Jean Renard: Der Kopf des Korsen

Weit mehr als ein gewöhnlicher Regionalkrimi

Jacques Andreotti, verwitwet und alleinerziehender Vater einer pubertierenden Tochter, Pariser Polizist mit korsischen Wurzeln, erschlägt im Dienst den Sohn des Pariser Paten Guido deFrancesco und enttarnt dabei unfreiwillig den jungen Undercover-Ermittler Andrea Lefèvre. Da ein Kopfgeld auf beide ausgelobt wird, müssen sie untertauchen. Um ihnen das Zeugenschutzprogramm zu ersparen, versetzt der Pariser Polizeichef sie als Sonderermittler im Falle eines Polizistenmords, der vermutlich aus einer Vendetta zwischen zwei verfeindeten Clans resultiert, nach Korsika, nicht ohne zuvor falsche Spuren zu legen und beide mit den neuesten technischen Raffinessen auszustatten.

Während Andreotti, dessen Tochter auf Korsika die Ferien bei ihrer kauzigen Großmutter verbringt, die Zwangsversetzung noch einigermaßen akzeptiert, ist der junge Lefèvre von der Verbannung geschockt. Obwohl clever und draufgängerisch, kommt er mit den Korsen und Andreottis Ermittlungsmethoden schlecht zurecht, grollt ihm wegen der Enttarnung und verdächtigt ihn sogar der Bestechlichkeit.

Ich habe diesen Krimi ursprünglich wegen des Handlungsorts Korsika in die Hand genommen, den ich aus mehreren Urlaubsaufenthalten einigermaßen gut kenne. In dieser Beziehung bin ich voll auf meine Kosten gekommen, denn Land und Leute, Geografie, Stimmungen und das Meer sind wunderbar anschaulich beschrieben. Das Buch geht jedoch mit seiner komplexen Handlung, die auch auf fast 500 Seiten durchweg gut unterhält, weit über einen gewöhnlichen Regionalkrimi hinaus. Von der großartig atmosphärischen Schilderung der Beerdigung eines Clanmitglieds im (fikitiven) Ort La Rocca, während der auf dem leeren Dorfplatz ein Polizist aus dem anderen Clan ermordet wird, bis zum langen, unglaublich spannenden Showdown auf den Klippen, unter Wasser und in der Luft bleibt die Spannung auf hohem Niveau. Dabei verzichtet der deutsche Autor und Journalist Jean Renard (d.i. Hans Fuchs) dankenswerterweise trotz zahlreicher Toter auf unnötig blutige Details. Sehr detailliert und beim Lesen eines der absoluten Highlights sind dagegen seine  Charakterbeschreibungen, egal ob es sich dabei um die Hauptfiguren Andreotti und Lefèvre, die von den Schatten ihrer Vergangenheit heimgesucht werden, oder um Nebenfiguren wie Andreottis bissige Schwiegermutter, seinen Freund Roland, Ex-Legionär und Inhaber einer Tauchschule, seine Tochter Cécile, die Clanmitglieder, der Dorfpolizist von La Rocca, die Restaurantbesitzer Paul et Paul oder jede andere Figur handelt.

Ein großartiger Krimi, der eine Fortsetzung unbedingt erforderlich macht!

Jean Renard: Der Kopf des Korsen. Emons 2015
www.emons-verlag.de

Paula Fox: Pech für George

Ein Roman über das Leben in den USA der 1960er-Jahre

George Mecklin, 34, ist Lehrer an einer Privatschule in Manhattan und von seinem Beruf und seiner Ehe gleichermaßen gelangweilt. Der Umzug aufs Land, den er „glaubte machen zu müssen“, hat diese Langeweile bis ins Unerträgliche verschärft. Mit seiner Frau Emma verbindet ihn nur noch eine beinahe sprachlose Gleichgültigkeit.

Rettung scheint ihm der 17-jährige Ernest Jenkins zu bringen, ein Jugendlicher aus dem Nachbarort, Schulabbrecher und Mitglied einer Jugendgang, den er beim Eindringen in sein Haus erwischt. Anstatt ihn, wie Emma es vehement fordert, der Polizei zu übergeben, beschließt George, ihn zu retten. Er will ihn unterrichten, sein Leben in die Hand nehmen – und damit seinem eigenen Leben wieder einen Sinn geben.

Pech für George ist Paula Fox erster Roman aus dem Jahr 1967. Lebendig
und mit z. T. beißender Ironie erzählt Paula Fox vom Scheitern ihrer Figuren, die alle eher von ihren eigenen Katastrophen erzählen als dem anderen zuzuhören.

Paula Fox: Pech für George. dtv 2006
www.dtv.de

Petra Kasch: Mia und das Wolkenschiff

Neubeginn, Mut, Freundschaft und kleine Lügen

Mia segelt – wie auf dem Cover – oft und eher unfreiwillig in wilder See.

Zunächst ist wieder einmal ein Umzug angesagt, dieses Mal nicht, weil Mias Mutter, die Bauingenieurin, irgendwo eine Brücke bauen soll, sondern weil die  Familie ein Haus mit einem Leuchtturm direkt an der Ostsee geerbt hat. Mias Vorfreude ist getrübt: Sie hasst es, neu in eine Klasse zu kommen, und sie hat Angst vor dem Wasser. Dabei hat sie ihren Eltern erzählt, dass sie schwimmen kann und bereits eine Medaille gewonnen hat.

Als sie ankommen, finden sie nichts als Probleme vor: Das Haus, das die Nachbarn Geisterhaus nennen, erweist sich als baufällig und soll abgerissen werden, immer wieder taucht eine geheimnisvolle Gruppe alter Männer mit einem Käpt’n auf, die Ansprüche auf  das Haus erheben, und die neue Klasse möchte an einem Schwimmwettbewerb teilnehmen und freut sich sehr, dass eine so gute Schwimmerin wie Mia ihr Team komplettiert…

Mias großes Glück ist es, dass sie Menschen um sich hat, die auch in schlechten Zeiten zu ihr stehen. Ein verständnisvoller Lehrer, ihre Eltern, ihr neuer Freund Lars, der den Traum vom Olympiaschwimmer träumt, und die Mitschüler halten auch nach der Entlarvung ihrer Lüge zu ihr. Und als sie sich immer mehr in das alte Haus verliebt, erfahren sie Hilfe von ungeahnter Seite. Schließlich kann Mia sogar noch allen beweisen, dass es ihr gewiss nicht an Mut fehlt.

Mia und das Wolkenschiff ist ein behutsam geschriebenes Kinderbuch mit vielen sympathischen, liebevoll beschriebenen Figuren, das an vielen Stellen zu Gesprächen mit Kindern einlädt. Es ist aber auch spannend, ein bisschen gruselig und erzählt viel über das Meer, seine Schönheit und seine Gefahren. Mit den sehr kurzen Kapiteln und der etwas größeren Schrift kommen kleine Leserinnen und Leser ab ca. acht Jahren zurecht. Schade nur, dass durch den Titel und das an sich gelungene Cover vermutlich nur Mädchen angesprochen werden, denn das Buch eignet sich meiner Meinung nach genauso für Jungs!

Petra Kasch: Mia und das Wolkenschiff. Ravensburger 2015
www.ravensburger.de

Viola Roggenkamp: Familienleben

Deutsch-jüdisches Leben nach 1945

Hamburg 1967. In einer heruntergekommenen Villa leben in einer Wohnung drei Generationen unter einem Dach. Die Mutter Alma ist Jüdin und verdankt ihr Überleben im Dritten Reich genau wie ihre Mutter Hedwig ihrem  deutschen Mann Paul. Ihre Ängste spiegeln sich in ihrem Verhalten gegenüber ihren Töchtern wider: Fania, 13 Jahre, und Vera, 17 Jahre, dürfen Haus und Garten nur verlassen, wenn sie zur Schule gehen. Der Vater Paul ist die Woche über als Vertreter für Brillengestelle unterwegs. Die Verabschiedung am Montag und die überschwängliche Begrüßung am Freitag sind für alle die Höhepunkte der Woche.

Das Familienleben wird heftig erschüttert, als die Villa, in der sie zur Miete leben, zum Kauf angeboten wird. Um das fehlende Geld zu besorgen, sieht Alma sich gezwungen, ihre Abschottung von der Außenwelt zu lockern. Für die Töchter auf der Suche nach größerer Eigenständigkeit ist es die Gelegenheit, sich vorsichtig aus der zu großen Enge der familiären
Beziehungen zu lösen.

Erzählt wird das Leben der Familie von Fania. In ihren Problemen mit der deutschen Muttersprache spiegeln sich die Probleme aller mit der eigenen Identität und dem Land, in dem sie leben.

Familienleben ist der erste Roman der 1948 in Hamburg geborenen Viola Roggenkamp, die selbst aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt. Sehr einfühlsam und manchmal auch witzig erzählt sie, wie Fania und Vera langsam der Ausbruch aus dem Familienkokon gelingt.

