Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund

Zusammen stark

Für absolute Leseanfänger sind die Erstleserbücher der ersten Lesestufe nach der Silbenmethode aus der Reihe Leserabe sehr empfehlenswert. Die große Fibelschrift, kurze Textabschnitte mit maximal sieben kurzen Zeilen im Flattersatz, überwiegend ein- und zweisilbige Wörter und die farblich abgesetzen Silben machen das Lesenlernen einfach und verhelfen den Leseanfängern zu ersten Erfolgserlebnissen. Durch die farbige Aufteilung der Wörter in Buchstabengruppen werden die Wörter strukturiert und ihr Sinn ist leichter zu erfassen. Mit Hilfe der Rätselfragen am Ende des Buches können die Kinder ihr Leseverständnis zusätzlich testen.

Ein inhaltlich besonders gelungener Band aus dieser Reihe, die in einer Kooperation zwischen dem Ravensburger Buchverlag und dem Mildenberger Verlag erscheint, ist Der kleine Drache und der Monsterhund von Inge Meyer-Dietrich, wunderbar textunterstützend illustriert von Almud Kunert.

Das kleine Drachenmädchen Fuego wird eingeschult. Schule wäre so schön, wenn sie auf dem Schulweg nicht an einem Monsterhund vorbei müsste. Vor lauter Schreck kann sie jedes Mal weder Feuer speien noch fliegen und kommt zu spät. Erst als sich herausstellt, dass ihr neuer Freund und Banknachbar Alev die gleiche Angst hat, zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Denn es wäre doch gelacht, wenn die beiden aufgeweckten Drachenkinder zusammen ihre Angst nicht  besiegen könnten!

Ein ausgesprochen hübsches, empfehlenswertes Erstleserbuch.

Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund. Ravensburger Buchverlage 2015
www.ravensburger.de

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Das Schicksal der Götzen

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Vom Entkommen und Verschwinden

2011 in Italien erschienen, ist der erste der auf insgesamt auf vier Bände angelegten Neapolitanischen Saga der Kindheit und Jugend der beiden Protagonistinnen Elena und Lila gewidmet. Elena hat sich nach 60 Jahren der Freundschaft entschlossen, ihre gemeinsame Geschichte niederzuschreiben, anzuschreiben gegen das Vergessen, denn Lila ist im Alter von 66 Jahren plötzlich verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, ihr Leben einfach auslöschend.

Die beiden sehr unterschiedlichen Mädchen wachsen in den 1950- und 60er-Jahren im Rione auf, einem armen Stadtteil Neapels, in dem ein „Klima abstrakter Spannungen“ herrscht, „wo jedes Gesicht und jede Straße krankhaft blass geblieben waren“ und wo die Kinder das Meer noch nie gesehen haben. Armut, Gewalt, Tod, die Camorra, uralte Fehden und Bildungsferne bestimmen den Alltag. Schon bald sind die beiden Freundinnen entschlossen, diesem Leben irgendwann zu entkommen. Bildung wäre ein Weg aus dem Ghetto, doch gerade der hochbegabten Lila bleibt dieser Weg durch die Sturheit und Ignoranz ihrer Eltern verwehrt. Die Eltern der ebenfalls begabten Ich-Erzählerin Elena trauen sich dagegen nicht, gegen die Lehrerin aufzubegehren, so dass Elena die Mittelschule, später sogar das Gymnasium, die „Schule für die feinen Leute“, besuchen darf. Lila versucht zunächst, am Latein- und Griechischstudium ihrer Freundin teilzuhaben, erkennt aber irgendwann die Aussichtslosigkeit und träumt nun davon, die Schusterwerkstatt des Vaters und Bruders zu einer exklusiven Schuhfabrik zu machen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, das Beste aus dem Rione zu machen: eine vergleichsweise reiche Heirat, mit der die 16-jährige Lila zur „Jacqueline Kennedy des Rione“ wird. Elena aber ist dies zu wenig. Sie, die sich im Vergleich zu ihrer Freundin als bebrilltes, unattraktives Mädchen mit muffigen Gebrauchtbüchern empfindet, möchte dem Rione, der Welt ihrer Eltern,ö ganz und gar entkommen.

