung
Wie der Wind in Mistral „weht“, „heult“, „rast“, „wütet“, „zerrt“, „brüllt“, „pfeift“, „wummert“, „heißer röchelt“ und „beißt“, so „singt“, „droht“, „tobt“, „tost“ in Das letzte Feuer die Asse, „schwillt an“, „treibt es bunt“, „reist Bäume fort“ und „rast heran gleich einer Horde galoppierender Pferde“ – entsprechend den Menschen, die an ihrem Ufer leben. Nicht verwunderlich also, dass Pélagie in diesem höchst empfehlenswerten, schlicht und dadurch umso eindrucksvoller erzählten literarischen Kleinod über dörflichen Alltag zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Fazit über das Leben an der Asse festmacht:

„Die Zeit ist wie die Asse“, sagt sie, „sie hinterlässt Zerstörung auf ihrem Weg“. (S. 118)

Maria Borrély: Das letzte Feuer. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Kanon 2024
kanon-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Maria Borrély auf diesem Blog:

Stig Dagerman: Gebranntes Kind

  Zwei Seiten einer Medaille

Der schwedische Journalist und Autor Stig Dagerman (1923 – 1954) hinterließ trotz seines Selbstmords im Alter von nur 31 Jahren und einer vorausgehenden Schreibblockade eine erstaunliche Zahl von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Gedichten und Reportagen. Sein bekanntester Roman ist Bränt barn, Gebranntes Kind, von 1948, der nun in einer Neuübersetzung von Paul Berf als zweites seiner Werke nach Deutscher Herbst im Guggolz Verlag erschien. Auf dem wunderschönen Cover sind zahlreiche brennende Kerzen zu sehen, ein sich im Text wiederholendes Bild. Stig Dagerman kündigte seinem Verleger das Buch als einen Roman an, der „von Liebe und Trauer in einem Arbeiterhaushalt in Söder[malm] handelt.“

Ein Potpourri der Gefühle
Im Mittelpunkt steht der 20-jährige Student Bengt Lundin, der zu Beginn gerade seine Mutter verloren hat. Deren Tod stürzt ihn, über dessen geistige Verfassung vor diesem Ereignis wir nichts erfahren, in abgrundtiefe Trauer, die in ebenso heftigen Hass umschlägt, als er während der Trauerfeier von einer Geliebten seines Vaters erfährt. Bengts Wut richtet sich nicht nur gegen den Vater und dessen Affäre Gun, sondern auch gegen seine eigene Freundin, die verhuschte Berit, und gegen den schwarzen Hund, den der Vater mitbringt. Als Bengt, Berit, Gun und der Vater auf dessen Vorschlag hin Mittsommer zu viert auf einer Schäre vor Stockholm verbringen, dem Ort, wo sich einige der Schlüsselstellen des Romans abspielen, will Bengt dort seine Rachepläne in die Tat umsetzen, doch es kommt anders:

Als sein Stuhl sehr eng neben ihrem steht, merkt er jedoch, wie kurz der Schritt zwischen Hass und Liebe ist, sie sind nur zwei Seiten einer Medaille. Nur wen wir lieben, können wir wirklich hassen. (S. 260)

Hintergrundfoto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Guggolz

Reinheit und Lüge
Gebranntes Kind
ist eine überaus fordernde Lektüre, gespickt mit Bildern, Motiven und Gegensatzpaaren. Gefällig oder angenehm zu lesen ist hier nichts, denn nicht nur erweist sich Bengt als schwer gestörter, kranker und sowohl physisch wie psychisch gewalttätiger und unberechenbarer Charakter, auch die anderen verhalten sich abnormal und irrational, ähnlich Co-Abhängigen bei Suchtkranken. Ein Grund dafür liegt in der Ehrfurcht, die sie vor dem Studenten empfinden, aber auch Mitleid und Angst sind im Spiel. Bengt seinerseits kennt nur Verachtung, niemand kann vor seinen strengen Maßstäben bezüglich „Reinheit“ bestehen, niemand ist wie er:

