Zwei Fremde in der Gaspésie
Die Gaspésie ist ein Arme-Leute-Land, sein einziger Reichtum ist das Meer, und das stirbt gerade. (S. 303)
Jahrhundertelang war die ostkanadische Halbinsel Gaspésie zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie-des-Chaleurs für viele Einwanderer und Seefahrer erster Eindruck vom amerikanischen Kontinent. Prägend ist bis heute der Fischfang, obwohl dieser traditionell bedeutendste Wirtschaftszweig durch Überfischung zugunsten des Tourismus an Bedeutung verliert.
Der Erinnerung an schöne Ferientage 2014 in der Gaspésie, an Leuchttürme, verschlafene Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé (leider im Regen) und die wohltuende Stille nach dem lebhaften Montréal ließ mich 2022 zu einem Gaspésie-Krimi greifen: Die Korallenbraut von Roxanne Bouchard, zweiter Band der Joaquín-Morales-Reihe, mit dem von Montréal in die Gaspésie umgezogenen, aus Mexiko stammenden Ermittler. Nun habe ich den ersten Band Der dunkle Sog des Meeres nachgeholt, ebenfalls mit viel Gaspésie-Atmosphäre, allerdings nicht ganz so gut wie Band zwei. Bei beiden tritt die Krimihandlung zugunsten der Beschreibung von Meer, Land und Leuten, aber auch der Midlife-Krise des Ermittlers zurück. Krimifans könnten deswegen enttäuscht, Gaspésie-Interessierte dafür umso entzückter sein.
Eine Tote im Meer
Die 1972 geborenen, mehrfach ausgezeichnete franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard verwebt in Der dunkle Sog des Meeres mehrere Handlungsebenen und Perspektiven.
Zeitweise Ich-Erzählerin ist Catherine Day, Mitte 30, aus Montréal und nach dem Tod ihrer Pflegeeltern depressiv. Die Suche nach ihrer leiblichen Mutter führt sie nach Caplan an der Baie-des-Chaleurs, doch niemand dort will mit ihr über Marie Garant reden. Bevor es zu einem Treffen kommt, wird die Leiche dieser Frau, die die Dorfgemeinschaft polarisierte und die oft jahrelang mit ihrem Segelboot unterwegs war, aus dem Meer gefischt.
Glück für den Polizeiposten Bonaventure, dass zeitgleich der neue Ermittler Joaquín Morales aus Montréal eintrifft, der eigentlich zunächst das neue Haus für sich und seine Frau Sarah einrichten will. Kurzerhand überträgt man ihm den Fall, obwohl – oder eher gerade weil – er hier niemanden kennt.
Düsteres Schweigen
Beide, Catherine und Morales, unvertraut mit der Mentalität und den Gepflogenheiten der Gaspésie, beginnen ihre Recherchen, Catherine nach dem Leben ihrer Mutter und ihrem unbekannten Vater, Morales nach der Todesursache Marie Garants: Unfall? Mord? Oder Selbstmord? Wenig tragen die Dörfler zur Aufklärung bei, freiwillig reden sie nur über das Meer. Außerdem ist der Ermittler viel zu sehr durch Eheprobleme und seine Midlife-Krise abgelenkt. Keine Chance, hier mit Montréaler Methoden zum Erfolg zu kommen, wie ihm der todkranke alte Fischer Cyrille Bernard vorwirft:
Weil Sie nicht wissen wollen, wer sie war, wie sie gelebt hat, was sie liebte. Sie wollen gar nichts wissen! Sie hängen viel zu sehr an ihrer Leiche, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern, dass das mal eine lebendige Frau war! (S. 274)
Insgesamt hätte ich mir für diesen ersten Band weniger männliche Lebenskrise und dafür mehr Spannung gewünscht. Menschliche Verwicklungen, die Atmosphäre im abgeschiedenen Fischerdorf, die Probleme der Gaspésie und Möglichkeiten der Neuorientierung beschreibt Roxanne Bouchard allerdings sehr gut, und wenn im Bistro mal wieder ein Gemüse brutal erdolcht wird, kann man, bei aller Düsternis, sogar schmunzeln.
Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres. Aus dem Französischen von Frank Weigand. Atrium 2021
www.w1-media.de
Weitere Rezension zur Joaquín-Morales-Reihe von Roxanne Bouchard auf diesem Blog: