Helga Flatland: Eine moderne Familie

  Stürmische Zeiten

So wie die Schrift auf dem Cover des Romans Eine moderne Familie in Schieflage gekommen ist, so gerät auch das Leben der darin porträtierten norwegischen Mittelstandsfamilie aus dem Lot. In ihrem 2017 mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichneten Roman zeigt die 1984 geborene Autorin Helga Flatland eine Familie, die nach der Trennung der Eltern komplett auseinanderzubrechen droht. Die Ankündigung der Scheidung anlässlich einer gemeinsamen Italienreise zum 70. Geburtstag von Vater Sverre kommt für die drei erwachsenen Geschwister wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nur Minuten, nachdem die älteste Tochter in ihrer Gratulationsrede die Einheit der Eltern Sverre und Torill für die Geschwister und füreinander beschworen hat, lässt der Vater die Bombe platzen:

«Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen», sagt er […] (S. 60)

«Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war», spricht Papa weiter, «Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.» (S. 61)

Drei Perspektiven für unterschiedliches Erleben
Nun könnte man erwarten, dass es im Folgenden um die Beweggründe der Eltern und die Durchführung der Trennung geht, aber weit gefehlt. Stattdessen lässt Helga Flatland die drei Geschwister aus der Ich-Perspektive erzählen, je zweimal Liz, die 40-jährige Älteste, und Ellen, ihre um zwei Jahre jüngere Schwester, sowie abschließend einmal den 30-jährigen Bruder Håkon. Obwohl alle längst auf eigenen Beinen stehen, reißt sie die Nachricht mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht und bringt nicht nur ihr Verhältnis zu den Eltern, sondern auch ihre Beziehung untereinander in schweres Fahrwasser.

© B. Busch

Liz, verheiratet und selbst Mutter zweier Kinder, hasst Veränderungen seit jeher, fühlt wie immer die gesamte Verantwortung auf ihren Schultern, geht auf Distanz zu Eltern und Geschwistern, schämt sich für Mutter und Vater, gefährdet ihre eigene Ehe und schlingert am Rande einer Depression:

Mit einem Achselzucken reißen sie alles ein, worauf ich mein eigenes Leben gebaut habe. (S. 135)

Ellen, die endlich den Mann fürs Leben gefunden hat, versucht verzweifelt, Mutter zu werden. Sie reagiert wütend, mit Unverständnis und verbittert:

»Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!« (S. 62)

Håkon, verhätscheltes, nie ganz erwachsen gewordenes Nesthäkchen, nimmt die Nachricht zunächst vergleichsweise gelassen auf und sieht sich in seiner Verweigerung monogamer Beziehungen bestätigt – bis eine Frau seine Lebensphilosophie erschüttert.

Komplexe Familienstrukturen
Zwei Jahre lang folgt Eine moderne Familie den drei Geschwistern, zeigt, wie die Nachricht sie in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster aus der Kindheit zurückwirft, wie alte Konkurrenzkämpfe neu aufleben und wie sie sich auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis und Miteinander machen. Der besondere Reiz des Romans liegt dabei für mich in der Erzählweise, die einerseits gleiche Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt, andererseits die Handlung vorantreibt.

Helga Flatland erzählt ruhig und nicht wertend über das Beziehungsgeflecht innerhalb einer ganz normalen Familie und die Neuzusammensetzung der familiären Puzzlesteine. Ihr Roman handelt von Rollen, Abhängigkeiten, Verletzungen, Empfindlichkeiten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, meist ernst, manchmal ironisch, mit hohem Wiedererkennungswert und absolut lesenswert.

Helga Flatland: Eine moderne Familie. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Weidle 2019
www.weidleverlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2003
2014
2015
Hjorth
2016
2018

 

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen

  Luxuria oder Der Moment der Wahrheit

Keine Institution war in den letzten Jahren so verstrickt in Missbrauchsskandale wie die katholische Kirche. Deshalb mutet der Beginn des Romans Die Summe des Ganzen von Steven Uhly wie eine Verdrehung der Umstände an, denn hier wendet sich ein junger Unbekannter wegen seiner pädophilen Neigungen ausgerechnet an einen Padre. In der Pfarrkirch des Heiligen Isidro in Horaleza, einem ärmlichen nordöstlichen Außenbezirk von Madrid, erscheint im Beichtstuhl von Padre Roque de Guzmán an einem Mittwoch Anfang März während der Coronazeit und dann fast täglich ein Sünder, der in gehetztem Ton Ungeheuerliches berichtet: Er sei im Begriff, sich an seinem zehnjährigen Nachhilfeschüler zu vergehen, einem „betörenden Engel“, der offensichtlich auch Gefühle für ihn hege:

Welch eine Beichte! Eine Beichte, die etwas zum Gegenstand hat, was noch gar nicht geschehen ist, wovon er aber weiß, dass es unvermeidlich stattfinden wird. Unvermeidlich! Und strenggenommen findet es bereits dadurch statt, dass er weiß, was er tun wird. (S. 21)