Was haben deutsche Kritiker diesem Roman, der weltweit auf vielen Bestsellerlisten stand und steht und im Ausland hochgelobt wurde, nicht alles vorgeworfen: Trivialität, Marketing-Theater, Hochmütigkeit der Ich-Erzählerin, fehlende Poetik und vieles mehr. Sicher, den Hype um die nur als Phantom existierende Autorin, „die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur“, finde ich auch überzogen, aber die anderen Kritikpunkte kann ich ganz und gar nicht teilen. Für mich ist Meine geniale Freundin ein ausgezeichneter, gehobener Unterhaltungsroman, kitschfrei und in einer schnörkellosen, aber bildreichen Sprache verfasst, eine sehr dichte Milieustudie über eine fast archaisch anmutende Gesellschaft, eine Freundschaftsgeschichte mit allen Facetten des Themas Freundschaft, eine sehr gelungene Pubertätsgeschichte, ein Roman über Bildung und eine Emanzipationsgeschichte in einer Umgebung von Machos.

Klar, dass ich auch den nächsten Band lesen werde, nicht nur wegen des Cliffhangers am Ende!

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

Der Jugend Brockhaus Geschichte

Für geschichtsinteressierte Jugendliche

Dieser Themenband des Jugend-Brockhaus ist zwar schon ein paar Jahre alt, trotzdem möchte ich ihn für geschichtsinteressierte Jugendliche ab ca. 12 Jahren unbedingt empfehlen.

Die 16 Kapitel sind zeitlich angeordnet von „7 Mio. Jahre v. Chr.“ bis „Unsere Zeit und der Weg in die Zukunft“ und umfassen je eine Panormaseite, eine Einführungsseite mit Zeitleiste und ein Alphabet weit gefasster Schlagwörter. Daneben gibt es Infoboxen zur Vertiefung und zum „Leben damals“, Quizboxen, Quellentexte und Biografien.

Übersichtlich angeordnet, reich bebildert, mit gut verständlichen Texten und einem ausführlichen Stichwortverzeichnis hat der Band die Qualität, die man von einem Produkt aus dem Hause Brockhaus erwartet.

Der Jugend Brockhaus Geschichte. wissenmedia 2007

Christian Dreller: Die drei Musketiere

Einer für alle – alle für einen

Wie bringt man Jungs zum Lesen? Der S. Fischer Verlag versucht es in seiner Erstleserreihe Helden-Abenteuer, die natürlich exklusiv nur für Jungs ist, mit Action, coolen Illustrationen und starken Helden. Die Bände der Reihe richten sich an junge Leser ab Klasse zwei, die Schrift ist dementsprechend groß gewählt und es gibt viele Bilder im Comicstil, jedoch ist die Textmenge schon umfangreicher als bei den Büchern für Leseanfänger. Rätsel, ein Zusatztext, ein Wörterverzeichnis und Extraseiten zum Mitmachen ergänzen die Bände der Reihe.

Im hier vorliegenden vierten Band der Reihe Helden-Abenteuer wird die Geschichte des 18-jährigen d’Artagnan erzählt, der sich mit seinem Klappergaul auf den Weg nach Paris zur legendären Leibwache des Königs, den Musketieren, macht. Schon unterwegs muss er ein Abenteuer bestehen, doch kaum in Paris angekommen, wird es noch turbulenter: drei Duellforderungen von den Musketieren Aramis, Athos und Porthos in fünf Minuten sind rekordverdächtig! Doch dann kommt es statt der Duelle zu einem Kampf gegen die Musketiere des Kardinals Richelieu und d’Artagnan erhält die Chance, sich an der Seite seiner drei Herausforderer zu bewähren…

Christian Dreller erzählt die Geschichte, wie d’Artagnan zu den Musketieren stößt, altersgemäß und zielgruppengerichtet, und egal,  ob uns als Erwachsenen die Aufmachung als Action-Buch gefällt oder nicht, wenn sich damit einige Lesemuffel überzeugen lassen, erfüllt die Reihe genau ihren Zweck.