Es gibt nur einen Menschen auf der ganzen Welt, dem du vertrauen kannst, und dieser Mensch bist du selbst. (S. 152)

Zwischen die Kapitel in personaler Erzählweise, hauptsächlich aus Bengts Sicht, stehen seine Briefe an sich selbst und andere, in denen er sich die Welt und seine Gefühle zu erklären versucht. Ausgerechnet er, der angeblich die Verlogenheit so sehr hasst, ist der größte Lügner von allen – und findet auch dafür eine Rechtfertigung:

Wer rein ist, darf mit dem, der unrein ist, alles machen. Denn wer rein ist, hat recht. (S. 41)

Sein eigenes Opfer
Wohlfühlliteratur ist Gebranntes Kind ganz und gar nicht, doch sind die Entsprechungen von Bengts Seelenzuständen mit der Sprache Stig Dagermans großartig: einerseits die knappen, pistolenartigen Sätze, die Bengts Fieber innerer Zerrissenheit widerspiegeln, andererseits die pathetisch-selbstgerechten Briefe und schließlich die zarten Sätze in den intensivsten Momenten der Leidenschaft.

Bengt als unsympathischen Protagonisten zu beschreiben, wäre untertrieben, vielmehr erzeugte er ein durchgehendes Gefühl von Übelkeit und Widerwillen bei mir. Genau das macht diese beeindruckende psychologische Studie über einen Jugendlichen in einer existenziellen Krise jedoch gleichermaßen zeitlos wie empfehlenswert.

Stig Dagerman: Gebranntes Kind. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Aris Fioretos. Guggolz 2024
www.guggolz-verlag.de

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band

  Jede für sich allein

 

In ihren Heimatländern Syrien, dem Libanon, Israel und Jordanien bilden die vor über tausend Jahren vom Islam abgespaltenen Drusen nur eine verschwindende Minderheit. Ein zentrales Element ihres monotheistischen Glaubens ist die Seelenwanderung. Da das Wissen über die Religion, in die man nur als Kind zweier drusischer Elternteile gelangt, wenigen „wissenden“ Scheichs und Scheichas vorbehalten bleibt, gilt das Drusentum als Geheimlehre.

Der lange Weg zur Freiheit
In ihrem vom Verlag als „autofiktional“ beworbenen Roman Das unsichtbare Band schildert die libanesisch-drusische Autorin Haneen Al-Sayegh, die heute zwischen Berlin und Beirut pendelt, das Leben der jungen Amal. Sie wächst als Tochter von „Wissenden“ in einem abgelegenen libanesischen Bergdorf mit den widersprüchlichen Vorschriften dieser Religion auf und erlebt die Rechtlosigkeit der Frauen und ihre Unterdrückung mittels physischer und psychischer Gewalt. Das begabte Mädchen will aus dem jahrhundertealten Kreislauf aus Schweigen und Unterordnung ausbrechen.

Gedrängt von den Eltern, stimmt sie 15-jährig einer Eheschließung mit einem zehn Jahre älteren vermögenden Kaufmann zu, nachdem sie ihm die Zustimmung zu Schulbesuch und Studium abgerungen hat. Ihr Preis dafür sind fortgesetzte Vergewaltigungen und demütigende, unfreiwillige Prozeduren in einem Kinderwunschzentrum. Obwohl sie ihre Agenda zielstrebig umsetzt und ihren Master in Literaturwissenschaft glänzend besteht, leidet sie unter fehlendem Selbstbewusstsein und Depressionen. Doch die Zeit ihrer Ehe neigt sich dem Ende zu:

Die Magie hat sich gegen den Zauberer gewendet, die Figuren auf dem Schachbrett sind weitergezogen worden. (S. 199)