Unter Druck
Der Padre, ein gesetzter Mann von 50 Jahren, routiniert in der Abnahme der Beichte und der göttlich-autorisierten Befreiung von Sünde und Schuld bei Ehebruch, Gewalt und anderen alltäglichen Vergehen, gerät bei diesem für ihn gesichtslosen Mann von Beichte zu Beichte mehr ins Schwitzen. Zugleich wartet er dringend auf ihn und fürchtet seine Rückkehr. Nicht nur, dass der Missbrauch immer näherrückt, setzt ihn der offensichtlich gebildete, bibelfeste Sünder mit seinen Argumentationen, Rechtfertigungen und Schilderungen immer mehr unter Druck und veranlasst ihn zu Aussagen, über die er selbst staunt. Von Beichte zu Beichte schwindet seine professionelle Souveränität und das Wortgefecht lässt die Grenzen zwischen Sünder und Priester immer mehr verschwimmen…

© B. Busch

Verirrte Elefanten
Der überwiegende Teil von Stephen Uhlys achtem Roman, der für mich der erste war, spielt  im Beichtstuhl. Lediglich kurze Sequenzen zeigen den Padre außerhalb seiner Kirche und den jungen, von Selbstzweifeln gequälten Mann, Lucas Hernández, wenn er sich mit seiner Zufallsbekanntschaft, dem nigerianischen Drogenhändler Akachukwu trifft, „zwei verirrte Elefanten“, die vorübergehend „Elefantenbrüdern“ (S. 156) werden und sich gegenseitig stützen.

Bloß nicht zu viel verraten…
Es ist schwierig, über diesen Roman zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Bedauerlicherweise ist das bei einigen Rezensenten und Rezensentinnen des Feuilletons so, denn viel zu detailliert gehen sie auf den Inhalt und die Wendungen ein und verderben so die Spannung. Man sollte deshalb das Buch unbedingt vor den Besprechungen lesen. Leider habe ich aber – auch ohne sie zu kennen – recht früh das Ende vorausgeahnt, schade, auch wenn die Lektüre dieses wie ein Kammerspiel angelegten, mit 156 Seiten recht knappen Romans über Schuld, Buße, sexuelle Fantasien, Kontrollverlust, Rechtfertigung, Erlösung, Rache, Manipulation, Täuschung, Vertuschung und Machtmechanismen trotzdem sehr lohnend war. Obwohl oder gerade weil Steven Uhly die Abgründe, Mechanismen und Folgen von Pädophilie sehr genau ausleuchtet und bis an die Schmerzgrenze seiner Figuren, aber auch der Leserinnen und Leser geht, kann ich den theologisch-philosophisch-ethischen Schlagabtausch im Beichtstuhl als gewinnbringenden Beitrag zur aktuellen Debatte über Kindesmissbrauch sehr empfehlen.

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession 2022
secession-verlag.com

Kent Haruf: Das Band, das uns hält

  Was ist schon gerecht?

Das Leben ist nun mal nicht gerecht. Und dass wir ständig denken, es müsste gerecht sein, spielt offenbar nicht die geringste Rolle, verdammt. Besser, du begreifst das jetzt als nie. (S. 159)

Es passiert häufiger, dass ich einen schönen Roman mit einer gewissen Wehmut beende, aber auf Das Band, das uns hält von Kent Haruf (1943 – 2014) trifft das in ganz besonderer Weise zu. Einerseits war auch dieser sechste Ausflug ins fiktive US-Präriestädtchen Holt im östlichen Colorado wieder eine rundum erfreuliche Lektüre, andererseits ist er unwiderruflich die letzte Begegnung mit seinen ganz besonderen Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Alltag und Schicksalen Kent Haruf sich in seinen sechs unabhängig voneinander zu lesenden Romanen widmet. Seit 2017 hat der Diogenes Verlag sie nach und nach veröffentlicht, beginnend mit dem unvergleichlichen, 2015 posthum erschienenen letzten Werk Unsere Seelen bei Nacht, und endet nun, 2023, mit seinem preisgekrönten Debüt von 1984.

Aus Holts Anfangszeit
Mit Edith Goodnough hat Kent Haruf eine weitere unvergessliche Protagonistin geschaffen, geboren 1897 in Holt. Sie ist das Kind von Roy Goodnough und seiner Frau Ada, die 1896 nach dem Homestead Act Präsident Lincolns von 1862 mit dem Pferdewagen aus Iowa ins östliche Colorado kamen, um Landbesitz zu erlangen. Was sie vorfanden war baumloses, sandiges, trockenes, flaches ehemaliges Cheyenne-Land und elende landwirtschaftliche Bedingungen. Sieben Meilen von Holt entfernt gründeten sie mühevoll eine Farm, die nächsten Nachbarn, eine Halb-Cheyenne namens Hannah Roscoe und ihr sechsjähriger Sohn John, eine halbe Meile entfernt.

Ein Leben in eiserner Disziplin
Schon für Ada, die ihre neue Heimat bis zu ihrem frühen Tod hasste und unter der Gewalt und der cholerischen Tyrannei ihres Mannes litt, war die Familie Roscoe der einzige Lichtblick. Diese enge, schicksalhafte Verbindung zwischen den beiden Familien setzte sich in den nächsten Generationen fort. Folgerichtig ist es Hannahs knapp 50-jähriger Enkel Sanders Roscoe, der im Frühjahr 1977 Ediths Lebensgeschichte mit viel Zuneigung und Bereitschaft zu ihrer Verteidigung erzählt. Es ist der Bericht über eine liebenswerte Frau, die ein hartes, enges Leben führte, nie für ihre Belange eintrat, ihre Zukunft, Liebe und Freiheit in demütigem Pflichtbewusstsein den Interessen ihres Vaters und ihres jüngeren Bruders Lyman opferte, dennoch stets ihre stille Würde bewahrte, die freudigen Momente aus vollem Herzen genoss und nun mit 80 Jahren unter einer schwerwiegenden Anklage steht.

