Helen Simonson: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft

Very british!

Mrs. Alis unpassende Leidenschaft ist eine heitere, ungewöhnliche und sehr britische Geschichte über ein Liebespaar, dass äußerlich nicht unterschiedlicher sein könnte. Darin wird mehr Tee getrunken als in jedem schwedischen Krimi Kaffee und auch den Leserinnen und Leser sei die Lektüre mit einer Tasse englischem Tee empfohlen.

Major a. D. Ernest Pettigrew ist 68 Jahre alt, verwitwet nach glücklicher Ehe, hat einen herzlosen Banker als Sohn, mit dem ihn nichts verbindet, und ist ein britischer Gentleman der alten Schule mit perfekten Umgangsformen. Er lebt zurückgezogen in einem hübschen Haus, hat nichts als seinen Golfclub und die Entenjagd und ist sehr, sehr einsam.

Jasmina Ali, eine 58-jährige Witwe pakistanischer Herkunft mit einer schwierigen Familie ist glückliche Besitzerin eines Dorfladens und entstammt einer völlig anderen Welt als Pettigrew. Die Annäherung zwischen den beiden wird deshalb von den Familien und der Dorfgemeinschaft misstrauisch verfolgt und als völlig unpassend empfunden. Dabei finden die beiden einsamen Literaturliebhaber allmählich von der Freundschaft zur Liebe…

Ein leises Buch über ein schleichendes Verlieben zweier scheinbar ungleicher Herzen mit viel britischem Humor, aber völlig ohne Kitsch, dessen englischer Titel Major Pettigrews Last Stand (= Major Pettigrews letztes Gefecht) viel besser passt, da nicht Mrs. Ali sondern der Major im Mittelpunkt der Geschichte steht.

Helen Simonson: Mrs. Alis unpassende Leidenschaft. Knaur
www.droemer-knaur.de

Linn Ullmann: Gnade

Ein berührender Roman zum Thema Sterbehilfe

Johan Sletten war immer durchschnittlich. Seine erste Ehe verlief unglücklich, der Sohn ist ihm fremd und als Journalist wurde er frühpensioniert. Eine „Gnade“ ist für ihn deshalb seine zweite Frau Mai, eine 17 Jahre jüngere Kinderärztin, sein spätes Glück.

Mit 71 erfährt Johan, dass er unheilbar krebskrank ist. Er kämpft, doch zugleich wünscht er sich einen würdevollen Tod, wenn es zum Ende kommt. Dabei soll Mai ihm helfen, wenn es so weit ist.

Der schmale Roman ist weder schwermütig noch pathetisch, aber ein äußerst berührender Beitrag zum Thema Sterbehilfe.

Linn Ullmann: Gnade. btb 2013
www.randomhouse.de

Rebecca Noldus: Meeresfieber

 Ein spannendes Seeabenteuer für Mädchen ab 12

Zwei Jahre ist es her, dass Geertjes Vater auf der Fahrt mit der Ostindienflotte nach Batavia ums Leben gekommen sein soll. Doch Geertje will sich mit dem Tod des geliebten Vaters, der während seiner Landurlaube immer so viel Freude und bescheidenen Luxus in ihr ärmliches, arbeitsreiches Leben gebracht hat, nicht abfinden. Verkleidet heuert sie auf der Eenhoorn an, um als Kochsjunge seine Spur aufzunehmen. Schnell legt sie ihre anfängliche Naivität angesichts von Krankheit, Hunger, einem tyrannischen Kapitän und Meutereiplänen ab. Der tägliche Kampf ums Überleben und die ständige Angst vor der Entdeckung werden für Geertje zu einer harten Bewährungsprobe.

Der historische Jugendroman der Niederländerin Rebecca Noldus ist gut recherchiert, zugleich überaus spannend und informativ. Eine Übersichtskarte, ein Schiffsplan und ein Fachwortverzeichnis erleichtern das Lesen.

Obwohl die harten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ostindienfahrer des 17. Jahrhunderts schonungslos geschildert werden, möchte ich dieses Buch Mädchen ab ca. 12 Jahren empfehlen.

