Steven Uhly: Die Summe des Ganzen

  Luxuria oder Der Moment der Wahrheit

Keine Institution war in den letzten Jahren so verstrickt in Missbrauchsskandale wie die katholische Kirche. Deshalb mutet der Beginn des Romans Die Summe des Ganzen von Steven Uhly wie eine Verdrehung der Umstände an, denn hier wendet sich ein junger Unbekannter wegen seiner pädophilen Neigungen ausgerechnet an einen Padre. In der Pfarrkirch des Heiligen Isidro in Horaleza, einem ärmlichen nordöstlichen Außenbezirk von Madrid, erscheint im Beichtstuhl von Padre Roque de Guzmán an einem Mittwoch Anfang März während der Coronazeit und dann fast täglich ein Sünder, der in gehetztem Ton Ungeheuerliches berichtet: Er sei im Begriff, sich an seinem zehnjährigen Nachhilfeschüler zu vergehen, einem „betörenden Engel“, der offensichtlich auch Gefühle für ihn hege:

Welch eine Beichte! Eine Beichte, die etwas zum Gegenstand hat, was noch gar nicht geschehen ist, wovon er aber weiß, dass es unvermeidlich stattfinden wird. Unvermeidlich! Und strenggenommen findet es bereits dadurch statt, dass er weiß, was er tun wird. (S. 21)

Unter Druck
Der Padre, ein gesetzter Mann von 50 Jahren, routiniert in der Abnahme der Beichte und der göttlich-autorisierten Befreiung von Sünde und Schuld bei Ehebruch, Gewalt und anderen alltäglichen Vergehen, gerät bei diesem für ihn gesichtslosen Mann von Beichte zu Beichte mehr ins Schwitzen. Zugleich wartet er dringend auf ihn und fürchtet seine Rückkehr. Nicht nur, dass der Missbrauch immer näherrückt, setzt ihn der offensichtlich gebildete, bibelfeste Sünder mit seinen Argumentationen, Rechtfertigungen und Schilderungen immer mehr unter Druck und veranlasst ihn zu Aussagen, über die er selbst staunt. Von Beichte zu Beichte schwindet seine professionelle Souveränität und das Wortgefecht lässt die Grenzen zwischen Sünder und Priester immer mehr verschwimmen…

© B. Busch

Verirrte Elefanten
Der überwiegende Teil von Stephen Uhlys achtem Roman, der für mich der erste war, spielt  im Beichtstuhl. Lediglich kurze Sequenzen zeigen den Padre außerhalb seiner Kirche und den jungen, von Selbstzweifeln gequälten Mann, Lucas Hernández, wenn er sich mit seiner Zufallsbekanntschaft, dem nigerianischen Drogenhändler Akachukwu trifft, „zwei verirrte Elefanten“, die vorübergehend „Elefantenbrüdern“ (S. 156) werden und sich gegenseitig stützen.

Bloß nicht zu viel verraten…
Es ist schwierig, über diesen Roman zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Bedauerlicherweise ist das bei einigen Rezensenten und Rezensentinnen des Feuilletons so, denn viel zu detailliert gehen sie auf den Inhalt und die Wendungen ein und verderben so die Spannung. Man sollte deshalb das Buch unbedingt vor den Besprechungen lesen. Leider habe ich aber – auch ohne sie zu kennen – recht früh das Ende vorausgeahnt, schade, auch wenn die Lektüre dieses wie ein Kammerspiel angelegten, mit 156 Seiten recht knappen Romans über Schuld, Buße, sexuelle Fantasien, Kontrollverlust, Rechtfertigung, Erlösung, Rache, Manipulation, Täuschung, Vertuschung und Machtmechanismen trotzdem sehr lohnend war. Obwohl oder gerade weil Steven Uhly die Abgründe, Mechanismen und Folgen von Pädophilie sehr genau ausleuchtet und bis an die Schmerzgrenze seiner Figuren, aber auch der Leserinnen und Leser geht, kann ich den theologisch-philosophisch-ethischen Schlagabtausch im Beichtstuhl als gewinnbringenden Beitrag zur aktuellen Debatte über Kindesmissbrauch sehr empfehlen.

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession 2022
secession-verlag.com

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