Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel

  Der schwere Weg zurück 

Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1996 gab es in Kanada sogenannte Residential Schools, in denen Kindern der First Nations unermessliches Leid und Unrecht widerfuhr. Diese staatlich lizensierten Internate für indigene Kinder standen unter kirchlicher, oftmals katholischer Leitung. Ziel war nicht primär Bildung, sondern die Zerstörung des indigenen Erbes sowie Ausrottung der Stammes-Sprachen und Religion, was einem kulturellen Völkermord gleichkam. Ihren Eltern meist gewaltsam entrissen, wurden die Kinder körperlich misshandelt, zur Arbeit gezwungen und häufig auch sexuell missbraucht. Viele starben an Krankheiten, Verletzungen oder durch Suizid. Wer die Schulzeit überlebte, litt oder leidet bis heute unter den menschenverachtenden Erfahrungen mit der häufigen Folge von Suchterkrankungen und gibt das Trauma nicht selten an die eigenen Kinder weiter, so geschehen beim kanadischen Roman- und Sachbuchautor Richard Wagamese (1955 – 2017) vom Stamm der Ojibwe. Anders als sein Ich-Erzähler Saul Indian Horse in seinem preisgekrönten Roman Indian Horse von 2012, in deutscher Übersetzung von Ingo Herzke als Der gefrorene Himmel 2021 erschienen, war er selbst nie auf einer solchen Schule, biografische Bezüge sind jedoch offensichtlich.

Der Weg in die Hölle
Der Roman beginnt in einer Suchtklinik, wo Saul, anstelle sich im Gesprächskreis zu öffnen, seine Geschichte aufschreibt:

Alles, was ich vom Indianersein wusste, starb im Winter 1961, als ich acht Jahre alt war. (S. 17)

Als ihn seine Großmutter nicht mehr schützen kann, landet Saul – wie zuvor seine älteren Geschwister – in einer Residential School:

St. Jerome’s war die Hölle auf Erden. (S. 90)

Saul überlebt, indem er sich zurückzieht. Erst als der neue Pater Leboutilier das Eishockeyspiel mitbringt, findet Saul einen anderen Ausweg aus seinen Qualen:

Wenn ich auf dem Eis war, ließ ich all das hinter mir. (S. 95)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Blessing

Aufstieg und Fall
Der Sport ebnet dem Ausnahmetalent den Weg aus der Hölle. In Manitouwadge, Ontario, findet er ein neues Zuhause bei der verständnisvollen Ojibwe-Familie Kelly und eine herzliche Aufnahme im indigenen Eishockeyteam The Moose, wo er in den Spielen gegen andere Indianerteams zum Star aufsteigt. Zum ersten Mal fühlt sich Saul wieder zuhause. Doch als sie gegen weiße Teams antreten, Saul gar später bei einer weißen Profi-Mannschaft anheuert und damit eine Grenze in diesem vermeintlich weißen kanadischen Nationalsport überschreitet, schlagen ihm blanker Hass und Rassismus entgegen. Obwohl er sich lange dagegen wehrt, erfüllt er in seiner Wut schließlich genau die stereotypen Erwartungen vom „Wilden“ und sein Eishockey-Traum platzt. Eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang und mündet endlich in der Entzugsklinik. Nun muss Saul sich seiner verdrängten Vergangenheit und der ungeheuerlichen Wahrheit stellen:

Ich brauchte das Hockey, um mich selbst vor der Erkenntnis der Wahrheit zu schützen, davor, ihr täglich ins Auge schauen zu müssen. (S. 216)

Sein Weg zur Heilung führt zurück in die Vergangenheit.

Ein großartiger Erzähler
Der gefrorene Himmel ist ein ebenso bedrückend realistischer wie schockierender Roman, den ich mit angehaltenem Atem gelesen habe. Ob es um das traditionelle Leben der First Nations, die atemberaubende Natur Nord-Kanadas, die Qualen im Internat, die Faszination des Eishockeyspiels oder den Weg zur Heilung geht, immer ist Saul ein ebenso glaubwürdiger wie einnehmender, präziser wie emotional zurückhaltender Erzähler. Die kurzen Kapitel treiben die Handlung voran und drängen zum Weiterlesen.

Ein großartiges, erhellendes Leseerlebnis, ergänzt durch ein ausgezeichnetes Nachwort der Amerikanistik-Professorin Katja Sarkowsky.

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing 2021
www.penguin.de/Verlag/Blessing

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Richard Wagamese auf diesem Blog:

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