Familienlegenden
Ein namenloser Protagonist in der Midlife-Krise, der seine unerfüllten Lebenswünsche auf den verstorbenen Großvater projiziert, steht im Mittelpunkt des Romans Neringa oder Die andere Art der Heimkehr von Stefan Moster.
Der Ich-Erzähler, 50 Jahre alt, lebt in London, arbeitet in der IT-Branche und bereitet Produkten, die sich noch in der Entwicklung befinden, einen Markt, indem er die potentiellen Käufer von deren Notwendigkeit überzeugt. Obwohl erfolgreich, ist er unzufrieden. Wie glücklich muss doch sein Großvater Jakob gewesen sein, der als Pflasterer in Mainz künstlerische Straßenmosaike entworfen hat und am Abend sein bleibendes Werk zufrieden betrachten konnte. Und was wird von ihm einmal bleiben?
In Rückblenden scheint die Vergangenheit auf: eine Kindheit bei lieblosen Eltern, ein angedeuteter Missbrauch durch einen Pfarrer, eine missglückte erste Liebe, eine jahrelange Psychotherapie während des Studiums und immer wieder der Großvater, Dreh- und Angelpunkt seiner Gedanken. Doch welche der Legenden um den Großvater halten einer Überprüfung stand?
Während sich der Protagonist in seinen einsamen Gedankengängen förmlich zu verheddern scheint, tritt plötzlich eine Frau in sein Leben. Es ist seine Putzhilfe, eine Litauerin mit Universitätsabschluss, die in ihrer Freizeit beim Figurentheater mitwirkt. Diese kluge junge Frau, die er erst entlassen muss, um sich ihr nähern zu können, hört ihm zu, ist vielleicht die Erste, die ihn versteht, und begleitet ihn auf seiner Suche nach dem Großvater. Je wichtiger Neringa für ihn wird, desto mehr Sinn verspürt er in seinem Leben und desto mehr kann er schließlich von den Überhöhungen des Großvaters lassen.
Stefan Mosters Roman ist sprachlich ein Meisterwerk, bei dem das Lesen schon aus diesem Grunde eine Freude ist. Inhaltlich hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle gewünscht, die Sicht des Ich-Erzählers von neutraler Stelle bestätigt oder korrigiert zu bekommen – zu unglaublich oder verschleiernd klangen oft seine Ausführungen, vor allem rund um die Psychotherapie. Trotzdem ein wirklich empfehlenswerter Roman!
Stefan Moster: Neringa. mare 2016
www.mare.de
Auch wenn ich Isabel Allendes chilenische Romane mit dem magischen Realismus und die Romane über ihre Familie noch lieber mag, so habe ich doch auch ihren 17. Roman, Die Insel unter dem Meer, einen opulenten historischen Roman und eine beeindruckende Familiensaga, mit Freude gelesen.
Bereits in ihrem empfehlenswerten Erstling Geheime Tochter hat die indisch-kanadische Autorin Shilpi Somaya Gowda vom Leben in zwei Welten erzählt, von der Zerrissenheit zwischen Indien und den USA. Auch in ihrem neuen Roman, der wieder in einer sehr einfachen Sprache, aber packend und gekonnt erzählt ist, spielt diese Zerrissenheit eine zentrale Rolle. Gleichzeitig ist es ein Roman über zwei Lebensschicksale im modernen Indien, über althergebrachte Traditionen, über Heimat und den Aufbruch zu neuen Ufern.
Es gab gleich mehrere Gründe, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte: das farblich zurückhaltende Cover, das im wahrsten Sinne federleicht wirkt, der geheimnisvolle Titel, der nichts über den Inhalt verrät, der Handlungsort Maine, der Übersetzer Klaus Modick, den sogar der gestrenge Dennis Scheck zu den „großen Erzählern der Bundesrepublik“ zählt, und der mare Verlag, der mich noch nie enttäuscht hat. Nach der Lektüre kann ich feststellen, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hat. Ich habe diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite inhaltlich, atmosphärisch sowie sprachlich genossen und das erstaunt mich umso mehr, als ich für den Helden nur Mitleid, aber keine Sympathie empfinde.
Vor zwei Jahren habe ich das Auswanderermuseum in Bremerhaven besucht, eine der museumpädagogisch für Kinder und Erwachsene am besten aufbereiteten Ausstellungen, die ich kenne.
Zwei Zeitebenen, zwei Orte und zwei Protagonisten sind die Zutaten zu diesem spannenden Debüt des promovierten Philosophen und diplomierten Datentechnikers Thomas Beckstedt. Was ich zunächst für einen sehr intelligent aufgebauten historischen Krimi gehalten hatte, entpuppte sich auf den letzten 150 Seiten doch noch als der auf dem Umschlag versprochene Thriller.