Rebecca Noldus: Meeresfieber. Dressler 2007
www.dressler-verlag.de

Lavanya Sankaran: Die Farben der Hoffnung

Zwei Lebensschicksale im modernen Indien

Bangalore, mit über acht Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Indiens, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vom verschlafenen Nest zu einer boomenden Metropole entwickelt. Probleme sind die unzuverlässige Infrastruktur, die mit dem Tempo nicht schritthalten konnte, die Korruption, die schlechte Regierungsführung und das enorme soziale Gefälle. Das große Kapital der Stadt sind ihre Jugend und Dynamik, die Menschen aus ganz Indien und der ganzen Welt anziehen.

In diesem Spannungsfeld hat Lavanya Sankaran, geboren in Bangalore, Studium in den USA, dort als Investmentbankerin tätig und heute zurück in ihrer Geburtsstadt als Unternehmensberaterin, ihren Debütroman angesiedelt.

Erzählt werden die Geschichten von Anand und Kamala, zwei höchst unterschiedliche Lebensschicksale. Beiden gemeinsam ist der Traum von einer besseren Zukunft und das Zurückstellen eigener Bedürfnisse zugunsten der Kinder.

Anand kommt vom Land, hat eine sehr gute Bildung. Während seine Eltern noch völlig in der traditionellen Lebensweise verankert sind, ist er ein typischer Mittelschichtsaufsteiger. Vidya, seine Frau, deren Familie noch während der Kolonialzeit reich geworden ist, ist ein Luxusweibchen, das seine Zeit mit Shoppen, Körperpflege und Partys verbringt. Doch Anand will mehr erreichen: Seine erfolgreiche kleine Firma „Cauvery Auto“ soll expandieren. Dazu benötigt er ein Grundstück, ein Ansinnen, das bei der gegebenen Undurchsichtigkeit der Eigentumsverhältnisse und der Korruption nahezu undurchführbar scheint. Als sich auch noch sein Schwiegervater einschaltet, kommt es fast zur Katastrophe…

Kamala dagegen ist eine junge Witwe vom Land, Analphabetin, die mit ihrem Sohn vor zwölf Jahren auf der Suche nach Arbeit nach Bangalore gekommen ist. Ihr einziges Ziel ist Bildung für ihren Sohn, dafür arbeitet sie als Angestellte in Anands Haus.

Lavanya Sankaran hat mit diesen beiden Lebensgeschichten exemplarisch, sehr anschaulich und absolut lesenswert zwei Schicksale im modernen Indien nacherzählt.

Lavanya Sankaran: Die Farben der Hoffnung. Diogenes 2014
www.diogenes.ch

Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod

Auf der Jagd nach Zwiebelfischen

Zwiebelfische sind im Buch- und Zeitungsdruck falsch gesetzte Lettern. In den Zwiebelfisch-Kolumnen von Bastian Sick bei SPIEGEL ONLINE stehen sie analog für „falsch gesetzte Wörter“.

47 der ebenso witzigen wie lehrreichen Kolumnen sind in Buchform unter dem Titel Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod erschienen. Darin erfährt man nicht nur alles zum richtigen Gebrauch des oft vernachlässigten Genitivs (deinetwegen, nicht wegen dir), sondern auch zur korrekten Pluralbildung (Pizzas oder Pizzen?), zum Gebrauch von Fremdwörtern (downgeloadet oder gedownloadet?), zum brutalstmöglichst gesteigerten Superlativissimus, zum in letzter Zeit inflationär verwendeten „’s“ (unterweg’s), zur Binde-Strich-Hysterie usw. Besonders unerbittlich verfolgt Sick die oft obskuren Auswüchse in den Texten seiner Journalistenkollegen.

Wem die unterhaltsamen Beispiele in den einzelnen Kapiteln nicht reichen, der findet zusätzlich übersichtliche Zusammenstellungen zu diversen der genannten Themen, die zu Quizrunden einladen.

Mir hat das Buch auch beim zweiten Lesen nach einigen Jahren viel Spaß gemacht!

