Pnina Moet Kass: Echtzeit

Viele Perspektiven zum Nahostkonflikt

Jugendlichen, die sich für das aktuelle Geschehen im Nahen Osten interessieren, möchte ich diesen Roman über einen Terroranschlag empfehlen.

Der Aufbau des Buches ist mosaikartig und schildert den genauen Tagesablauf verschiedener Personen mit exakter Angabe der Uhrzeit.

Da ist zum einen Thomas, 16 Jahre alt und aus Berlin, der sich auf die Reise nach Israel macht, um dort in einem Kibbuz zu arbeiten und nebenbei die
Verstrickungen seines Großvaters in den Holocaust zu erforschen. Vera
Brodsky, eine junge Russin aus Odessa, arbeitet im Kibbuz, nachdem sie
einen Neuanfang in Israel gewagt hat, und macht sich auf den Weg zum
Flughafen, um Thomas abzuholen. Und dann ist da ein palästinensischer
Junge, der illegal bei einem Juden arbeitet und ein Attentat auf eben den Bus
plant, den Vera und Thomas nehmen werden.

Ein spannendes, realistisches, sehr nüchtern und sachlich geschriebenes
Jugendbuch, das den schweren Stoff ausgezeichnet aufarbeitet und für
Jugendliche ab ca. 14 Jahren bestens geeignet ist. Durch die kurzen
Passagen in Echtzeit und die vielen Perspektiven eignet es sich besonders
auch für alle, die eher weniger Romane und dafür lieber Sachbücher lesen.

Pnina Moet Kass: Echtzeit. Bloomsbury 2005
www.piper.de/berlin-verlag

Beryl Fletcher: Pixels Ahnen

Auf der Suche nach den eigenen Wurzeln

Alice Winter, geboren in den 1920er-Jahren in London als uneheliches Kind eines 15-jährigen Dienstmädchens, wird nach Jahren in einem unmenschlichen christlichen Waisenhaus 1935 als Hausangestellte nach Neuseeland verkauft.

Als alte Frau erzählt sie ihre Geschichte gegen Geld einer Sozialwissenschaftlerin, die solche Lebensberichte für ein angebliches Buchprojekt ihrer Auftraggeberin sammelt.

Nicht nur Alice hat das Leben hart mitgespielt, auch ihre Tochter Joy hadert mit ihrem Schicksal. Nie hat sie verwunden, dass man ihr nach ihrer Teenagerschwangerschaft die Tochter weggenommen hat, und auch nach über 30 Jahren sucht sie noch nach ihr.

Beryl Fletcher ist eine der bekanntesten Autorinnen Neuseelands. In Pixels Ahnen, das vor einigen Jahren schon einmal unter dem Titel So weit war das Land erschien, erzählt sie von der weiblichen Ahnenreihe einer Familie in fünf Generationen. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die Frage von Identität und Herkunft durch diesen spannenden, bewegenden, in der edition fünf wieder einmal wunderbar gestalteten Neuseeland-Roman.

Beryl Fletcher: Pixels Ahnen. Edition fünf 2012
www.editionfuenf.de

Chris Wormell: Drei dicke Freunde

Heute kommt etwas Großes auf mich zu…

Dass etwas Großes auf ihn zukommt, spürt der Lokführer eines Tages, denn es kribbelt in seinen großen Zehen. Und er irrt sich nicht, denn Frau Walross, Herr Bär und Frau Elefant möchten zum Einkaufen mit seinem kleinen Zug in die Stadt fahren.

Trotz seiner Zweifel kommen sie heil in die Stadt und sogar die vollen Einkaufstaschen finden auf dem Rückweg Platz. Fast wäre auch alles gut gegangen, aber dann krabbelt eine Biene in den Rüssel von Frau Elefant und sie muss ganz fürchterlich niesen …

Dieses Pappbilderbuch erzählt eine wunderbar einfache, spannende und lustige Geschichte für Kinder ab ca. 2,5 Jahren. Chris Wormell hat seine Bilder den kurzen, einfachen Texten perfekt angepasst. Alle zittern mit dem armen Lokführer um seinen schönen Zug und leiden mit ihm, bevor am Ende doch noch alles gut wird.

Chris Wormell: Drei dicke Freunde. Moritz 2015
www.moritzverlag.de

Sarah Moss: Wo Licht ist

Ein Frauenschicksal im viktorianischen England

Obwohl ich nicht ganz leicht in dieses Buch hineingekommen bin, hat es mich nach einer Weile immer mehr gefesselt und insgesamt begeistert. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt die hervorragende Ausstattung und die besonders passende und gelungene Umschlaggestaltung, die das Buch zu einem echten Blickfang im Meer der Neuerscheinungen  macht.

Angesiedelt ist die Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im viktorianisch geprägten Großbritannien. Im Mittelpunkt steht Ally, älteste Tochter des Malers und Dekorationskünstlers Alfred Moberley und seiner christlich-fundamentalistischen Frau Elisabeth. Während sich deren Engagement zu Beginn des Romans noch auf Wohltätigkeit gegenüber Armen und vor allem Frauen beschränkt, wird sie mit den Jahren politischer, kämpft für die Emanzipation. Doch dieses durchaus zu begrüßende Engagement geht einher mit der Hochmütigkeit einer Besserwisserin, mit Verbissenheit, mit zur Schau gestellter Freudlosigkeit, mit Männerhass, mit einer unvorstellbaren Lieblosigkeit den eigenen Kindern gegenüber und mit der sowohl psychischen wie physischen Misshandlung Allys und ihrer jüngeren Schwester May unter dem Deckmantel der Religion.

Ally, die trotz aller Demütigungen versucht, die Achtung und Liebe ihrer Mutter zu erlangen, möchte auf deren Anregung und schließlich auch auf eigenen Wunsch hin Medizin studieren, ein in England damals nahezu unerreichbares Anliegen. Natürlich hofft man beim Lesen, dass sie ihr großes Ziel erreicht und eine der ersten approbierten Ärztinnen Englands werden kann, doch fast noch mehr habe ich ihr die Ablösung von der kalten, herrischen Mutter gewünscht. Ob sich diese Hoffnungen erfüllen, soll hier nicht verraten werden…

Den einzelnen Kapiteln, die zum Teil in großen Zeitsprüngen aufeinander folgen, sind jeweils sehr anschauliche und detaillierte Bildbeschreibungen von Gemälden Moberleys oder seines Freundes Aubrey West vorangestellt, die einen Vorgeschmack auf den folgenden Text geben.

Die 1975 in Schottland geborene Autorin Sarah Moss ist eine Meisterin der Charakterstudie und der Psychologie. Ihre Figuren wirken nie überzogen, die Entwicklungsschritte sind gut nachvollziehbar und die Schilderungen der historischen Zeitumstände empfand ich als ebenso informativ wie erschreckend.

Für mich ein Lesehighlight 2015.

Sarah Moss: Wo Licht ist. mare 2015
www.mare.de

Philipp Tingler: Schöne Seelen

„…denn wir sind nie, was wir scheinen.“

Ich muss zugeben, dass mir noch nie eine Rezension so schwergefallen ist
wie bei diesem Buch, da ich mich dem Text oft nicht gewachsen fühlte. Ob
das an meinem Intellekt oder am einfach völlig überzogenen Schreibstil
des Autors liegt, mögen andere beurteilen. Doch während mich der Roman
insgesamt einfach nicht fesseln konnte, war ich gleichzeitig versucht,
unzählige wirklich großartige, oft sehr humorvolle Sätze und Passagen
anzustreichen oder laut vorzulesen. Ich kann mir gut vorstellen, dass
Philipp Tingler ein hervorragender Kolumnist ist und ich seine Kolumnen
mit Freude lesen würde, aber für einen ganzen Roman war es mir einfach
zu viel.

