Loyalitäten
Im Südosten der kanadischen Provinz Québec liegt zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie des Chaleurs eine ganz besondere Landzunge: die Halbinsel Gaspésie mit dem Hauptort Gaspé, vermutlich abgeleitet vom Mi’kmaq-Wort „Gespeg“, „Landesende“. Umrundet man sie auf der Route 132, ist diese „Tour de la Gaspésie“ 800 Kilometer lang und bietet eine spektakulär schroffe Nord- und eine lieblichere Südküste, Leuchttürme, kleine Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé und viel Ruhe.
Alles beginnt mit einem Vermisstenfall
Nachdem ich diese touristisch nicht überlaufene Idylle 2014 kennenlernen durfte, mag ich mir kaum vorstellen, dass auch dort Verbrechen geschehen. Für ihre Aufklärung sorgt Sergeant Joaquín Morales, 52, 1976 mit 22 Jahren der Liebe wegen von Mexiko nach Kanada übersiedelt. Nach turbulenten Zeiten bei der Kriminalpolizei Montréal möchte er es nun in der Polizeistation von Bonaventure ruhiger angehen lassen. In seinem neu gekauften, kleinen gemütlichen Haus mit Veranda und Meerblick in Caplan erwartet er seine Frau. Doch statt Sarah, die inzwischen andere Pläne hat, trifft überraschend sein älterer Sohn Sébastien ein, ohne seine langjährige Partnerin, aber mit dem festen Vorsatz, seinen Vater für alle Pannen seines Lebens verantwortlich zu machen und mit ihm abzurechnen.
Ein schlechter Zeitpunkt für eine Vater-Sohn-Aussprache, denn einerseits liegt Morales‘ bester Freund, der Fischer Cyrille Bernard, im Sterben, andererseits schickt ihn seine Vorgesetzte nach Gaspé, wo er die dortige Polizeistation bei einem Vermisstenfall unterstützen soll. Man sucht nach der 32-jährigen Angel Roberts, einer von nur zwei Hummerfischerinnen der Gaspésie, die samt ihrem Kutter in der Nacht verschwunden ist. Während Morales noch auf die Flucht einer ehemüden Frau hofft, finden ihr Vater und ihre Brüder zunächst ihr Schiff, dann taucht ihre Leiche unter erschütternden Umständen auf: im Brautkleid, das sie anlässlich ihres zehnten Hochzeitstags trug. Selbstmord? Raffiniert inszenierter Mord? Rachegeschichte unter Fischern? Vertuschung von Schwarzfischerei? Ehedrama? Familienfehde? Morales‘ Ermittlungen kommen nur schleppend voran und sein provisorisches Team, der außendienstuntaugliche Wachtmeister Érik Lefebvre, die widerborstige Fischereiaufseherin Simone Lord und die maximal unkooperative Rezeptionistin Thérèse Roch, machen ihm die Arbeit nicht einfach. Noch dazu, wo er wenig über Fischerei und das Meer weiß…
Eine Ode an das Meer und die Gaspésie
Im Mittelpunkt von Band zwei der Sergeant-Morales-Reihe im Verlag Atrium der 1972 geborenen franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard, den ich ohne Kenntnis des ersten problemlos gelesen habe, stehen neben dem Kriminalfall und der Vater-Sohn-Geschichte die Landschaft, die Fischerei und ganz besonders das Meer, Sehnsuchts-, Gefahren- und Illusionsort gleichermaßen:
„Wenn sich der Mond im Ozean spiegelt, ist da weder Silber noch eine Straße. Versuch ruhig, irgendetwas zu erhaschen, und du wirst sehen: Alles rinnt dir durch die Finger! Der Mond ist trügerisch und das Meer eine einzige Täuschung.“ (S. 9)
Langjährige Fehden, eine starke Frau im knallharten, männerdominierten Fischereigewerbe, das Moratorium für den Kabeljaufang von 1992, die Geheimnisse der Gezeiten, Strömungen und Nautik, ebenso kantige wie einprägsame und ambivalente Haupt- und Nebencharaktere, Loyalität als Lebensmaxime und vor allem eine große Liebe zur Gaspésie und zum Meer sind die Zutaten, aus denen dieser gelungene, in Kanada preisgekrönte literarische Krimi gestrickt ist. Es wird nicht mein einziger Morales-Krimi bleiben!
Roxanne Bouchard: Die Korallenbraut. Aus dem Québec-Französischen von Frank Weigand. Atrium 2022
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