Terhi Kokkonen: Arctic Mirage

  Mehr Nebel als Polarlicht

Arctic Mirage der 1974 geborenen finnischen Musikerin und Autorin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Schock. Wie konnte es zu dieser dramatischen Zuspitzung an einem Freitag kommen, just als endlich das ersehnte Nordlicht am Himmel zu sehen war? Beginnend mit dem Sonntag werden die Ereignisse vor dem Showdown entrollt.

Knapp dem Tod entronnen
Ein Urlaub sollte der Rettung ihrer verfahrenen Ehe dienen, dazu waren Karo und Risto eigens nach Lappland geflogen. Was sich zunächst gut anließ, endete am letzten Tag mit einem ihrer üblen Streits. Auf dem Weg zum Flughafen verunglückten sie mit ihrem Mietwagen und anstatt im Flieger nach Hause landeten sie am Sonntag, wie durch ein Wunder nur mit leichten Verletzungen, im einzigen Hotel weit und breit. Das Luxusresort namens Arctic Mirage mit Holzhäuschen zum Preis von 700 Euro pro Nacht bietet einen denkbar schlechten Service und von der Chefin persönlich angeordnete Unfreundlichkeit. Was dem gut betuchten Paar um die 50 ein paar zusätzliche Erholungstage hätte bescheren können, fördert stattdessen die Untragbarkeit ihrer Beziehung immer deutlicher zutage. Lange schon sind beide Partner psychisch auffällig und unkontrolliert im gegenseitigen wie im Verhalten zu anderen. Die Ehe ist zu einer Hölle geworden, im Raum steht sogar der Verdacht, dass Risto seine Frau um den Verstand bringen will.

Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Verschenktes Potential
Terhi Kokkonen, die für Arctic Mirage 2020 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, hat mit dem winterlichen Lappland das denkbar beste Setting für ein Beziehungsdrama gewählt. Leider nutzt sie dieses große Potential kaum, das die unberührte Natur, die in unschuldiges Weiß getauchte Landschaft, Schnee und Eis, Kälte und Stille, Wald und Einsamkeit zur Unterstützung der Handlung eigentlich böten. Da sowohl die Rückblenden bis in die Kindheit als auch das aktuelle Geschehen weit überwiegend aus Karos unzuverlässiger Sicht erzählt werden, blieben die Geschehnisse für mich zudem bis zuletzt nebulös. Lediglich ab und zu erhascht man einen Blick von außen auf das Paar, wenn Nebenfiguren, allesamt mit kurz angerissenen, problematischen Schicksalen behaftet, ihre von Karos Sicht abweichenden Eindrücke wiedergeben. Bei manchen Nebenhandlungen des nur knapp 190 Seiten umfassenden Romans konnte ich knapp noch einen Bezug zum Hauptgeschehen ausmachen, bei anderen blieb mir die Bedeutung verborgen. Ebenso erging es mir mit dem dunklen Geheimnis, das das Paar laut Klappentext angeblich hütet.

Das Spiel mit Wahrheit und Lüge
Schade, dass der stilsicher geschriebene Roman mit dem umwerfend gelungenen Cover nach stärkerem Beginn aufgrund der genannten Kritikpunkte für mich zunehmend an Faszination verlor und die zunächst gut aufgebaute geheimnisvoll-bedrückende Atmosphäre verpuffte. Bis zuletzt hoffte ich auf einen überraschenden, logisch begründeten Plot, die verständliche Einbindung der diversen Nebenstränge und Erklärungen für vielfältige Andeutungen – leider vergebens. Unzuverlässige Erzählerinnen und Erzähler sind ein großartiger Kunstgriff in der Literatur, allerdings funktionieren sie bei mir nur, wenn das Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge eine befriedigende Auflösung erfährt.

Trotz aller Kritik habe ich Arctic Mirage zumindest in den ersten beiden Dritteln nicht ungern gelesen. Mit etwas weniger „Mirage“, also Fata Morgana, und etwas mehr Lappland-Flair wäre für mich jedoch mehr drin gewesen.

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

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