Viola Roggenkamp: Familienleben. Fischer 2007
www.fischerverlage.de

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht

Wunsch und Wirklichkeit

Jack Griffin, 57-jähriger College-Professor, wollte nie wie seine Eltern werden. Doch schon seine Hochzeitsreise führt nach Cape Cod, deren jährlichem Traumziel…

34 Jahre später steckt Jack tief in der Midlife-Krise. Die Urne des Vaters hat er seit Monaten bei sich, die Mutter nervt ihn aus dem Pflegeheim und er muss erkennen, dass er genau ihr Leben und ihre Ehe führt.

Zwei Hochzeiten im Abstand von einem Jahr und zwei Bestattungen bilden den Rahmen dieses klugen Ehe- und Familienromans des Pulitzer-Preisträgers Russo, der Melancholie und Komik gleichermaßen viruos beherrscht.

Richard Russo: Diese alte Sehnsucht. DuMont 2010
www.dumont-buchverlag.de

Carolina de Robertis: Die unsichtbaren Stimmen

Eine packende Familiengeschichte aus Uruguay

Drei Frauen stehen im Mittelpunkt dieser Familiensaga aus Uruguay: Pajarita, die Großmutter, wird auf dem Land geboren und zieht mit ihrem italienischen Mann nach Montevideo, muss aber für ihre vier Kinder mehr oder weniger alleine sorgen. Eva, die Tochter, Dichterin und Intellektuelle mit traumatischen Jugenderlebnissen, flieht nach Argentinien, lebt dort in den Kreisen der Bohème, findet aber erst nach ihrer Rückkehr ihr Glück. Salomé, die Enkelin, schließt sich jung den Tupamaro-Rebellen an und durchleidet  die ganze Grausamkeit der Militärdiktatur.

So unterschiedlich ihre Lebenswege auch sind, alle drei Frauen kämpfen auf ihre Weise mutig um Unabhängigkeit.

In ihrem großartig erzählten, tief berührenden Romandebüt zeichnet Carolina de Robertis, US-Amerikanerin mit Wurzeln in Uruguay, die Umbrüche des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika nach und lässt in südamerikanischer Erzähltradition Bilder, Geräusche und Gerüche lebendig werden.

Carolina de Robertis: Die unsichtbaren Stimmen. Fischer 2011
www.fischerverlage.de

Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen

Ein Künstlerroman

Jakob Wassermann (1873 – 1934), Freund Thomas Manns, Hofmannsthals und Schnitzlers, feierte zu Lebzeiten große Erfolge. Leider ist der Franke heute fast vergessen.

In Das Gänsemännchen, einem frühen Roman Wassermanns, ist der arme Webersohn Daniel Nothafft aus der Nürnberger Gegend besessen davon, Musiker zu werden. Seine pathologische Selbstüberschätzung prallt auf bürgerliche Kleingeister, die nichts mehr fürchten als auffällige Außenseiter.

Nach einsamen, elenden Jahren findet er Gönner. Die Liebe zu zwei Schwestern trägt ihm den hämischen Spitznamen „Gänsemännchen“ ein, einer Nürnberger Marktfigur mit zwei Gänsen. Nach schweren privaten und künstlerischen Enttäuschungen zieht er sich schließlich mit seinen Kindern und treuen Schülern zurück.

Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen. Europäischer Literaturverlag 2014
www.elv-verlag.de

Gernot Gricksch: Die Paulis außer Rand und Band

Von den Tücken der Hypnose

Eigentlich ist bei den Paulis sowieso schon viel los, denn der zwölfjährige computerverrückte Dennis, die zehnjährige kunstbegeisterte Lea und der achtjährige Wirbelwind Flummy halten die alleinerziehende Iris Pauli in Atem.

So richtig turbulent wird es aber erst, als die strenge Tante Heidrun für drei Monate die Mutter vertreten soll, denn ausgerechnet an ihr probiert Flummy ihre neuen Kenntnisse in Hypnose aus. Seither meint die Tante, dass sie Pippi Langstrumpf wäre, was nur anfangs richtig lustig ist…

Gernot Gricksch hat ein fantasievolles, hintergründiges und witziges Kinderbuch für alle ab acht Jahren geschrieben.

Gernot Gricksch: Die Paulis außer Rand und Band. Oetinger 2012
www.oetinger.de

Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten

Die Liebe ist der Anfang aller Geschichten

Wie sein Held Salman Baladi in seinem neuen Roman Sophia oder der Anfang aller Geschichten musste auch Rafik Schami vor über 40 Jahren aus Syrien fliehen, lebt seither in Deutschland und verfasst seine in zahlreiche Sprache übersetzten Romane auf Deutsch.

