Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten

Die Liebe ist der Anfang aller Geschichten

Wie sein Held Salman Baladi in seinem neuen Roman Sophia oder der Anfang aller Geschichten musste auch Rafik Schami vor über 40 Jahren aus Syrien fliehen, lebt seither in Deutschland und verfasst seine in zahlreiche Sprache übersetzten Romane auf Deutsch.

Doch im Gegensatz zu Salman hat Rafik Schami seiner Sehnsucht nach seiner Heimatstadt Damaskus nie nachgegeben – außer in seinen Büchern. Salman dagegen, der einst im bewaffneten Untergrund gegen das brutale Regime von Hafiz al-Assad gekämpft hat, konnte Syrien 1970 illegal über Beirut verlassen, hat in Heidelberg studiert und lebt inzwischen als überaus erfolgreicher Geschäftsmann für den Import arabischer und den Export italienischer Lebensmittel mit seiner italienischen Frau und dem gemeinsamen Sohn in Rom. 2010 wird sein Wunsch nach einer Reise in die alte Heimat jedoch so übermächtig, dass er nach ausführlichen Sondierungen über seine Sicherheit ein Flugzeug nach Damaskus besteigt.

Seine Eltern, seine Familie, Bekannte, Freunde, Nachbarn und ehemalige Geliebte heißen ihn willkommen und die Feiern zu seiner Begrüßung wollen kein Ende nehmen. Tagsüber schlendert er durch Damaskus, geht die alten Wege, entdeckt neue. Doch plötzlich stellt sein Cousin Elias, hoher Mitarbeiter bei einem der 15 syrischen Geheimdienste, ihm eine Falle und Salman sieht sich für den Tod an einer Frau, der sich einige Zeit vor seiner Ankunft ereignet hat, zur Fahndung ausgeschrieben. Obwohl Elias und seine Genossen es vermutlich in erster Linie auf Salmans Geld abgesehen haben, schwebt er in Lebensgefahr und muss untertauchen.

Zum Glück für ihn kann seine Mutter Sophia, eine der eigentlichen Heldinnen des Romans, auf alte Kontakte zurückgreifen. Ihre erste Liebe, Karim, ein Moslem, den die Christin damals nicht geheiratet hat, steht noch in ihrer Schuld. Und Karim, der als alter Mann wieder eine Christin liebt, ist nur zu gerne bereit, ihr und Salman zu helfen…

Rafik Schamis Roman ist eine Liebeserklärung an seinen Sehnsuchtsort Damaskus, an seine unterdrückten syrischen Landsleute und an die Liebe über Religionen hinweg, aber zugleich auch ein Aufschrei gegen Gewalt, Unterdrückung, Korruption und religiösen Fanatismus und eine Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs und des aktuellen Flüchtlingsdramas. In sehr zahlreichen, detailliert ausgeführten Handlungssträngen, die von den 1950er-Jahren bis in den Januar 2011 reichen, und mit immer neuen Geschichten führt uns Rafik Schami durch seine Erzählung, um am Ende jeden losen Faden kunstvoll zu verknüpfen. Dass ihm dies ohne Kitsch gelingt, der Roman keine Sekunde an Faszination verliert und man nie den Überblick verliert, ist die Meisterleistung eines begnadeten Erzählers. Einzig die immer wieder betonte sexuelle Potenz seines Helden, die dieser von Zeit zu Zeit mit Hilfe von „Gigante XXL“ noch steigert, hat mich genervt, soll das Gesamtlob, das auch für das herausstechend schöne Cover gilt, jedoch letztlich nicht mindern.

Rafik Schami: Sophia oder Der Anfang aller Geschichten. Hanser 2015
www.hanser.de

Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing

Eine Liebeserklärung an die Medizin

Die überraschende Geburt der Zwillinge Marion und Shiva 1954 im Missing Hospital in Addis Abeba wird überschattet vom Tod der Mutter, einer katholischen indischen Nonne, und der Flucht des Vaters, eines britischen Chirurgen.