Am besten hat mir das Anfangskapitel mit den letzten Stunden der
Millvina Van Runkle gefallen, die in einer Schweizer  Schönheitsklinik in
Anwesenheit des Schriftstellers Oskar Canow und einer unerträglichen
„Freundin“ wortreich ihr Leben aushaucht. Die bösartige Beschreibung
einer Gesellschaftsschicht, in der alle dieselben Anwälte, Friseure,
Psychotherapeuten und Dekorateure haben, alle das gleiche „alterslose,
leicht amorphe Einheitsgesicht“, das vom Schönheitschirurgen „kunstvoll
gelähmt“ wurde, und niemand ist, was er scheint, ist einfach herrlich zu
lesen. Auch die folgende Beerdigung, kunstvoll und bis ins Detail von
der Verstorbenen beim angesagtesten Dekorateur in Auftrag gegeben, bei
der man eine Unzahl von Angehörigen dieser Gesellschaftssphäre näher
kennenlernt, hat mich noch amüsiert. Die bösartige Vorstellung dieser
wie auf einer Theaterbühne nacheinander aufmarschierenden Figuren ist
äußerst unterhaltsam. Danach wurde es für mich jedoch immer zäher,
obwohl die Idee der Psychotherapie i. V., die der etwas inspirationslose
Schriftsteller Oskar Canow stellvertretend für seinen zu beschäftigten
Freund und Schwiegersohn Millvinas, Viktor Hasenclever, antritt,
eigentlich gut ist. Trotzdem habe ich mich durch das zweite Drittel des
Buches nur gequält. Erst der letzte Teil, in dem der Schwindel auffliegt
und der Psychotherapeut doch noch seine Qualitäten zeigen kann, war für
mich wieder ansprechender.

In einem auf dem hinteren Umschlag abgedruckten Zitat lobt der WDR
Philipp Tinglers „Ohr für Phrasen und hohles Geschwätz“ und seine
umwerfend rasanten und komischen Dialoge. Ich möchte da nicht
widersprechen, aber für mich sind 333 Seiten davon entschieden zu
viel…

Ein Lob geht aber wie immer an den Kein & Aber Verlag für die
hochwertige Ausstattung und Gestaltung dieses sehr gut in der Hand
liegenden Buches. Es ist schön, dass es mutige Verlage gibt, die Romane
abseits des Mainstreams in ihr Programm nehmen. Ich bin sicher, dass
es auch für dieses Buch ein Publikum gibt, nur gehöre ich eben nicht
dazu.

Philipp Tingler: Schöne Seelen. Kein & Aber 2015
keinundaber.ch

Chantal Schreiber: Plötzlich in Peru

 Nicht alles ist planbar

Elena hat genaue Pläne für ihr Leben nach dem Abitur, doch ihr Freund durchkreuzt sie. Aus Trotz handelt sie erstmals spontan und reist für drei Monate zu Sprachkurs, Sightseeing und Arbeit im Waisenhaus nach Peru.

Mit gemischten Gefühlen fliegt sie ab, verändert kehrt sie nach Wien heim. Nicht alle Eindrücke sind positiv, aber sie hat gelernt, dass nicht alles planbar ist, einen Freund fürs Leben und eine neue Liebe gefunden, im Waisenhaus viel Zuneigung erfahren und ein atemberaubendes Land kennen gelernt.

Für Mädchen ab 13 Jahre, die sich für fremde Länder und Kulturen interessieren.

Chantal Schreiber: Plötzlich in Peru. Planet girl 2011
www.thienemann-esslinger.de/planet

Mirjam Pressler: Wundertütentage

Offen sein für Neues

Der neunjährige Samuel ist ein zurückhaltender Junge, seiner Meinung nach in allem durchschnittlich. Er zieht sich ganz in seine Leidenschaft für das Käfersammeln zurück.

Als die Familie umzieht und die Mutter vorübergehend die Familie verlässt, gerät er aus dem Gleichgewicht. Doch die Schwester macht ihm Mut: „Manchmal ist ein Neubeginn wie eine  Wundertüte. Man weiß nicht, was drin ist.“ Langsam sucht Samuel den Weg aus seinem Eigenbrödlerdasein und findet Freunde.

Mirjam Pressler hat ein ungewöhnlich einfühlsames, ruhiges Kinderbuch geschrieben, das Kindern ab ca. neun Jahren Mut macht.

Mirjam Pressler: Wundertütentage. Beltz & Gelberg 2005
www.beltz.de

Gina Kaus: Die Schwestern Kleh

  Ein wiederentdeckter Klassiker

Heute zu Unrecht fast vergessen, war Gina Kaus in den 1920er-Jahren eine der meistgelesenen deutschsprachigen Autorinnen. Mit der Neuauflage ihres autobiografisch inspirierten Romans Die Schwestern Kleh in der leinengebundenen Reihe der edition fünf hat sich das geändert.