Christian Dreller: Die drei Musketiere. Fischer 2013
www.fischerverlage.de

Hannah O’Brien: Irisches Verhängnis

Das keltische Ei

Manche Bücher bekommt man durch Zufall genau im richtigen Moment in die Hände und bei Irisches Verhängnis ist mir genau das passiert. Ein Regentag während einer Rundreise durch Irland und wir hatten gerade exakt die darin beschriebene Gegend bereist, es hätte einfach nicht besser passen können. Vertraut mit den Orten und deren Geschichte, konnte ich mir vieles sehr gut vorstellen, anderes habe ich zusätzlich erfahren. Ein Glücksfall also, der das auch im Buch zur Genüge beschriebene irische Wetter vergessen ließ.

Grace O’Malley oder Graínne Ni Mháille, wie der Name auf Irisch lautet, ist erst vor kurzem nach fünfjähriger Tätigkeit in Dänemark nach Hause auf die Insel zurückgekehrt, wo sie dank der Einflussnahme eines Mitglieds der wichtigen O’Malley-Familie einen leitenden Posten bei Garda, der irischen Polizei, in Irlands viertgrößter Stadt Galway bekommen hat. Ihr Start wird überschattet von der Missgunst und dem Misstrauen einiger Kollegen und vom Verschwinden ihrer 14-jährigen Tochter Roisin, die seit ihrer Geburt bei der Familie von Graces‘ Bruder in Dublin lebt. Während Grace noch überlegt, dorthin zu fliegen, wird in Galway die Leiche einer jungen Doktorandin der Meeresbiologie gefunden. Grace und ihr loyaler, sehr sympathischer Kollege Rory nehmen die Ermittlungen auf. Annie, die Tote, hatte mehrere Putzstellen bei einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, die ihr ihre Freundin und Mitbewohnerin Carol vermittelt hat. Sind hier Motiv und Täter zu finden?

Für Grace beginnt ein Kampf an verschiedenen Fronten: Da ist zum einen der Fall, der immer komplizierter wird und weitere Opfer fordert, zum zweiten ihr Streben nach Anerkennung am neuen Arbeitsplatz und zum dritten die Sorge um den Verbleib ihrer Tochter. Alle drei Bereiche haben etwas mit einem typisch irischen Thema zu tun: Familie und Familienkonstellationen, das „keltische Ei“, außen perfekt, aber wenn man es aufschlägt, stinkt es zum Himmel…

Hannah O’Brien, deutsche Journalistin und Autorin, hat lange in Irland gelebt, und das merkt man ihrem spannenden, gut durchdachten und flüssig zu lesenden Krimi deutlich an. Das Kernthema „Biopiraterie“ war mir in dieser Form neu und daher sehr interessant für mich, die private Geschichte um die nach einer in Irland sehr bekannten Piraten-Vorfahrin benannten Grace gut erzählt und unterhaltsam.

Band zwei, Irisches Roulette, liegt nach meiner Rückkehr nach Deutschland zum Lesen bereit, und ich bin gespannt, ob er sich zuhause genauso gut liest wie vor Ort.

Ein Wort noch zum Text auf der Rückseite des Buches und zur Inhaltsangabe vorn. Hier habe ich mich gefragt, ob der Verfasser oder die Verfasserin den Krimi überhaupt gelesen hat, denn die Abfolge und Zusammenhänge der Ereignisse sind völlig falsch dargestellt. Außerdem werden überraschende Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des Buches vorweggenommen, was der Spannung Abbruch tut. Also keinesfalls vorher lesen und die Bitte an dtv, bei diesen Texten sorgfältiger und überlegter zu arbeiten!

Hannah O’Brien: Irisches Verhängnis. dtv 2015
www.dtv.de

J. Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens

Von einem anderen Stern

Der Diogenes Verlag bittet uns in diesem Sommer zu Tisch, nicht nur mit Brunos Küchenkalender 2017, der uns mit allen Sinnen ins Périgord entführt, sondern auch mit dem Debütroman Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens des US-Amerikaners J. Ryan Stradal.