© B. Busch

Ein schmales großes Werk
Kent Haruf hat mit dem unspektakulären Präriestädtchen Holt eine Bühne für seine universellen und zeitlosen Themen wie Pflichtbewusstsein und Würde, Einsamkeit und Ignoranz, Nächstenliebe, Menschlichkeit, Herzenswärme und Großzügigkeit, Gruppendynamik, Leidenschaft und Mut, Familienbeziehungen und Freundschaft, Enge und Weite geschaffen. Alle Holt-Romane sind packend und fangen das Prärieleben großartig atmosphärisch ein. Mit viel Empathie, einer zu den Menschen passenden schmucklosen, derben Sprache, in gemächlichem Tempo, voller schmerzhafter Traurigkeit und sanftem Humor und ohne jede kitschige Landleben-Romantik erzählt Kent Haruf ohne zu verurteilen bewegende menschliche Dramen mit tragischen, glaubwürdigen Heldinnen und Helden der High Plains.

Schade nur, dass Kent Haruf kein umfangreicheres Werk hinterlassen konnte. So bleibt nichts anderes übrig, als die sechs Holt-Romane irgendwann erneut zu lesen. Ich freue mich drauf!

Kent Haruf: Das Band, das uns hält. Aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Kent Haruf auf diesem Blog:
         

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

  „Die Moral ist in jedem Zeitalter das, was der herrschenden Klasse nutzt“

Romane über Dachbodenfunde anlässlich der Auflösung elterlicher oder großelterlicher Häuser gehören nicht zu meinen bevorzugten Lektüren, allzu abgedroschen ist das Thema inzwischen. Ist die Entdeckung jedoch der Roman selbst, wie bei dem 70 Jahre lang verschollenen Manuskript Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann des Ungarn János Székely (1901 – 1958), wird es richtig spannend. Er verließ sein Heimatland 1918 auf der Flucht vor dem Weißen Terror des Horthy-Regimes, arbeitete erfolgreich als Drehbuchautor in Berlin, emigrierte 1938 nach Hollywood, erhielt 1940 einen Oscar, veröffentlichte 1946 seinen bekanntesten Roman Verlockung und ging während der McCarthy-Ära wie viele Kunstschaffende ins mexikanische Exil. Dort entstand höchstwahrscheinlich das Manuskript, dessen englische Fassung der Übersetzer und Autor Tony Kahn 2020 auf seinem Dachboden in Truro, Cape Cod, fand und Székelys Tochter Katherine Frohriep übergab. Nun ist es erstmals im Diogenes Verlag auf Deutsch erschienen, mit reichem Anhang und als Übersetzung der englischen Übersetzung, denn das ungarische Original ist weiterhin verschollen.

Götterdämmerung
Der Romans spielt hauptsächlich in einer heißen Sommernacht 1944, als die Ungarn, je nach Gesinnung, die endgültige Niederlage der deutschen Wehrmacht herbeisehnten oder fürchteten. Ergänzend gibt es ausführliche Rückblenden und einen kurzen Epilog über das weitere Schicksal der wichtigsten Personen.

Ein Bogen über sieben Jahrhunderte
1944 geht es dem bäuerlichen Stand genauso schlecht wie seit 700 Jahren, die Herren wechselten, nicht jedoch die elenden Bedingungen. Im fiktiven Dorf Kákásd gewährt der wortkarge Bauer János Garas zwei Zigeunern – die editorische Notiz erklärt die ausnahmsweise Verwendung dieses Begriffs – Unterschlupf vor den Nazi-Schergen und ihren ungarischen Handlangern. Die aufgeweckte junge Wanderzigeunerin Julka, mangels Alternativen zum Wahrsagen und zur Prostitution verdammt, und der eitel-überhebliche Zigeuner-Primas Marci Balogh VI lernten sich bei der Flucht aus einem KZ-Deportationszug kennen. Sie stellen sich Garas als Geschwister vor, Julka lebt fortan bei ihm im Haus und bezahlt dafür mit ihrem Körper, Marci, rasend verliebt, findet sich im Stall wieder, bis Garas ihm eine Stelle als Geiger im Bordell vermittelt. Während sich im Dreiecksverhältnis unter Garas‘ Dach die Vorzeichen allmählich ändern, zittert die unter dem Schutz des dekadenten, nur noch als Verwalter im ehemals familieneigenen Schloss beschäftigten Grafen Tamás Boncza stehende jüdische Familie Stern/Rosenberg um ihr Leben, beginnt Marci eine gefährliche Affäre mit Nusi, der Frau des neuen Schloss-Pächters, Nazi-Massenmörders und Vize-Ministers Lóránt Barankay und planen die Bauern, getrieben von jungen Kriegsrückkehrern, den ersten Streik seit 700 Jahren:

Man hatte ihnen befohlen, Menschen zu ermorden, die ihnen nichts getan hatten, sodass sich jetzt ihre Mordlust gegen die wandte, die ihnen jahrhundertelang nichts als Leid angetan hatten. (S. 276)