Geboren in Wien 1893 als Kind armer jüdischer Eltern, heiratete Gina Kaus jung in eine reiche Juweliersfamilie ein, wurde aber bereits im Ersten Weltkrieg Witwe. Während der 1920er-Jahre führte sie das verwegene Leben der „neuen Frau“, bezahlte dies jedoch mit einer lebenslangen Schlafmittelabhängigkeit. Die Schwestern Kleh musste 1933 bereits in Amsterdam erscheinen, da ihre Bücher in Deutschland verbrannt worden waren. 1938 floh sie vor den Nazis nach Hollywood, wo sie sich als Drehbuchautorin etablierte und 1985 starb.

Die Geschichte der sehr unterschiedlichen Schwestern Irene und Lotte Kleh aus einer Wiener Juweliersfamilie wird von der Gouvernante erzählt, die nach dem frühen Tod der Mutter ins Haus kommt. Während Irene eher still und unscheinbar ist und eine klassische Versorgungsehe anstrebt, ist die zwei Jahre jüngere Lotte hübsch, quirlig und unkonventionell und möchte Schauspielerin werden. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Irenes Bräutigam und Lotte sich bei der ersten Begegnung unhaltbar ineinander verlieben…

Dieser sehr empfehlenswerte, leicht zu lesende Klassiker ist einerseits ein elegant erzähltes, berührendes Liebesdrama, andererseits ein Panorama der Gesellschaft von der Jahrhundertwende bis zur Weltwirtschaftskrise.

Gina Kaus: Die Schwestern Kleh. Edition fünf 2013
www.editionfuenf.de

Gerd Ruge: Unterwegs

Erfreulich uneitle Erinnerungen

Abgesehen vom ersten Kapitel über seine Jugend im Dritten Reich beschränkt sich der bedeutende Journalist und Auslandskorrespondent Gerd Ruge auf politische Erinnerungen.

Diese aber umfassen die gesamte Weltgeschichte nach 1945, denn Ruge hatte, ausgestattet mit „Neugier und gesunden Beinen“, einen untrüglichen Riecher dafür, wo auf der Welt sich etwas tat, und war vor Ort. Er berichtete 1950 aus Jugoslawien, 1953/54 aus Korea, war in Moskau während Adenauers ersten Besuchs, in den USA als die Kennedys und Martin Luther King ermordet wurden, erlebte in China den Umbruch nach Maos Tod und wieder in Moskau den Wechsel zu Gorbatschow und dessen Entmachtung.

Über all das berichtet er so engagiert, anschaulich und uneitel, dass die Lektüre für Zeitzeugen wie Nachgeborene zu einer packenden Reise durch die Welt des kalten Krieges wird.

Gerd Ruge: Unterwegs. Hanser Berlin 2013
www.hanser-literaturverlage.de

Carl Oskar Renner: Der Müllner-Peter von Sachrang

 Ein moderner Klassiker

Beim Lesen hat man den Eindruck, Carl Oskar Renners bekanntester Roman könnte vor 100 Jahren geschrieben sein, doch mit seinen gerade einmal gut 40 Jahren ist er »nur« ein moderner Klassiker.

Der historische Müllner-Peter lebte von 1766 bis 1843 und war seiner Begabungen wegen zunächst für die Priesterausbildung vorgesehen. Diese brach er jedoch ab und kehrte als Müller in sein Heimatdorf Sachrang zurück. Nach anfänglichem Misstrauen der Mitbürger wurde er als Chirurg, Apotheker, Gemeindevorsteher und vor allem als Kirchenmusiker und Komponist ein hochgeachteter Mann.

Der Müllner-Peter von Sachrang ist ein Heimatroman im besten Sinn, der nicht nur die Biografie dieses interessanten Mannes aufgreift, sondern auch das Dorfleben im Chiemgau in der Zeit um die napoleonischen Kriege anschaulich schildert.

Carl Oskar Renner: Der Müllner-Peter von Sachrang. Rosenheimer Verlagshaus 2013
www.rosenheimer.com