Schon auf dem verführerisch gestalteten Cover, an dem kaum jemand achtlos vorbeigehen kann, sind die wichtigsten Zutaten des Romans genannt: Tomaten, Chili, Wild und Fisch, also keineswegs Ingredienzien, die man üblicherweise mit dem Fastfood-Land USA in Verbindung bringt. Wenn die Starköchin Eva Thorvald mit den genannten Zutaten in ihrer Küche zaubert, bezahlen Eingeweihte dafür eine vierstellige Summe und warten jahrelang auf einen Platz bei einem ihrer extravaganten Dinner an wechselnden Orten, von der Presse als „Ganzkörpererfahrung“ tituliert.

Es ist vor allem die außergewöhnliche Erzählweise über die ersten knapp 30 Lebensjahre des Mädchens Eva mit dem unglaublichen Geschmackssinn, der Unempfindlichkeit gegen scharfe Gewürze, dessen Tisch zum begehrtesten der USA wird, die mich bei diesem Roman überzeugt hat. J. Ryal Stradal erzählt diese Lebensgeschichte in acht Kapiteln, sieben davon mit dem Namen einer Speise überschrieben, das achte, in dem noch einmal viele der Protagonisten zusammentreffen, mit dem Titel „Das Dinner“. Nur in einem Kapitel, dem zweiten, steht Eva Thorvald im Mittelpunkt, sonst sind es andere, deren Leben gerade an einem Wendepunkt steht. Nur en passant werden dabei einzelne Schlaglichter auf Evas Leben geworfen, was dazu führt, dass sie von einer geradezu mystischen Aura umgeben bleibt. Dies passt wunderbar zu Eva, die nicht für den Ruhm lebt, die Öffentlichkeit eher scheut, weder Kochbücher schreibt noch Kochshows moderiert und lediglich dem Ehrgeiz einer perfekten Küche mit den perfekten Zutaten frönt.

J. Ryal Stradal hat seinen Roman mit sehr viel Ironie gewürzt, trotzdem zieht er seine Protagonisten nie ins Lächerliche, nimmt ihnen nie die Würde. Er hat mich mit dieser leichten, aber keineswegs seichten Lektüre bestens unterhalten, weshalb ich gerne knappe fünf Sterne vergebe.

Und wer weiß, vielleicht gibt es ja 2018 auch zu diesem Roman einen passenden Küchenkalender? Stoff genug wäre mit Eva Thorvalds Menüfolgen, den Rezepten und Zutaten jedenfalls vorhanden!

Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens. Diogenes 2016
www.diogenes.ch

M. G. Leonard: Käferkumpel

Unschlagbar mit der Käferarmee

Seit einiger Zeit bevölkern auffallend viele Insekten die Literatur, seien es im Erwachsenenbereich z. B. Laline Paulls Die Bienen oder im Jugendbuch Der Hummelreiter Friedrich Löwenmaul von Verena Reinhardt. Der Debütroman Käferkumpel der britischen Autorin M.G. Leonhard reiht sich in diesen Trend nahtlos ein und macht aus den Leserinnen und Lesern ab frühestens zehn Jahren nebenbei wahre Entomologen, also Käferexperten.

Alles beginnt damit, dass der Vater des 13-jährigen Darkus Cuttle, der Leiter der wissenschaftlichen Abteilung eines Naturhistorischen Museums, Dr. Bartholomew Cuttle, spurlos aus einem abgeschlossenen Kellerraum der Käfersammlung verschwindet. Während Darkus fest an sein Wiederauftauchen glaubt und auch sein Onkel Max, bei dem er vorläufig wohnt, mehr wütend als traurig scheint, stellt die Polizei die Nachforschungen bald ein. Zusammen mit seinen neuen Freunden, der unerschrockenen Virginia und dem Technikgenie Bertolt, macht Darkus, unterstützt von seinem Onkel Max, sich auf die Suche nach seinem Vater. Noch mehr Hilfe erhalten sie durch Baxter, den hamstergroßen Nashornkäfer, der Darkus aus dem Nachbarhaus mit den beiden skurrilen, ewig streitenden Cousins zufliegt und ihn versteht, und tausenden weiterer Käfer verschiedenster Arten, die ebenfalls dort leben. Überrascht erfährt Darkus, dass sein Vater und seine verstorbene Mutter vor seiner Geburt in der Käferforschung tätig waren und zusammen mit der jetzigen Modezarin Lucretia Cutter am geheimnisvollen Fabre-Projekt mitgearbeitet haben.