Trotzdem verbringen die Jungen eine behütete Kindheit im Missing, liebevoll betreut von der Gynäkologin Hema und dem sensiblen Internisten und Chirurgen Ghosh. Früh geprägt durch ihr Umfeld sind Marion und Shiva fasziniert von der Medizin. Während der hochbegabte aber schuluntaugliche Shiva unter der Anleitung seiner Mutter zu deren fähigstem Helfer heranwächst, absolviert Marion Schule und Universität mit Bravour.

Die Liebe zu Genet, der Tochter einer Hausangestellten, die mit beiden zusammen aufgewachsen ist, macht die Brüder schließlich zu Rivalen und Marion muss in die USA fliehen.

Marion erzählt auf 850 Seiten eine packende Familiensaga vor dem Hintergrund der Geschichte Äthiopiens und der modernen Chirurgie.

Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing. Insel 2010
www.suhrkamp.de

Gloria Goldreich: Die Tochter des Malers

Ein biografischer Roman über Ida Chagall und ihren Vater

In Die Tochter des Malers, einem biografischen Roman über die einzige Tochter von Marc Chagall, Ida Chagall, hält sich die amerikanische Autorin Gloria Goldreich nach eigenem Bekunden streng an biografische Fakten, die sie aus dem Studium von Biografien, Briefen und anderen Quellen gewonnen hat, schmückt diese jedoch in Romanform aus und bettet sie in den historischen Kontext, jedoch weitgehend ohne Jahresangaben, ein.

Ida Chagall (1916-1994) erlebte als Kind die Flucht ihrer jüdischen Eltern aus dem revolutionären Russland, ein traumatisches Erlebnis für Marc und vor allem Bella Chagall. Nach einer Zwischenstation in Berlin setzt der Roman mit dem Leben der Familie in Frankreich vor Beginn des Zweiten Weltkriegs ein.

Ida, überbehütete Tochter und eines der Lieblingsmodelle ihres Vaters, wuchs unter strenger Beobachtung und weitgehend abgeschirmt von der Außenwelt auf. Nach einer Abtreibung auf Wunsch der Eltern im Alter von 19 Jahren zwangen Marc und Bella Chagall Ida zur Heirat mit dem Kindsvater Michel Rapaport, ebenfalls Sohn aus Russland ausgewanderter Juden, von den Chagalls jedoch wegen ihrer Armut verachtet.

Mit der Besetzung Frankreichs durch deutsche Soldaten veränderte sich das Gefüge innerhalb der Familie dramatisch. Während Marc und Bella die Gefahr lange Zeit leugneten und eine weitere Emigration kategorisch ausschlossen, organisierte Ida das Leben und die Flucht ihrer Eltern und konnte sie schließlich zur Ausreise in die USA bewegen. Bella starb im Exil, Marc Chagall kehrte nach dem Krieg nach Frankreich zurück.

Die Tochter des Malers ist nicht nur ein biografischer Roman über Ida, sondern zugleich über Marc Chagall in der Zeit von ca. 1935 bis ca. 1960. Der Wandel von der behüteten Tochter zur beruflichen wie privaten Managerin ihrer Eltern, später ihres Vaters – sie organisierte ihm, der nicht alleine sein konnte, sogar seine Partnerinnen – macht den Reiz des Romans aus. Dabei war es für mich ernüchternd, zu erfahren, welch unfassbar egoistischer, eitler, realitätsfremder und naiver Mensch der geniale Künstler Marc Chagall war.

Erst gegen Ende des Romans scheint sich Ida – nicht ganz freiwillig – aus der selbstgewählten Vereinnahmung durch den Vater zu lösen und ein eigenes Leben zu führen.

Gloria Goldreich hat aus den biografischen Fakten einen unterhaltsamen, informativen Roman gewebt. Besonders die Stellen, in denen sie Marcs Beziehung zum Judentum, aber auch zur christlichen Religion, schildert, haben mir gut gefallen. Der einfache Stil und die strikte Chronologie machen das Buch zu einem leicht lesbaren Vergnügen, jedoch oft ohne großen Tiefgang.

Gloria Goldreich: Die Tochter des Malers. Aufbau 2015
www.aufbau-verlag.de

Stefan Gemmel: Im Zeichen der Zauberkugel – Das Abenteuer beginnt

Das Abenteuer hat gerade erst begonnen…

Wenn ein Buch mit dem Satz „Das Abenteuer hatte gerade erst begonnen…“ endet, weiß man, dass weitere Bände folgen werden. In diesem Fall sind noch sechs geplant, und die Geschichte hat dafür mehr als genug Potential.