© B. Busch

Die Welt verstehen
János Székelys Verlockung gehört für mich zu den ganz großen, unvergesslichen Romanen der Weltliteratur. Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann reicht nicht ganz an dieses frühere Werk heran, fehlt ihm doch merklich ein Lektorat. Viel zu lang und quälend detailliert sind für mich die Kapitel über die Sexbesessenheit Marcis im ersten Teil und auch der interessante politische Diskurs in der zweiten Hälfte hätte von einer Straffung profitiert. Trotzdem ist auch dieser Roman unbedingt lesenswert. Er strahlt durch seine vielen Einzelschicksale und zeigt am Mikrokosmos eines Dorfes das Schicksal Europas:

[…] du kannst die Welt nicht verstehen, wenn du Kákásd nicht verstehst. (S. 438)

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Herausgegeben von Silvia Zanovello. Mit einem Nachwort von Sacha Batthyany und einer Erinnerung von Katherine Frohriep geb. Székely. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezension zu einem Roman von János Székely auf diesem Blog:

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere

  Kampf an allen Fronten

Schwedische Romane in deutscher Übersetzung sind zumeist entweder Krimis oder Wohlfühlliteratur aus einem vermeintlichen Sehnsuchtsland. Letzteres könnte man auch bei Das Leuchten der Rentiere vermuten, klingt der Titel doch nach intakter Natur und Polarlichtromantik, doch bewahrt der Blick auf den Originaltitel Stöld, Diebstahl, vor einem Irrtum. Der 2021 in Schweden erschienene erste Roman für Erwachsene der aus einer Sámifamilie stammenden, 1971 in Kiruna geborenen Journalistin und erfolgreichen Kinder- und Jugendbuchautorin Ann-Helén Laestadius kreist um die aktuelle Lebenssituation dieser schwedischen Minderheit. Der in ihrer Heimat zum Bestseller avancierte, als Årets bok 2021 ausgezeichnete Roman greift die existenzgefährdenden Bedrohungen dieser auf Schweden, Norwegen, Finnland und Russland verteilten einzigen indigenen Bevölkerungsgruppe Europas auf und macht sie sichtbar:

Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht. (S. 213)

Ende der heilen Kinderwelt
Der Roman beginnt im Winter 2008 mit einem traumatischen Erlebnis, welches das behütete Aufwachsen der neunjährigen Sámi Elsa schlagartig beendet. Als sie zum ersten Mal alleine auf ihren neuen Skiern zum Rentiergehege ihrer Familie kommt, überrascht sie dort einen brutalen schwedischen Wilderer aus dem Nachbardorf, der ihr Rentierkalb Nástegallu getötet hat:

Alles hatte sich verändert, nachdem sie Nástegallu tot aufgefunden hatte. Als die Erwachsenen die brutale Realität nicht mehr verbergen konnten […] (S. 330)

Eingeschüchtert von seinen Drohungen, schweigt Elsa und die Polizei legt die Anzeige, wie so viele andere zuvor und danach, zu den Akten. Ihre Schuldgefühle wird sie nie wieder los:

Alles wäre anders gekommen, wenn ich mich getraut hätte, etwas zu sagen. (S. 416)

© Hintergrund: M. A. Busch, Collage: B. Busch

Zehn Jahre danach
Der zweite und dritte Buchteil spielen im Spätherbst 2018 und im Frühlingsommer 2019. Bei Elsas Rückkehr ins Dorf nach dem Abitur ist alles unverändert: Wilderer, vor allem der ihr bekannte Robert Isaksson, quälen und töten weiterhin Rentiere und handeln illegal mit ihrem Fleisch, weitgehend unbehelligt von der teils überforderten, teils desinteressierten Polizei, die die Taten zum Unverständnis der Sámi als Diebstähle, nicht als Morde betrachtet. Der Klimawandel bedroht die traditionelle Rentierwirtschaft genauso wie die Umweltzerstörung durch Bergbauunternehmen und die feindselige Unwissenheit der nicht-samischen Bevölkerungsmehrheit, trotz eigener samischer Schule sind Kinder wie Eltern strukturellem Rassismus ausgesetzt und die samische Kultur wird auf touristische Folklore reduziert. Psychische Erkrankungen und Selbstmorde sind alltäglich. Gleichzeitig wird Elsas Mutter als „Ringvu“, die nicht im samischen Sippenbuch steht, trotz aller Anstrengungen nie voll akzeptiert und Elsa, die für die Rentierherden brennt, von den patriarchalen Strukturen ausgebremst. Doch Elsa ist nicht mehr das kleine ängstliche Mädchen, sie möchte sich nie mehr einschüchtern lassen und kämpft trotz des Gegenwinds aus allen Richtungen für ihre eigene Zukunft und die ihrer Volksgruppe – bis auch sie an ihre Grenzen stößt…

Ruhig und einfühlsam erzählt
Ich habe Das Leuchten der Rentiere, das eine mir gänzlich unbekannte Seite Schwedens vorstellt, von Beginn an mit großer Begeisterung gelesen, zunächst vor allem wegen der faszinierenden Beschreibungen samischen Lebens und der Landschaft, später auch wegen der dramatisch zugespitzten Spannung. Sehr gekonnt verknüpft Ann-Helén Laestadius die hoffnungsvolle Entwicklungsgeschichte ihrer sympathischen Heldin mit dem weitgehend unbekannten Schicksal der Sámi und wirbt eindrucksvoll für deren berechtigte Interessen.