Von ihrem Basislager im Hof des Nachbarhauses aus planen die drei Freunde ihr weiteres Vorgehen. Wo ist Darkus‘ Vater? Was hat es mit dem Fabre-Projekt auf sich und mit der offensichtlich gemeingefährlichen Lucrezia Cutter? Und nicht zuletzt: Wie können  die durch diese Frau bedrohten Käfer gerettet werden?

Der unglaublich spannende, stellenweise dramatische und gruselige Abenteuerroman hat mich an die Enid-Blyton-Bücher meiner eigenen Kindheit erinnert, angereichtert mit modernen Science-Fiction- und Fantasy-Anteilen. Besonderes Lob gebührt der Autorin für die gelungene Ausarbeitung der sehr verschiedenen Kindercharaktere, die für jede Leserin und jeden Leser genug Identifikationspotential bieten. Dass am Ende das Happy End vom Entkommen der Schurkin überschattet wird, lässt auf weitere Bände hoffen…

M. G. Leonard: Käferkumpel. Chicken House 2016
www.carlsen.de

Barbara Kunrath: Schwestern bleiben wir immer

Eine „unkaputtbare“ Schwesternbeziehung

Das erste Lob für diesen typischen Frauenroman gebührt der Herstellungsabteilung des Ullstein Verlags. Die Klappenbroschur im Taschenbuchformat mit der angenehmen Oberfläche liegt ausgesprochen gut in der Hand, zeigt auch nach dem Lesen nicht die sonst bei Taschenbüchern üblichen Gebrauchsspuren, ist farblich innen wie außen sehr ansprechend und spiegelt mit dem Cover den Roman gut wider – und das zu einem günstigen, aus Buchhändlersicht sogar zu niedrigen Preis.

Erzählt wird der Roman um die beiden Schwestern Alexa und Katja zum größten Teil aus der Ich-Perspektive der älteren Schwester Alexa, zum kleineren Teil in auktorialer Erzählweise über Katja. Die Beiden sind sich nicht nur äußerlich gänzlich unähnlich, sie haben nach einer lieblosen Kindheit bei ihrer unberechenbaren, gefühlskalten, sie vernachlässigenden und zu Depressionen neigenden Mutter völlig unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Während die harmoniesüchtige, hausmütterliche, von tiefen Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Alexa eine typische Hausfrauenehe führt und in ihrer Mutterrolle aufgeht, zieht die unabhängige, selbstbewusste und bindungsunfähige Journalistin Katja ihren Sohn alleine groß und reiht Affäre an Affäre.

Doch nun, Anfang bzw. Mitte vierzig, stehen beide vor den Scherben ihres Lebenskonzepts. Alexa gibt sich eine Mitschuld am Tod ihrer schwerbehinderten Tochter drei Jahre zuvor und ihre Ehe ist am Ende. Ihr Mann verlässt sie wegen einer jüngeren Geliebten und die beiden pubertierenden Kinder folgen ihm angesichts der Schwermütigkeit ihrer Mutter. Katja dagegen dringt nicht mehr zu ihrem 15-jährigen Sohn durch und steht dessen beginnenden Drogen- und Alkoholproblemen hilflos gegenüber.

Als Alexa im Nachlass der kürzlich verstorbenen Mutter einen nicht zu Ende gebrachten Brief entdeckt, wird die Neugier der Schwestern geweckt und sie machen sich gemeinsam daran, die fehlenden Puzzleteile aus ihrer Vergangenheit zu suchen. Warum hat der Vater einst die Familie überstürzt verlassen, als sie gerade sieben und vier Jahre alt waren? Warum wurde ihre Mutter so, wie sie war? Eine spannende Spurensuche beginnt…