Was macht ein aufgeweckter Junge wie Alex, der mit seinen beiden nervigen Stiefschwestern, den Zwillingen Sally und Liv, seine Ferien bei Oma Ilse und deren Katze Kadabra verbringt, wenn es dort einen verbotenen, gefährlichen Raum auf dem Dachboden gibt?  Klar, er verschafft sich bei nächster Gelegenheit Zutritt, zumal die Kammer die Hinterlassenschaft seines verschwundenen Großvaters, des Professors für Magie, Zauberei und Rituale Aurelius Baumann enthält. In einer Truhe entdeckt Alex ein ledergebundenes, zerschlissenes Buch mit dessen Aufzeichnungen, die als Geschichte in der Geschichte typografisch geschickt abgesetzt im Buch wiedergegen sind, und eine Zauberkugel mit einem roten Edelstein. Wie gut, dass Alex bei diesem zweiten Fund bereits die Notizen seines Großvaters aufmerksam gelesen hat, denn sonst hätte er Sahli nie kennengelernt, hätte nie erfahren, dass der ihm drei Wünsche erfüllen kann, und wäre nie dem Geheimnis um den Verbleib seines Großvaters näher gekommen…

Das Buch liest sich teilweise wie ein Abenteuer aus Tausend und einer Nacht und lässt die kleinen Leserinnen und Leser genauso wie die Vorleser eintauchen in die orientalische Welt des kleinen Kamelhüterjungen Sahli, der trotz seiner Schlauheit und List vor langer, langer Zeit vom bösen Dschinn Argus in eine Zauberkugel eingesperrt wurde und dort auf seine Befreiung wartet.

Mir hat dieser Beginn des Abenteuers um Alex, Sahli, den Professor und den bösen Dschinn ausgesprochen gut gefallen, weil der Spagat zwischen einer Geschichte im Hier und Jetzt und der orientalischen Märchenwelt so gut gelungen ist. Alex und Sahli sind mutige, aufgeweckte Jungen, die trotzdem ab und zu ihre Angst zeigen können, die dem Bösen mit List und Vorsicht entgegentreten und die mit der Kraft ihres gemeinsamen Handelns den Kampf gegen Argus aufnehmen.

Die 14 kurzen Kapitel mit der etwas größeren Schrift, vielen Dialogen und einem Umfang von knapp 170 Seiten eignen sich für Jungs wie Mädchen ab ca. acht Jahren, zum Vorlesen eventuell auch früher. Die Mehrschichtigkeit der Erzählung erfordert eine gewisse Leseerfahrung. Sprachlich wie erzählerisch hebt sich der Text wohltuend vom Durchschnitt der Kinderliteratur ab. Die sehr gut zum Inhalt passenden Schwarz-Weiß-Illustrationen unterstreichen den Inhalt und bieten viele zusätzliche Entdeckungsmöglichkeiten.

Stefan Gemmel: Im Zeichen der Zauberkugel – Das Abenteuer beginnt. Carlsen 2015
www.carlsen.de

Kim Edwards: See der Träume

Auf der Suche nach der Familiengeschichte

Nach dem Tod ihres Vaters, an dem sie sich mitschuldig fühlt, ist Lucy Jarrett nirgends mehr heimisch geworden. Als Hydrologin hat sie in vielen Ländern gearbeitet und lebt nun mit ihrem japanischen Freund in dessen Heimat. Doch das Land bleibt ihr fremd und sie findet keinen neuen Job.

Ein Unfall ihrer Mutter lässt sie zum ersten Mal wieder in ihre Heimatstadt The Lake of Dreams im Staat New York zurückkehren. Dort weckt eine bisher in der Familiengeschichte totgeschwiegene Vorfahrin ihre Neugier und sie beginnt, das Leben dieser Frau, die sich in der frühen Frauenbewegung engagiert hat, zu recherchieren. Dabei trifft sie nicht nur ihren Jugendfreund wieder, sondern lernt einen bisher unbekannten Zweig ihrer Familie kennen und findet Erstaunliches über den Tod ihres Vaters heraus.

Zwar ist der Roman wie Die Tochter des Fotografen der gleichen Autorin atmosphärisch dicht und sensibel erzählt, doch sind mir die Personen beim Lesen fremd geblieben und der Text wirkte auf mich zu konstruiert.

Kim Edwards: See der Träume. Aufbau 2012
www.aufbau-verlag.de

Peter Härtling: Krücke

Die Geschichte einer großen Freundschaft

Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Wie viele andere Kinder hat auch der zwölfjährige Thomas beim Transport aus der Tschechoslowakei seine Mutter aus den Augen verloren. Bei Tante Wanda in Wien wollten sie sich wiedertreffen, aber als Thomas dort ankommt, gibt es das Haus Hellergasse 9 nicht mehr.

Zum Glück trifft Thomas Krücke, einen Kriegsinvaliden, der ihm Sicherheit gibt. Bei ihm und seiner jüdischen Freundin Bronka findet er für den Übergang ein neues Zuhause. Er lernt wieder lachen.

Doch dann heißt es Abschied nehmen von Bronka, Krücke fährt mit ihm nach Deutschland. Auf dem langen Transport im Güterwagen erleben sie ein Stück jener wirren Nachkriegszeit, in der es nur ums Überleben ging.

In Deutschland angekommen, müssen sie viermal innerhalb von acht Monaten ihr Quartier wechseln. Thomas ist glücklich bei Krücke, trotzdem vermisst er die Mutter schmerzlich. Aber eines Tages gelingt es Krücke, die Mutter zu finden, und nun heißt es wieder Abschied nehmen…

Krücke ist ein warmherziges und sehr einfühlsames Buch für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahre über eine große Freundschaft in einer schwierigen Zeit und angesichts der Flüchtlingsströme 2015 von großer Aktualität.

Peter Härtling: Krücke. Gulliver 2016
www.beltz.de

Susan Vreeland: Mädchen in Hyazinthblau

Die Zeitlosigkeit der Kunst

Acht Kapitel, acht Geschichten um ein fiktives Gemälde des Delfter Malers Vermeer, die man wahlweise auch in umgekehrter Reihenfolge lesen kann!

Susan Vreeland zeichnet die Geschichte des Bildes, das die Tochter des Malers im hyazinthblauen Kleid zeigt, und das Schicksal seiner Besitzer über 350 Jahre sehr lebendig nach. Ausgehend von seinem heutigen Eigentümer, einem New Yorker Mathematiklehrer, bis zu seiner Entstehung im 17. Jahrhundert führt uns jedes Kapitel weiter zurück. Dabei steht die stille Schönheit des Gemäldes, das alle in seinen Bann zieht, in krassem Gegensatz zur Dramatik im Schicksals seiner Besitzer, sei es während einer Deportation im Dritten Reich, während einer Flutkatastrophe oder während eines Hexenprozesses.

Jede Geschichte erzählt von einem Wendepunkt im Leben der Besitzer und immer spielt das Bild eine entscheidende Rolle.

Mich hat dieses kunstvoll komponierte Buch ebenso bezaubert wie das Gemälde über Jahrhunderte seine Betrachter.

Susan Vreeland: Mädchen in Hyazinthblau. Diana 2010
www.randomhouse.de

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band

Freundschaft und Liebe jenseits politischer und sozialer Grenzen

Alma, einziges Kind wohlhabender Eltern in Buenos Aires, besucht eine  katholische Privatschule. Die Wochenenden verbringt die Familie auf einer Insel außerhalb der Stadt. Dort lernt Alma die Geschwister Carmen und Marito kennen, die aus armen Verhältnissen stammen und ihre besten
Freunde werden. Doch je älter Alma wird, desto schwerer wird der Spagat zwischen den beiden Welten und schließlich begeht sie bei ihrer Geburtstagsfeier einen so großen Verrat an Carmen, dass sie ihre beste Freundin verliert. Auch Marito, in den sie sich inzwischen verliebt hat, sieht sie ein Jahr nicht wieder.

Als die beiden schließlich zueinander finden, versuchen ihre Eltern, die Beziehung zu verbieten. Doch was ihnen nicht gelingt, schafft schließlich die Politik, denn inzwischen herrschen in Argentinien die Militärs und Marito steht auf der anderen Seite.