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe 2022
hoffmann-und-campe.de

Percival Everett: Erschütterung

  Nicht das erwartete Highlight

Wenn man über das Wohlergehen des eigenen Kindes spricht, gibt es nur eine gute Nachricht: dass hundertprozentig alles in bester Ordnung ist. (S. 76)

Was aber, wenn es das plötzlich nicht mehr ist? Bei Zach Wells, dem schwarzen Ich-Erzähler und Professor für Geologie/Paläobiologie an einer kalifornischen Universität und seiner Frau Meg, Dozentin und Lyrikerin, schleicht das Unheil sich als böse Vorahnung ein. Einzig die Liebe zu seiner zwölfjährigen Tochter Sarah lenkte Zach bisher von seiner gepflegten Langeweile in Beruf und Ehe ab. Die kühle Distanziertheit und soziale Inkompetenz, die er gegenüber Studenten, Kollegen, seinem Job und seiner Frau an den Tag legt und auf die er sogar stolz zu sein scheint, steht im krassen Gegensatz zur Liebe zu seinem einzigen Kind. Doch nun muss der nüchterne, lösungsorientierte Wissenschaftler und bislang zynische, selbst-ironische Misanthrop akzeptieren, dass nichts und niemand seiner Tochter helfen kann. Sarah leidet an einer seltenen, durch einen Gendefekt ausgelösten neurologischen Erkrankung namens Batten-Syndrom, sie wird langsam vor den Augen ihrer hilflosen Eltern sterben.

„Ayúdame“
Parallel zur katastrophalen Diagnose erhält Zach eine ganz andere Nachricht: Beim Onlinekauf einer gebrauchten Jacke über Ebay findet er in deren Tasche einen Zettel mit dem Wort „Ayúdame“, „Hilf mir“. In einer Art Übersprungshandlung macht er, der seiner Tochter nicht helfen kann, sich auf die Suche nach dem anonymen Verfasser oder der Verfasserin und stößt auf verschleppte mexikanische Arbeitssklavinnen in New Mexico. Nicht eine plötzlich entflammte Empathie löst diese Hilfsbereitschaft aus, sondern der Wunsch, sich seiner eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern.

© B. Busch

Von allem zu viel
Hätte es Percival Everett bei diesen beiden Handlungssträngen belassen, der beeindruckend unsentimentalen Krankheitsgeschichte und dem etwas übertrieben abenteuerlichen Krimi und Roadmovie um die Mexikanerinnen, der Roman hätte mir vermutlich deutlich besser gefallen. Doch Erschütterung  ist zusätzlich ein typisch amerikanischer College-Roman, der unter anderem dem dramatischen Schicksal einer jungen Professorenkollegin folgt, ein Roman um die sexuellen Fantasien eines Mannes in der Midlifekrise, Vater-Tochter- und Ehe-Geschichte sowie ein gesellschaftspolitisches Buch zu Themen wie Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Suizid und Kriminalität – auf gerade einmal 285 Seiten. Darüber hinaus packt Percival Everett so viel sprachliche Kabinettsstückchen hinein, dass ich irgendwann keine Lust mehr hatte, mir Gedanken über die Bedeutung der Einschübe zu Zachs Forschungen, zu kryptischen Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben, zu lateinischen Zitaten oder dem nervtötenden „In New Mexico war es heißer“ zu machen, aus dem schließlich „In Texas war es genauso heiß“ wird. Als zusätzlicher Gag existieren drei Versionen des Buchs mit kleinen Abweichungen und leicht verändertem Schluss. Dies alles trug ihm das höchste Lob des Feuilletons ein, für mich war es jedoch eindeutig von allem zu viel.

Besser lesen als hören
Ich habe den Roman in erster Linie gehört, ungekürzt, auf zwei mp3-CDs in etwa neun Stunden, gelegentlich jedoch ergänzend ins Buch geschaut. Leider konnte mich Christian Brückner als Sprecher hier erstmals nicht überzeugen, passt doch seine Stimme für mich nicht zu einem schwarzen, vitalen Mitvierziger und gleich gar nicht zu einer Zwölfjährigen.

Schade, denn nach den allgemeinen Lobeshymnen hatte ich ein echtes Highlight erwartet. Ich werde dem 1956 geborenen, hochgelobten amerikanischen Vielschreiber Percival Everett trotzdem irgendwann eine zweite Chance geben, dann allerdings lesend.

Percival Everett: Erschütterung. Übersetzung: Nikolaus Stingl. [Sprecher:] Christian Brückner. Parlando 2022
www.argon-verlag.de

Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin

  Ein herausragendes Debüt

In der vorpommerschen Kleinstadt Demmin kam es beim Einzug der Roten Armee im Frühjahr 1945 zu einem beispiellosen Massensuizid mit geschätzten 500 bis 1000 oder mehr Ziviltoten. Hier hat die 1988 in Hamburg geborene Autorin Verena Keßler ihren bereits 2020 erschienenen Debütroman angesiedelt, nicht als historischen Roman, sondern in der Gegenwart spielend, in der die Tragödie noch immer nachwirkt.


Zeitzeugen und Nachgeborene
In Nachbarhäusern leben die 90-jährige Lore Dohlberg und die 15-jährige Neuntklässlerin Larry mit ihrer alleinerziehenden Mutter. Kontakt gibt es kaum, doch beobachtet Frau Dohlberg das Mädchen bei waghalsigen Überlebensübungen in Vorbereitung auf eine Karriere als Kriegsreporterin und Larry sieht die alte Frau abends allein am Küchentisch.