Ein nicht eingelöstes Versprechen
Ohne Vorwissen über das Drusentum habe ich den Roman Das unsichtbare Band zur Hand genommen, um mehr über die Religion und weibliche Biografien in dieser ultra-strengen Gemeinschaft zu erfahren. Ich war neugierig auf das titelgebende „unsichtbare Band“ zwischen den unterdrückten Frauen. Dass ich kaum mehr über das Drusentum als im Wikipedia-Artikel erfahren habe, mag darin begründet liegen, dass die Autorin keine „Wissende“ ist. Dass das „unsichtbare Band“ sich jedoch als haltloses Versprechen erwies, hat mich sehr enttäuscht. Ganz im Gegenteil sind es immer wieder Frauen, die ihren Geschlechtsgenossinnen Leid zufügen und das Patriarchat stützen, sei es Amals Mutter, die den favorisierten Schwiegersohn ermutigt, oder die Helferin in der Kinderwunschklinik. Die durchweg traumatisierten Frauen in Amals Familie leiden jede für sich allein. Amal selbst knüpft keine Kontakte zu anderen Drusinnen an der Universität Beirut. Ihre Tochter lässt sie zunächst wegen ihres Studiums von ihrer Mutter im zerstörerischen Ambiente ihrer eigenen Kindheit betreuen und opfert sie dann für ihre Freiheit, indem sie das Kind ohne Vereinbarungen über seine Zukunft dem Vater überlässt. Das Buch las sich für mich wie eine Verteidigungsschrift und die Widmung für die Tochter scheint dies zu bestätigen.

Bis zur knappen Hälfte bin ich der Handlung interessiert gefolgt und war auf Amals Seite. Dann allerdings verlor die auf sich fixierte Protagonistin für mich an Glaubwürdigkeit, denn als erfolgreiche Universitätsabsolventin hätte sie das Rüstzeug für einen Blick über den eigenen Tellerrand gehabt, nutzt es jedoch nicht. Vermisst habe ich eine Beschreibung ihres Äußeren, ihrer Kleidung, ihres Alltags und lange sogar ihres Studienfachs. Endgültig enttäuscht hat mich das Buch im letzten Drittel, als sich Amal in einen arabisch-deutschen Schriftsteller verliebt: Kitsch statt Poesie und triviale, aufgesetzt wirkende Dialoge und Briefe, garniert mit philosophischen Passagen, die einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Spätestens beim Umarmen von Bäumen war meine Schmerzgrenze überschritten.

Schade, dass ich trotz der spannenden Thematik weniger als erhofft aus der Lektüre mitnehme. Mag Amal sich durch ihr Weggehen schließlich gerettet haben – ein Hoffnungszeichen für die Zurückgebliebenen ist das nicht.

Haneen Al-Sayegh: Das unsichtbare Band. Aus dem Arabischen von Hamed Abdel-Samad. dtv 2024
www.dtv.de

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht

  Der Türspalt in die Vergangenheit

2022 erschien der erste Band einer Trilogie der 1971 geborenen Sámi Ann-Helén Laestadius über die samische Bevölkerung Schwedens auf Deutsch, Das Leuchten der Rentiere. Der schwedische Originaltitel Stöld (Diebstahl) verrät mehr über den Inhalt: Rentierwilderei im heutigen Lappland und die unterlassenen Ermittlungen durch die schwedische Polizei als Teil von strukturellem Rassismus gegen die samische Bevölkerung.

Auch beim nun erschienenen zweiten Band Die Zeit im Sommerlicht sagt der Originaltitel mehr: In Straff (Bestrafung) geht es um das System der Nomadenschulen, in die Rentierzüchterfamilien ihre Kinder ab sieben Jahren schicken mussten. Wochenlang von zuhause getrennt, durften sie ihre Muttersprache nicht sprechen, schreiben oder lesen, nicht joiken, erlebten die Verunglimpfung ihrer Kultur und waren physischer wie psychischer Gewalt durch das Personal und ältere Kinder schutzlos ausgeliefert. Ähnlich wie es der kanadische Indigene Richard Wagamese in seinem Roman Der gefrorene Himmel über die Residential Schools seines Landes beschreibt, sollte den Kindern mit Gewalt ihre Kultur und Tradition ausgetrieben werden – ein Trauma mit lebenslangen Folgen.