Doch im Gegensatz zu Salman hat Rafik Schami seiner Sehnsucht nach seiner Heimatstadt Damaskus nie nachgegeben – außer in seinen Büchern. Salman dagegen, der einst im bewaffneten Untergrund gegen das brutale Regime von Hafiz al-Assad gekämpft hat, konnte Syrien 1970 illegal über Beirut verlassen, hat in Heidelberg studiert und lebt inzwischen als überaus erfolgreicher Geschäftsmann für den Import arabischer und den Export italienischer Lebensmittel mit seiner italienischen Frau und dem gemeinsamen Sohn in Rom. 2010 wird sein Wunsch nach einer Reise in die alte Heimat jedoch so übermächtig, dass er nach ausführlichen Sondierungen über seine Sicherheit ein Flugzeug nach Damaskus besteigt.

Seine Eltern, seine Familie, Bekannte, Freunde, Nachbarn und ehemalige Geliebte heißen ihn willkommen und die Feiern zu seiner Begrüßung wollen kein Ende nehmen. Tagsüber schlendert er durch Damaskus, geht die alten Wege, entdeckt neue. Doch plötzlich stellt sein Cousin Elias, hoher Mitarbeiter bei einem der 15 syrischen Geheimdienste, ihm eine Falle und Salman sieht sich für den Tod an einer Frau, der sich einige Zeit vor seiner Ankunft ereignet hat, zur Fahndung ausgeschrieben. Obwohl Elias und seine Genossen es vermutlich in erster Linie auf Salmans Geld abgesehen haben, schwebt er in Lebensgefahr und muss untertauchen.

Zum Glück für ihn kann seine Mutter Sophia, eine der eigentlichen Heldinnen des Romans, auf alte Kontakte zurückgreifen. Ihre erste Liebe, Karim, ein Moslem, den die Christin damals nicht geheiratet hat, steht noch in ihrer Schuld. Und Karim, der als alter Mann wieder eine Christin liebt, ist nur zu gerne bereit, ihr und Salman zu helfen…

Rafik Schamis Roman ist eine Liebeserklärung an seinen Sehnsuchtsort Damaskus, an seine unterdrückten syrischen Landsleute und an die Liebe über Religionen hinweg, aber zugleich auch ein Aufschrei gegen Gewalt, Unterdrückung, Korruption und religiösen Fanatismus und eine Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs und des aktuellen Flüchtlingsdramas. In sehr zahlreichen, detailliert ausgeführten Handlungssträngen, die von den 1950er-Jahren bis in den Januar 2011 reichen, und mit immer neuen Geschichten führt uns Rafik Schami durch seine Erzählung, um am Ende jeden losen Faden kunstvoll zu verknüpfen. Dass ihm dies ohne Kitsch gelingt, der Roman keine Sekunde an Faszination verliert und man nie den Überblick verliert, ist die Meisterleistung eines begnadeten Erzählers. Einzig die immer wieder betonte sexuelle Potenz seines Helden, die dieser von Zeit zu Zeit mit Hilfe von „Gigante XXL“ noch steigert, hat mich genervt, soll das Gesamtlob, das auch für das herausstechend schöne Cover gilt, jedoch letztlich nicht mindern.

Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten. Hanser 2015
www.hanser.de

Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing

Eine Liebeserklärung an die Medizin

Die überraschende Geburt der Zwillinge Marion und Shiva 1954 im Missing Hospital in Addis Abeba wird überschattet vom Tod der Mutter, einer katholischen indischen Nonne, und der Flucht des Vaters, eines britischen Chirurgen.

Trotzdem verbringen die Jungen eine behütete Kindheit im Missing, liebevoll betreut von der Gynäkologin Hema und dem sensiblen Internisten und Chirurgen Ghosh. Früh geprägt durch ihr Umfeld sind Marion und Shiva fasziniert von der Medizin. Während der hochbegabte aber schuluntaugliche Shiva unter der Anleitung seiner Mutter zu deren fähigstem Helfer heranwächst, absolviert Marion Schule und Universität mit Bravour.

Die Liebe zu Genet, der Tochter einer Hausangestellten, die mit beiden zusammen aufgewachsen ist, macht die Brüder schließlich zu Rivalen und Marion muss in die USA fliehen.

Marion erzählt auf 850 Seiten eine packende Familiensaga vor dem Hintergrund der Geschichte Äthiopiens und der modernen Chirurgie.

Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing. Insel 2010
www.suhrkamp.de