Und niemand sagte auch nur ein einziges Wort
Der Roman Der Sommer der Schmetterling der 1970 in Brasilien geborenen und seit 2007 in den USA lebenden Autorin Adriana Lisboa stammt bereits aus dem Jahr 2001 und wurde 2003 mit dem Prémio José Saramago, einem bedeutenden portugiesischen Literaturpreis ausgezeichnet. Anlässlich des Gastlandauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse 2013 wurde er ins Deutsche übersetzt.
Wer hinter dem so leicht daherkommenden Titel einen beschwingten Sommerroman erwartet, wird sich getäuscht sehen. Der Sommer der Schmetterlinge ist eine tieftraurige, tragische und bewegende Familiengeschichte, die sich nicht oberflächlich lesen lässt, dafür aber umso länger nachhallt.
In ihrem Elternhaus, einer Fazenda im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern und ihrer Scheidung alleine lebt, erwartet die kanpp 50-jährige Clarice ihre vier Jahre jüngere Schwester Maria Inês, die sie lange nicht gesehen hat. Auch Tomás, der Maler und ehemalige Geliebte von Maria Inês, der in einem Nachbargebäude lebt, wartet auf sie, die Frau, die er seit 30 Jahren liebt.
In mosaikhaft geschriebenen Rückblenden, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen, erzählt Adriana Lisboa von der glücklichen Kindheit der beiden so verschiedenen Schwestern, der folgsamen Clarice und der aufbegehrenden Maria Inês, die schlagartig endete, als Clarice 13 Jahre alt war. Zu spät schickte die Mutter Clarice zwei Jahre später zu einer Großtante nach Rio de Janeiro; das „gründliche, wahre, endgültige Vergessen war für beide Schwestern unmöglich und die Zukunft vergiftet.
Adriana Lisboa lüftet das ungeheuerliche Geschehen nur sehr langsam und lange Zeit habe ich mich angesichts der wunderbaren Naturbeschreibungen und Landschaftsbilder förmlich gegen das Begreifen gesträubt. Als es nicht mehr zu verdrängen war, hat mich die Wucht dieses in so leisen Tönen geschilderten Familiendramas umso mehr betroffen gemacht und ich bin sehr dankbar, dass mit dem Schlusskapitel ein zarter Hoffnungsschimmer zu erahnen ist.
Ein wahrlich gekonnt komponierter, poetisch geschriebener Roman, der ein schwieriges Thema leise und eindringlich aufnimmt. Unbedingt lesen!
Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de
Dem Nachwort ist zu entnehmen, dass dem Roman ein Text aus dem Jahr 2010 unter dem Titel Mutter auf Papier zugrunde liegt, den die Autorin nun umgearbeitet hat, damit „es jenes Buch über alternative Elternschaft ist, das ich während der Zeit unserer Familiengenese so gerne gelesen hätte“.
In der Literatur gibt es unzählige Versuche, den Tod der Eltern zu verarbeiten: John von Düffel (Hotel Angst) reist nach dem Tod des Vaters nach Bordighera, wo die Familie ihre Sommerurlaube verbracht und der Vater seinen Lebenstraum gelebt hat, Helen Macdonald richtet in H wie Habicht im Gedenken an den verstorbenen Vater ein Habichtweibchen ab, Simone de Beauvoir reflektiert in Ein sanfter Tod das schwierige Verhältnis zur verstorbenen Mutter und Milena Busquets versucht, ebenfalls autobiografisch inspiriert, ihre ca. 40-jährige Romanheldin Blanca den Tod der Mutter im Sex vergessen zu lassen („Sex gefällt mir, weil er mich im Hier und Jetzt festzurrt.“)
River ist der Debütroman der kanadischen Autorin Donna Milner und eine Familiensaga aus dem Kanada der 1960er-Jahre.
Ein namenloser Protagonist in der Midlife-Krise, der seine unerfüllten Lebenswünsche auf den verstorbenen Großvater projiziert, steht im Mittelpunkt des Romans Neringa oder Die andere Art der Heimkehr von Stefan Moster.
Auch wenn ich Isabel Allendes chilenische Romane mit dem magischen Realismus und die Romane über ihre Familie noch lieber mag, so habe ich doch auch ihren 17. Roman, Die Insel unter dem Meer, einen opulenten historischen Roman und eine beeindruckende Familiensaga, mit Freude gelesen.
Bereits in ihrem empfehlenswerten Erstling Geheime Tochter hat die indisch-kanadische Autorin Shilpi Somaya Gowda vom Leben in zwei Welten erzählt, von der Zerrissenheit zwischen Indien und den USA. Auch in ihrem neuen Roman, der wieder in einer sehr einfachen Sprache, aber packend und gekonnt erzählt ist, spielt diese Zerrissenheit eine zentrale Rolle. Gleichzeitig ist es ein Roman über zwei Lebensschicksale im modernen Indien, über althergebrachte Traditionen, über Heimat und den Aufbruch zu neuen Ufern.
Es gab gleich mehrere Gründe, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte: das farblich zurückhaltende Cover, das im wahrsten Sinne federleicht wirkt, der geheimnisvolle Titel, der nichts über den Inhalt verrät, der Handlungsort Maine, der Übersetzer Klaus Modick, den sogar der gestrenge Dennis Scheck zu den „großen Erzählern der Bundesrepublik“ zählt, und der mare Verlag, der mich noch nie enttäuscht hat. Nach der Lektüre kann ich feststellen, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hat. Ich habe diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite inhaltlich, atmosphärisch sowie sprachlich genossen und das erstaunt mich umso mehr, als ich für den Helden nur Mitleid, aber keine Sympathie empfinde.