Jung…
Die Mehrzahl der Abschnitte wird aus Larrys Ich-Perspektive erzählt. Wie für ausnahmslos alle im Roman spielt der Tod eine große Rolle in ihrem Leben. Sie und ihre Eltern sind gleich doppelt belastet: einerseits durch das generationenvererbte Kriegstrauma, andererseits durch den Tod ihres Bruders unmittelbar vor ihrer Geburt, an dem die Familie zerbrach. In ihrer Freizeit jobbt Larry ausgerechnet auf dem Friedhof, säubert Gräber und Wege, auch das Massengrab:

Es ist nicht so, dass ich das Massengrab gruselig finde. Und Angst hab ich schon gar nicht. Sind schließlich alle tot. Aber ich stell mir immer vor, dass die da unten kreuz und quer liegen, die Füße des einen im Gesicht des anderen, und dann bekomme ich so ein enges Gefühl und würde am liebsten ein Stück rennen, einfach nur, weil ich’s kann. (S. 21/22)

© B. Busch. Foto von Verena Keßler anlässlich der Lesung aus ihrem 2023 erschienenen zweiten Roman „Eva“ am 7. Mai 2023 in Ulm.

Über all das wird meist geschwiegen, und so braucht Larry ein Ventil in Form eines vorbereitenden Überlebenstrainings für die Kriegsreporterkarriere. Dazu schaut sie sich gruselige Dokus an, hängt kopfüber vom Baum, hält die Hand ins Eiswasser, sperrt sich ein oder liegt Probe in einem ausgehobenen Grab, immer gegen die Stoppuhr und mit dem Ziel der Schmerzunempfindlichkeit.

… und Alt
Während Larry von einer Zukunft außerhalb der verschlafenen Kleinstadt träumt, muss Frau Dohlberg, deren Abschnitte personal erzählt werden, für den Umzug ins Seniorenheim ihr Elternhaus ausräumen:

Das Haus klingt anders mit jedem Stück, das aus ihm verschwindet. (S. 166)

Umso heftiger kehren die Erinnerungen zurück:

Als sie die Augen schließt, sind sie wieder da, die Bilder. Jahrelang waren sie weg, jetzt kommen sie wieder, immer häufiger, rauschen vorbei, die Leichen im Fluss. (S. 15)

Trotzdem keine niederdrückende Lektüre
Überall in diesem Roman wird gestorben und getrauert, dennoch habe ich ihn nicht als niederdrückende Lektüre empfunden, nicht nur wegen der Hoffnungszeichen am Ende. Das liegt an Verena Keßlers sparsamer Erzählweise, die mit viel Empathie für jede Figur einerseits den tiefen Schmerz aufnimmt und das Grauen klug strukturiert häppchenweise enthüllt, andererseits an Larrys lässig-cool, oft zynisch und humorvoll erzählter Teenagerrebellion. Im Gegensatz zu Als Großmutter im Regen tanzte von Trude Teige, das ebenfalls vom Demmin-Trauma handelt, fehlt hier jeder Kitsch, sitzt jeder Satz, sind die Dialoge gelungen und wird nicht alles auserzählt und gedeutet, weshalb mich Die Gespenster von Demmin ungleich mehr berührt hat.

Ein höchst empfehlenswerter Debütroman über verdrängte Erinnerung, Sprachlosigkeit, Trauer, Tod und Einsamkeit, für Erwachsene und ältere Jugendliche gleichermaßen geeignet.

Verena Kessler: Die Gespenster von Demmin. dtv 2023
www.dtv.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman über Demmin auf diesem Blog:

Saša Stanišić: Wolf

  Ein „andersiger“ Kinderroman

Sätze, die meine Mutter mit «übrigens» beginnt, enden nicht gut für mich. (S. 11)

Die Skepsis des Ich-Erzählers Kemi ist berechtigt, denn auf das „Übrigens“ der Mutter zu Beginn des Kinderromans Wolf von Saša Stanišić folgt eine Horrorankündigung: eine Woche Ferienlager im Wald mit Schulkameraden, alternativ Ferienbetreuung in der Schule. Da letzteres für Kemi ausscheidet und die alleinerziehende Mutter keinerlei Diskussionsbereitschaft signalisiert, gibt es kein Entrinnen, trotz Kemis Aversion gegen Mücken, Zecken, Brennnesseln, Dickicht, Waldromantik, Lagerfeuer und die Natur allgemein. Ehrlich gibt er zu:

tter sind okay. Ist auch echt nicht einfach mit mir. (S. 15)

Zwei Außenseiter
Zusammen mit 40 Gleichaltrigen geht es im Bus nach Brandenburg, Begleitpersonal inklusive. Kemi macht aus seiner Abneigung sogleich kein Geheimnis:

«Ich freue mich auf nichts», sage ich gleich als Erster. «Ich lehne die Natur ab.» (S. 28)

Mit dieser Aussage verunsichert Kemi die Betreuerriege und festigt seine Reputation als notorischer Meckerer, der „alles mit Teilnehmerzahl größer eins verweigert“ (S. 107), stattdessen lieber liest und über die Börse diskutiert. Wäre da nicht Jörg mit seinen großen Ohren, dem uncoolen Rucksack und der altmodischen Ausdrucksweise, Kemi wäre das perfekte Mobbingopfer. So aber steht Jörg im Fokus der Schikanen der drei „Idioten in baugleichen Steppwesten(S. 17): Marko und die Dreschke-Zwillinge. Messerscharf analysiert der kluge Beobachter die Lage seines Hüttenpartners Jörg:

Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein. (S. 34)

Eigentlich ist das Verhalten gegenüber dem netten Jörg, der nie aufmuckt und an jeder Aktivität freudig teilnimmt, wie immer, aber nun kann Kemi nicht ausweichen. Das schlechte Gewissen, weil er ihm nicht beisteht, und die Angst, selbst in den Fokus der Dreierbande zu geraten, verfolgt ihn bis in seine Albträume, in denen ihn ein großer, schlanker, grauer Wolf mit gelben Augen heimsucht.