Bastian Sick: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Kiepenheuer & Witsch 2004
www.kiwi-verlag.de

Helene Tursten: Tod im Pfarrhaus

Kriminalinspektorin Irene Huss löst ihren vierten Fall

Nach Ermittlungen in der Upper class (Der Novembermörder), in einer Privatklinik (Der zweite Mord) und im Homosexuellenmilieu (Die Tätowierung) ermittelt Kriminalinspektorin Irene Huss von der Göteborger Kripo dieses Mal in Kirchenkreisen. Das Pfarrerehepaar Schytellius und deren erwachsener Sohn wurden brutal ermordet.

An Verdächtigen mangelt es nicht: Satanisten, denen Vater und Sohn wegen eines Kirchenbrandes auf der Spur waren, zwei Kollegen, die sich um die Nachfolge des leitenden Geistlichen streiten, und einige obskure kirchliche Mitarbeiter gehören dazu. Außerdem gibt es noch die Tochter Rebecka Schytellius, die in London lebt und von ihrem Psychiater vor der Polizei abgeschirmt wird. Doch Irene Huss lässt nicht locker und setzt eine Reise nach Großbritannien durch, weil sie spürt, dass sie nur dort weiterkommen kann…

Tod im Pfarrhaus ist ein Krimi, den man – einmal begonnen – nicht mehr aus der Hand legen möchte. Eine spannende Handlung, eine überaus sympathische Kommissarin mit einem erfrischend normalen Privatleben, die oft eher spontan als überlegt handelt, und eine überzeugende Auflösung sorgen für durchgehend gut Unterhaltung.

Helene Tursten: Tod im Pfarrhaus. btb 2004
www.randomhouse.de

Helene Tursten: Der zweite Mord

Tod auf der Intensivstation

Ihr zweiter Fall führt die Göteborger Inspektorin Irene Huss und ihr Team in eine Privatklinik. während eines nächtlichen Stromausfalls stirbt ein Patient auf der Intensivstation und die betreuende Intensivschwester liegt ermordet über dem Notstromaggregat im Keller. Die Aussage der Nachtschwester scheint unbrauchbar: Sie will Schwester Tekla gesehen haben, die sich 50 Jahre zuvor auf dem Speicher der Klinik erhängt hat…

Der zweite Mord ist genau wie Helene Turstens erster Krimi, Der Novembermörder, ein exaktes Protokoll der Ermittlungen und spannend von der ersten bis zur letzten Seite und gut geschrieben, ohne jedoch die absolute Meisterschaft eines Mankell-Krimis zu erreichen.

Helene Tursten: Der zweite Mord. btb 1999
www.randomhouse.de

Anja Sicking: Die Magd des Monsieur de Malapert

Amsterdam im 18. Jahrhundert

Anna Sicking ist eine junge niederländische Autorin und ihr Roman Die Magd des Monsieur Malapert entführt uns ins Amsterdam der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Die junge Anna stammt aus gutem Hause, kann lesen und schreiben, muss sich aber nach dem Tod der Eltern und dem Brand im Elternhaus unter Stand als Magd verdingen. Sie findet eine Anstellung im Haus des eleganten, schüchternen Musikalienhändlers Malapert. Anna versucht, ihre Arbeit möglichst perfekt zu erledigen, und hofft darauf, eines Tages als das wahrgenommen zu werden, was sie in Wahrheit ist: eine intelligente Frau, die unstandesgemäß als Magd arbeitet. Mit ihrer Klugheit und mit viel weiblicher Intuition und Neugier merkt sie aber auch, dass im Hause Malapert nicht alles so ist, wie es sein sollte. Aber welches Geheimnis verbirgt ihr Arbeitgeber? Mit Annas Augen kommt der Leser dem Geheimnis der „stummen Sünde“ auf die Spur.

Die Magd des Monsieur Malapert ist kein praller historischer Roman à la Iny Lorentz, sondern ein zartes, leises, psychologisches Buch, in dem viel vom Alltag der kleinen Leute im Amsterdam des 18. Jahrhunderts erzählt wird. Durch die zahlreichen Andeutungen wird es immer spannender – bis zur für mich doch überraschenden Auflösung.

Anja Sicking: Die Magd des Monsieur de Malapert. Schirmer Graf 2005
www.schirmer-mosel.de

Barbara Wendelken: Die stille Braut

Ostfrieslands dunkle Seite

Wenn mir – so wie in diesem Fall – der erste Band einer Krimireihe besonders gut gefallen hat, gehe ich mit etwas Bauchgrimmen an den zweiten, denn ich weiß, wie schwer es nach einem Erfolg für den Autor ist, auf gleichem Level weiterzuschreiben.