Fünf Schicksale in zwei Zeitebenen
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Mitte der 1950er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa im Internat in Láttevárri, das unter der Leitung der brutalen Hausmutter Rita Olsson steht. Einzig die junge Betreuerin Anna, eine sanfte und zugewandte Sámi, schenkt den Kindern Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ihre Entlassung ist ein Schock.

Mitte der 1980er-Jahre sind Else-Maj, Anne-Risten, Marge, Jon-Ante und Nilsa knapp 40. Alle leiden unter den Internatserfahrungen, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Else-Majs Mann, mit dem sie in ihrem Dorf eine traditionelle Rentierzüchterfamilie gegründet hat, war ebenfalls Internatsschüler, doch ist das schmerzhafte Thema tabu. Anne-Risten lebt in Kiruna, hat einen Schweden geheiratet und spricht mit ihren Kindern nur Schwedisch. Sie leidet unter multiplen körperlichen Beschwerden, unter der Verachtung ihrer Tochter und der Angst, als Samin „enttarnt“ zu werden. Ebenfalls in Kiruna leben Marge und Jon-Ante, der im Internat von Nilsa und seiner Bande misshandelt wurde. Beiden fehlt es an Selbstbewusstsein und Mut zu einer Bindung. Als Marge ein kolumbianisches Mädchen adoptiert, erkennt sie Teile ihrer eigenen Geschichte wieder. Der allseits verhasste Nilsa, der als Rentierzüchter ins Dorf zurückgekehrt ist, leidet unter seiner Mitschuld am Tod seines jüngeren Bruders Aslak.

Was alle vereint, ist das kollektive Schweigen. Erst als Rita Olsson wieder auftaucht, gerät etwas in Bewegung. Der klugen Anna ist es schließlich zu verdanken, dass die Mauer des Schweigens erste Risse bekommt:

Tastend wurden Erinnerungen formuliert, für die Anna einen Türspalt geöffnet hatte. (S. 473)

Samische Haube, Flagge, Messer und Rentier: © B. Busch. Cover: © Hoffmann und Campe

Fiktiv und doch wahr
Die einzelnen Kapitel springen zeitlich und zwischen den Hauptfiguren hin und her, trotzdem behält man leicht den Überblick. Wer Das Leuchten der Rentiere gelesen hat, wird einige der Personen wiedererkennen, doch sind die Bücher auch völlig unabhängig zu lesen. Ann-Helén Laestadius setzt sich in beiden fiktiv, jedoch auf wahren Begebenheit beruhend, mit dem Rassismus gegen die samische Bevölkerungsminderheit in Schweden auseinander und zeigt die Weitergabe des samischen Traumas über Generationen. Ich habe auch Die Zeit im Sommerlicht als schonungs-, jedoch nicht hoffnungslosen Roman mit großem Interesse und ausgesprochen gern gelesen und warte nun sehr gespannt auf den noch ausstehenden dritten Band.

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe 2024
hoffmann-und-campe.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Ann-Hélen Laestadius auf diesem Blog:

Edvard Hoem: Der Heumacher

  Eine neue Zeit

 

Knut Hansen Nesje, genannt Nesje, wurde 1838 als elftes Kind von Marta Kristine Anderdatter Nesje geboren, den Leserinnen und Lesern der familienbiografischen Romane von Edvard Hoem bestens als Die Hebamme bekannt, und war der Urgroßvater des Autors. Kaum mehr als die Daten der Kirchenbücher und die Erzählungen des Großvaters sind verbürgt:

Ich musste ihn herbeidichten, aus Luft und aus dem Nichts, aus dem Licht über Molde und Rekneslia, aus dem Wind, der meine Haare zaust, und aus dem Regen, der auf Felder und Menschen fiel – zu seiner wie zu meiner Zeit. (S. 5)

Ein entbehrungsreiches Leben
Nesje lebte als Kleinbauer das harte Leben seiner Vorfahren, bestehend aus der Anstellung beim Großbauern, den Pflichttagen zur Bezahlung der Pacht auf dem Gut Reknes und der Arbeit auf dem gepachteten Land, 160 Ar in Rekneslia oberhalb der Kleinstadt Molde in der norwegischen Provinz Møre og Romsdal.