© B. Busch

Ein Koch mit Durchblick
Wäre Wolf ein normaler Kinderroman, das Happy End wäre absehbar: die Quäler eingenordet, die beiden Außenseiter beste Freunde und integriert. Aber Wolf ist ebenso „andersig“ wie Jörg oder Kemi, was bei dem 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Saša Stanišić kaum überrascht. Er scheint – wie sein Protagonist – gute und darum realitätsfremde Enden abzulehnen und beschränkt sich stattdessen auf hoffnungsvolle Zeichen und Raum für Fantasie. Niemand kehrt unverändert nach Hause zurück, nicht die Kinder und nicht die Betreuerinnen und Betreuer, die sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Wie in der Schule reagiert auch hier ein Nicht-Pädagoge am hilfreichsten: der coole und empathische Koch mit der abgefahrenen Schläfentätowierung und dem Durchblick, meine absolute Lieblingsfigur.

Ein echter Stanišić
Wolf ist mehr als ein äußerst origineller, oft witziger Kinder- und Jugendroman ab frühestens elf Jahren, er ist unbedingt auch für pädagogisches Fachpersonal und Eltern empfehlenswert. Der typisch schräge Stanišić-Humor, seine Sprachspielereien, der Verzicht auf den erhobenen Zeigefinger und der lakonisch-pessimistische Blick des selbstreflektierten Kemi machen die schweren Themen Mobbing, Feigheit und Mut, Freundschaft, Gruppendynamik und Wut erträglich, genau wie die sehr zahlreichen atmosphärisch stimmigen, umwerfend gelungenen gelb-schwarzen Illustrationen von Regina Kehn.

Saša Stanišić: Wolf. Mit Bildern von Regina Kehn. Carlsen 2023
www.carlsen.de

 

Weitere Rezensionen zu einem Buch bzw. Hörbuch von Saša Stanišić auf diesem Blog:

 

Gwendolyn Brooks: Maud Martha

  Rassismus, Klassengesellschaft und Patriarchat

Unter dem Motto Mehr Klassikerinnen veröffentlicht der Verlag Manesse Werke von Frauen, berühmten Autorinnen genauso wie vergessenen oder sogar bisher nicht ins Deutsche übersetzten. Zu letzteren gehört die US-Amerikanerin Gwendolyn Brooks (1917 – 2000), die 1950 als erste Schwarze den Pulitzerpreis in der Kategorie Lyrik und später zahlreiche weitere Auszeichnungen erhielt.

Während die Gedichte bis heute nicht auf Deutsch vorliegen, hat Andrea Ott nun ihren einzigen Roman Maud Martha von 1953 übersetzt. Er besteht aus 34 Einzelgeschichten um die gleichnamige Protagonistin, überwiegend aus ihrer Sicht erzählt und autobiografisch inspiriert. Die „Vignetten“, wie Daniel Schreiber sie in seinem sehr erhellenden Nachwort nennt, die man größtenteils auch als unabhängige Kurzgeschichten lesen könnte, werfen Schlaglichter auf den alltäglichen Rassismus, die Klassengesellschaft, insbesondere das Arbeitermilieu, und die patriarchalische Familienordnung in den 1920er-Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Kindheit, Jugend, Ehe, Mutterschaft
In der ersten Vignette ist Maud Martha sieben Jahre alt:

Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet. Und Löwenzahn. (S. 7)

© B. Busch

In den Löwenzahnblüten sieht sich das wenig selbstbewusste Kind gespiegelt, sind sie doch ebenso gewöhnlich, verzieren aber als „gelbe Halbedelsteine“ das „geflickte grüne Kleid ihres Hinterhofs“ (S. 7). Maud Martha wünscht sich, geliebt zu werden, etwas zu erschaffen und „der Welt einfach eine gute Maud Martha schenken“. (S. 21)

Die einzelnen Kapitel handeln von Maud Marthas Kindheit, während derer sie sich stets hinter der hellhäutigeren, charmanteren zwei Jahre jüngeren Schwester und „Königin“ Helen zurückgesetzt fühlt, von finanziellen Schwierigkeiten der Eltern, ersten Verehrern sowie ihrem Traum von New York und einem „gediegenen“ Zuhause, der mit der Eheschließung mit Paul und dem Bezug einer armseligen „Kitchenette“ im Chicagoer Stadtteil South Side zerplatzt. Die eheliche Desillusionierung schiebt sie beharrlich auf ihre dunkle Hautfarbe und das Kraushaar, die ihrer Ansicht nach ihren etwas hellhäutigeren Mann stören müssen, nicht auf ihren offensichtlich unterschiedlichen Intellekt: Während sie William S. Maugham liest, studiert Paul „Sex in the Married Life“.