Die stille Braut hat mich meine Skepsis bereits nach wenigen Seiten vergessen lassen, denn ganz schnell waren die Atmosphäre und die Faszination des ersten Teils, Das Dorf der Lügen, wieder da und die Handlung entwickelte sich so spannend, dass das Niveau des ersten Teils mindestens erreicht, wenn nicht überschritten wird.

Nach einem bedrohlich wirkenden Prolog, dessen Zusammenhang sich erst ganz am Ende erschließt, beginnt die Handlung nur zwei Monate nach dem furiosen Finale des ersten Bandes. Die frisch genesene Oberkommissarin Nola von Heerden aus Leer muss nach dem Fund der sorgsam drapierten Leiche einer seit vier Jahren vermissten, gehörlosen Internatsschülerin schon wieder in Martinsfehn ermitteln, wo sie zu ihrem Leidwesen unweigerlich erneut auf Hauptkommissar Renke Nordmann trifft. Die Stimmung ist angespannt, denn nach einer kurze Phase der Vertrautheit sind die beiden vor zwei Monaten nicht im Guten auseinandergegangen. Dazu erkennt Nola rasch, dass der mit dem Vermisstenfall vor vier Jahren betraute Renke, Revierleiter von Martinsfehn, damals nicht besonders gründlich ermittelt hat; zu sehr war er von seinen privaten Schwierigkeiten abgelenkt.

Bei ihren Nachforschungen taucht Nola Stück für Stück in die Welt des Gehörloseninternats im benachbarten Jemgum ein und fördert nach und nach immer mehr Unglaubliches zu Tage. Weitere Todesfälle machen ihr unweigerlich klar, dass sie im zeitlichen Wettkampf gegen einen Unbekannten steht…

Barbara Wendelkens Krimi, der mit dem Etikett „Regionalkrimi“ nur unzureichend beschrieben wird, ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend. Er kann gut unabhängig vom ersten Band gelesen werden, da die Autorin alle nötigen Informationen geschickt einfließen lässt. Trotzdem ist der Genuss noch größer, wenn man die Bände in der richtigen Reihenfolge liest.

Eine Vielzahl falscher Spuren, zahlreiche gut integrierte Nebenhandlungen, sehr detailliert und mit viel Liebe beschriebene Haupt- und Nebencharaktere, die alle sehr lebendig werden, ein immer wieder trotz aller Tragik durchscheinender Humor und ein plausibler, gut durchdachter Plot lassen bei der Lektüre keine Minute Langeweile aufkommen.

Der scheinbar unerschöpfliche Ideenreichtum der Autorin, die keinen Nebensatz ungenutzt lässt, macht mich auch für weitere Bände sehr zuversichtlich. Daneben heben sich die sehr gründliche Arbeit und der gehobene Stil vom Durchschnitt des Genres äußerst positiv ab.

Ich bin auf jeden Fall dabei, wenn in Martinsfehn wieder ermittelt wird, nicht zuletzt um zu erfahren, wie es bei Nola und Renke weitergeht!

Barbara Wendelken: Die stille Braut. Piper 2015
www.piper.de

Sandro Veronesi: Sein anderes Leben

Lebenslügen und Glück

Wie reagiert jemand auf die Mitteilung, dass der eigene Vater in Wahrheit ganz anders war, als man dachte?

Für den Kinderbuchautor Gianni Orzan, glücklicher Familienvater, gerät die Welt plötzlich außer Kontrolle, als er Beweise dafür bekommt, dass sein Vater, ein General der italienischen Armee, strenger Katholik und fanatischer Antikommunist, jahrzehntelang in Diensten des KGB gestanden hat. Wenn er den Vater so wenig kannte, kennt er dann überhaupt seine Frau?

Orzan rekapituliert sein Leben und nimmt den Kampf um sein Glück auf.

Ein interessanter Roman eines in Italien sehr bekannten Autors.

Sandro Veronesi: Sein anderes Leben. btb 2003
www.randomhouse.de