Ein wunderbar poetisches, trauriges Buch für Mädchen ab 14 Jahren über Klassenunterschiede, wahre Freundschaft, erste Liebe und Erwachsenwerden im Schatten von Ungerechtigkeit, Feindseligkeit und Angst.

Für Jugendliche, die nichts über die argentinische Militärdiktatur wissen, sicher eine komplizierte Lektüre.

Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band. Fischer 2013
www.fischerverlage.de

W. Somerset Maugham: Liza von Lambeth

Ein wacher Blick auf die Schattenseiten der Industrialisierung

Liza von Lambeth war William Somerset Maughams (1874 – 1965) erster Roman und der bescheidene Erfolg veranlasste ihn, seinen Beruf als Armenarzt in London im Alter von nur 23 Jahren aufzugeben, um sich fortan ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen.

Ort der Handlung ist die Londoner Vere-Street im Armen- und Arbeiterviertel Lambeth südlich der Themse, geprägt durch Armut, Gewalt und Alkohol. Dort lebt die 18-jährige Fabrikarbeiterin Liza, ein hübsches, selbstbewusstes und lebenslustiges Mädchen, bei ihrer verwitweten, alkoholabhängigen Mutter. Ihr Verehrer Tom ist ein solider, ehrlicher junger Mann, der ihr ein bescheidenes Leben bieten könnte, doch stattdessen verliebt Liza sich in einen älteren, verheirateten Familienvater aus dem Viertel. Auf eine kurze Phase des heimlichen Glücks folgt eine Tragödie.

W. Somerset Maugham schildert die Verhältnisse in einem Arbeiterslum um 1900 minutiös und unsentimental. Der Roman trug ihm beim Bürgertum viel Kritik ein, weil er einerseits die moralische Wertung dem Leser überließ und es andererseits als unpassend galt, die Welt der Arbeiter so naturalistisch abzubilden.

Ein gut zu lesender Roman, der aber weit von meinem absoluten Lieblingbuch Der bunte Schleier vom gleichen Autor entfernt ist.

W. Somerset Maugham: Liza von Lambeth. Diogenes 2005
www.diogenes.ch

Jürgen-Thomas Ernst: Vor hundert Jahren und einem Sommer

Aus Raum und Zeit gefallen

Würde ich es nicht besser wissen, so hätte ich darauf getippt, dass dieses Buch ein Klassiker ist, geschrieben vor mindestens hundert Jahren. Denn der Stil ist – im besten Sinne – altmodisch, die Sprache so blumig, die Landschafts- und Naturbeschreibungen so märchenhaft, wie ich es aus der aktuellen Literatur nicht kenne.

Wir begleiten Annemie in diesem Roman durch ihr Leben von der Geburt bis zu einem geschätzten Alter von etwa 40 Jahren. Geschätzt deshalb, weil es hier keinerlei Jahresangaben gibt, genauso wenig wie konkrete Ortsangaben, wodurch die Geschichte wie aus Raum und Zeit gefallen erscheint.

„Ein märchenhafter Entwicklungsroman“ schreibt der Verlag, wobei „märchenhaft“ sich eher auf den Stil als auf Annemies Leben bezieht, das für ein lediges Kind wie sie von Verleugnung und Armut geprägt ist. Obwohl sie mit ihren Zieheltern großes Glück hat, ist ihr Leben von Widrigkeiten und Tragödien durchsetzt. Erst als sie nach einer jahrelangen Odyssee ins Haus der Zieheltern zurückkehrt und dort ihren Ziehbruder Jonathan wiederfindet, scheinen ihr Ruhe und Glück beschieden. Beharrlich verfolgen sie ihr großes Projekt einer Kirschernte im Winter, doch der Krieg macht alle Pläne zunichte. Und trotzdem bleibt der Autor auch am Ende dem Märchenstil treu: Und wenn sie nicht gestorben sind…

Obwohl ich mir an einigen Stellen eine Straffung des Textes gewünscht hätte, da der Stil bei mir eine gewisse Ermüdung erzeugt hat, war die Lektüre dieses Romans ein Gewinn.

Jürgen-Thomas Ernst: Vor hundert Jahren und einem Sommer. Braumüller 2015
www.braumueller.at