Wer einen leichten Frauenroman, eine unterhaltsame Urlaubslektüre oder ein Buch für zwischendurch sucht, das sich auch sprachlich einfach und schnell lesen lässt und ein versöhnliches Happy End bietet, ist mit Barbara Kunaths Schwestern bleiben wir immer gut beraten und sollte sich von meinen drei Sternen nicht abhalten lassen. Mir war das Buch ein bisschen zu rührseelig, der Papiertaschentuchverbrauch von Alexa zu hoch, ihre Affäre zu schnell und nicht zu ihr passend, das Ende zu glatt und manches, wie die problemlose Auskunft beim Einwohnermeldeamt und die Tatsache, dass im Zeitalter des Internets keine der Schwestern je auf die Idee kam, den Namen des vor 38 Jahren verschwundenen Vaters zu googlen, zu unglaubhaft. Gut gefallen hat mir dagegen der lebenslange Zusammenhalt der Schwestern trotz vieler Belastungen und die Erkenntnis, dass sie trotz aller offensichtlichen Unterschiede eigentlich gar nicht so verschieden sind.

Barbara Kunrath: Schwestern bleiben wir immer. Ullstein 2016
www.ullsteinbuchverlage.de

Anne Enright: Rosaleens Fest

Jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, beginnt Lew Tolstois Roman Anna Karenina.

Unglücklich sind auch die Mitglieder der irischen Familie Madison in Anne Enrights Familienroman Rosaleens Fest. Als sie sich im zweiten Teil des Romans 2005 auf Wunsch der 76-jährigen Mutter Rosaleen vor dem Verkauf des Elternhauses noch einmal zum gemeinsamen Weihnachtsfest versammeln, bringen die vier Kinder „auf der Schwelle zum mittleren Alter“ die unterschiedlichsten Lebens- und Beziehungsschicksale mit. Gemeinsam ist allen, dass sie ihr Glück nicht gefunden haben, dass sie sich nicht von ihrer fordernden, launischen Mutter abnabeln konnten, einer Frau, „die nichts tat und alles erwartete“, egal wie weit weg sie inzwischen leben. Rosaleen ihrerseits fühlt sich verlassen, nicht gewürdigt und unbedeutend. „Warum sie nicht nett zu ihnen sein konnte, sie wusste es nicht. Sie liebte sie so sehr.“ Dennoch übt sie eine Macht über ihre Kinder aus, der diese sich offensichtlich nicht entziehen können.

Über 25 Jahre verfolgt die irische Autorin Anne Enright das Leben der einzelnen Familienmitglieder distanziert, entlarvend und zuweilen, wie mir schien, unbarmherzig. Gut gefallen hat mir der Aufbau des Romans, in dem im ersten Teil die vier Kinder Hanna, Dan, Constance und Emmet, auf typisch irische Weise in alle Winde verstreut, und die Mutter Rosaleen an scheinbar zufällig ausgewählten Punkten ihres Lebens zwischen 1980 und 2005 porträtiert werden, um dann 2005 erstmals nach langer Zeit wieder aufeinanderzutreffen.

Anne Enright hat für ihren Roman Das Familientreffen 2007 den Man Booker Price erhalten und auch Rosaleens Fest stand 2015 auf der Longlist. Mich konnte diese recht düstere Familiengeschichte dagegen nicht überzeugen, denn die Grundaussage, dass das Unglück der Kinder allein durch das Wesen der Mutter hervorgerufen wurde, kann ich nicht nachvollziehen. Zwar wurde mir Rosaleen genau wie ihre Kinder nie sympathisch, doch schien mir ihr Verhalten nicht so einengend und grauenvoll, dass die Kinder fern von zuhause nicht hätten ihres Glückes Schmied werden können. Immerhin schafften sie den Absprung vom Elternhaus und hätten meinem Empfinden nach – Mutter hin, Mutter her – mit etwas mehr Zielstrebigkeit einen für sie zufriedenstellenderen Weg einschlagen können.

Auch in Bezug auf die Sprache bin ich eher gespalten. Einerseits haben mir die Präzision und der an manchen Stellen deutlich durchschimmernde Spott gut gefallen, ebenso wie die poetischen Passagen, wenn es um die Beschreibung der faszinierenden irischen Landschaft geht. Andererseits fand ich die Sprache aber stellenweise unnötig und unpassend vulgär.

Trotz meiner Kritik werde ich sicher auch noch Das Familientreffen lesen, um zu testen, ob mir dieser frühere Roman besser gefällt.

Anne Enright: Rosaleens Fest. DVA 2015
www.randomhouse.de