Der Roman beginnt kurz vor der zweiten Hochzeit des Witwers Nesje 1875 mit Serianna vom Bortehof in der Siedlung Hoem, auf dem Edvard Hoem heute wieder teilweise lebt. Serianna war die Großnichte von Lars Olsen Hoem, Protagonist von Der Geigenbauer. Vier Kinder wurden dem Paar geboren, darunter der Großvater des Autors.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

40 Jahre lang machte Nesje Heu auf dem Gutshof und war stolz auf seine Meisterschaft mit der Sense und auf sein kleines „Nesje-Stück“. Nur selten haderte er mit seinem geplatzten Traum vom eigenen Grund und Boden. Trotz aller Mühsal, Sorge und fehlendem Wahlrecht kam ein Weggehen für ihn nie in Betracht, obwohl es diese Möglichkeit durchaus gegeben hätte. Hunderttausende norwegische Bauernfamilien wanderten damals aufgrund der schlechten Lebensbedingungen in die USA aus:

„Mutter Norwegen schafft es nicht, alle ihre Kinder zu ernähren“, […] „Also müssen einige von ihnen hinaus in die Welt.“ (S. 36)

Fotos vom Romsdalsfjord, vom Moldefjord und vom Auswandererdenkmal in Cobh (Irland): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Urachhaus.

Der Traum vom besseren Leben
Auch in Nesjes Verwandtschaft grassierte das Auswandererfieber. Seriannas jüngste, abenteuerlustige Schwester Gjertine, die zweite Protagonistin des Romans, überredete 1886 ihren Mann Ole zur Auswanderung, um ihrem Traum von einem besseren und freieren Leben für sich und ihre Kinder näherzukommen, andere aus der Familie folgten nach. Doch auch in South-Dakota wartete ein entbehrungsreiches, hartes Leben auf die Neuankömmlinge und längst nicht jeder Traum wurde wahr, obwohl darüber in den Briefen nach Hause oft geschwiegen wird.

Edvard Hoem bei einer Lesung in Bellheim am 12.04.2024. © B. Busch

Edvard Hoem – ein begnadeter Geschichtenerzähler
Der Heumacher, im Original 2014 und erstmals auf Deutsch 2024 im Verlag Urachhaus erschienen, ist der Auftakt zum mehrbändigen Romanzyklus Edvard Hoems über die norwegische Auswanderung. Wie alle seine familienhistorischen Romane, die ich im Laufe der letzten Jahre mit immer größerer Begeisterung gelesen habe, ist auch Der Heumacher absolut mitreißend und von Antje Subey-Cramer hervorragend übersetzt. Ich liebe die Bücher des begnadeten Geschichtenerzählers Edvard Hoem für die knappe, leicht verständliche, unverwechselbare Sprache in Verbindung mit den poetischen Landschaftsbeschreibungen, das ruhige Erzähltempo, die Bilder voller Intensität, die akribische historische Recherche und die empathische Figurenzeichnung. Mittendrin im Leben der Menschen war ich beim Lesen, teilnehmend an ihren Sorgen und schwierigen Entscheidungsprozessen ebenso wie an den sonnigen Momenten und voller Freude, wenn mir vertraute Figuren aus anderen Romanen wiederbegegneten.

© B. Busch. Buchcover: © Urachhaus

Ich hoffe sehr, dass bald auch die Folgebände auf Deutsch erscheinen, denn ich möchte unbedingt erfahren, wie es in der Alten und Neuen Welt weitergeht.

Edvard Hoem: Der Heumacher. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2024
https://www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

      Hoem