Szenen mit Gänsehaut-Effekten
Dem Text merkt man die Lyriker an, insbesondere bei den kreativen Farbadjektiven und Bildern. Zwar hätte ich mir einen weniger fragmentierten und ausführlicheren Text gewünscht und Maud Marthas Beteuerung, das Leben eher als Komödie denn als Tragödie zu sehen, konnte ich über weite Strecken nicht nachvollziehen. Trotzdem berühren viele Vignetten stark, so eine diskriminierende Szene im Hutladen, den Maud Martha trotzdem würdevoll verlässt, oder die vorletzte Geschichte, in der ihre geliebte Tochter Paulette im Kaufhaus von Santa Claus ignoriert wird und der Mutter aufgeht, dass sie ihr die grausame Wahrheit über die Diskriminierung nicht mehr lang verheimlichen kann. Stark sind auch die Charakterisierung der Mitbewohnerinnen und –bewohner des Mietshauses und Maud Marthas deprimierender Arbeitsversuch als Hausmädchen. Überrascht hat mich der Rassismus innerhalb der schwarzen Community aufgrund unterschiedlicher Teints.

Die Entdeckung dieses modernen Klassikers über eine in eng gesteckten Grenzen widerständige, wütende und doch nicht verzagte Frau, die sich nicht ihrer Würde berauben lässt, lohnt daher sehr.

Gwendolyn Brooks: Maud Martha. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andrea Ott. Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber. Manesse 2023
www.penguinrandomhouse.de

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen

  Ein kleiner Ort der Hoffnung

 

 

Es ist keineswegs Unzufriedenheit mit seinem Leben als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt in der Wiener Leopoldstadt, die den 31-jährigen Robert Simon im Spätsommer 1966 antreibt, vielmehr eine aufflammende Sehnsucht in einer von Aufbruchsstimmung durchdrungenen Stadt:

Eine Zeit lang arbeitete er als Abräumer und Fetzenbursch in den Pratergastgärten, und vielleicht war es hier, wo sich in ihm […] zum ersten Mal der Keim einer Sehnsucht regte: etwas zu tun, das seinem Leben eine entscheidende Bekräftigung gab. Einmal hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen. (S. 18)

Noch sind Spuren der kompletten Zerstörung des Markts im Zweiten Weltkrieg in diesem ehemals jüdischen Viertel zu sehen, das jetzt zu den schmutzigsten und ärmsten der Hauptstadt gehört, Wohnort kleiner Leute, Arbeiter, Handwerker, Ladenbesitzer, Tagelöhner. Trotz der Angst vor dem Unbekannten und Respekt vor dem unternehmerischen Risiko wagt Robert Simon, moralisch unterstützt von seiner Zimmerwirtin, der alten Kriegerwitwe Martha Pohl, und seinem Freund, dem Metzgermeister Johannes Berg, den Schritt in die Selbstständigkeit und pachtet das düstere, heruntergekommene Marktcafé. 15 Stunden schuftet er an jedem Tag der Woche, immer müde und erschöpft, oft in Sorge um das wirtschaftliche Überleben seines Herzensprojekts, anfangs allein, dann mit seiner Angestellten Mila. Doch erfüllt ihn eine bisher unbekannte Kraft, er liebt seine nie endende Arbeit und den bunten Haufen genügsamer Gäste, die sich bei Heißgetränken, Himbeersoda, Alkoholika, Schmalzbroten und Salzgurken bald regelmäßig bei ihm einfinden mit ihren Geschichten, Sorgen, Nöten, kleinen Freuden und Herzenswünschen:

Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen dachte die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden. (S. 71)

© B. Busch

Heimat der Abgehängten
Der 1966 in Wien geborene Robert Seethaler erzählt in seinem Roman Das Café ohne Namen wie so oft von Menschen an den Rändern der Gesellschaft, in diesem Fall von denen, die nicht am großen Aufschwung der Wirtschaftswunderzeit partizipieren und sich mit Fatalismus durchs Leben schlagen:

Es kommt und geht sowieso alles, wie es will. (S. 162) 

Wie ein Hintergrundrauschen ziehen die Veränderungen zwischen 1966 und 1976 durch diese Milieustudie, Politikernamen, Bauprojekte, die Ankunft von Gastarbeitern, die Konkurrenz chinesischer Unternehmen und das Spekulantentum, dem das Café schließlich zum Opfer fällt. Parallel zum Einsturz der Reichsbrücke im Sommer 1976 wird ein rauschendes Abschiedsfest gefeiert. Angst um Robert Simon, der die Schließung wie alles andere hinnimmt, habe ich trotz allem nicht, eher schon um seine Gäste, für die das Café zur zweiten oder gar ersten Heimat geworden ist.

Ein typischer Seethaler
Im typisch melancholischen Seethaler-Sound, verhaftet in der Gegenwart der 1960er- und 1970er-Jahre, unsentimental, ohne Ausschmückungen oder Idealisierungen und mit wertschätzender Anteilnahme, geht es um einen Protagonisten, dem der Autor seinen Vornamen und seine Initialen gegeben hat, und Cafébesucher, die einem trotz Macken und Charaktermängel ans Herz wachsen. Man belauscht Gespräche, verfolgt Lebensläufe, freut sich an gelegentlichem kleinem Glück oder leidet mit bei den weit häufigeren Schicksalsschlägen, fast so, als wäre man selbst unter den Gästen.

Obwohl Ein ganzes Leben aus dem Jahr 2014 für mich der unerreicht beste Roman von Robert Seethaler bleibt, gehört Das Café ohne Namen zu meinen Lese-Highlights 2023.

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Claassen 2023
www.ullstein.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Robert Seethaler auf diesem Blog: