Helga Flatland: Eine moderne Familie

  Stürmische Zeiten

So wie die Schrift auf dem Cover des Romans Eine moderne Familie in Schieflage gekommen ist, so gerät auch das Leben der darin porträtierten norwegischen Mittelstandsfamilie aus dem Lot. In ihrem 2017 mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichneten Roman zeigt die 1984 geborene Autorin Helga Flatland eine Familie, die nach der Trennung der Eltern komplett auseinanderzubrechen droht. Die Ankündigung der Scheidung anlässlich einer gemeinsamen Italienreise zum 70. Geburtstag von Vater Sverre kommt für die drei erwachsenen Geschwister wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nur Minuten, nachdem die älteste Tochter in ihrer Gratulationsrede die Einheit der Eltern Sverre und Torill für die Geschwister und füreinander beschworen hat, lässt der Vater die Bombe platzen:

«Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen», sagt er […] (S. 60)

«Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war», spricht Papa weiter, «Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.» (S. 61)

Drei Perspektiven für unterschiedliches Erleben
Nun könnte man erwarten, dass es im Folgenden um die Beweggründe der Eltern und die Durchführung der Trennung geht, aber weit gefehlt. Stattdessen lässt Helga Flatland die drei Geschwister aus der Ich-Perspektive erzählen, je zweimal Liz, die 40-jährige Älteste, und Ellen, ihre um zwei Jahre jüngere Schwester, sowie abschließend einmal den 30-jährigen Bruder Håkon. Obwohl alle längst auf eigenen Beinen stehen, reißt sie die Nachricht mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht und bringt nicht nur ihr Verhältnis zu den Eltern, sondern auch ihre Beziehung untereinander in schweres Fahrwasser.

© B. Busch

Liz, verheiratet und selbst Mutter zweier Kinder, hasst Veränderungen seit jeher, fühlt wie immer die gesamte Verantwortung auf ihren Schultern, geht auf Distanz zu Eltern und Geschwistern, schämt sich für Mutter und Vater, gefährdet ihre eigene Ehe und schlingert am Rande einer Depression:

Mit einem Achselzucken reißen sie alles ein, worauf ich mein eigenes Leben gebaut habe. (S. 135)

Ellen, die endlich den Mann fürs Leben gefunden hat, versucht verzweifelt, Mutter zu werden. Sie reagiert wütend, mit Unverständnis und verbittert:

»Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!« (S. 62)

Håkon, verhätscheltes, nie ganz erwachsen gewordenes Nesthäkchen, nimmt die Nachricht zunächst vergleichsweise gelassen auf und sieht sich in seiner Verweigerung monogamer Beziehungen bestätigt – bis eine Frau seine Lebensphilosophie erschüttert.

Komplexe Familienstrukturen
Zwei Jahre lang folgt Eine moderne Familie den drei Geschwistern, zeigt, wie die Nachricht sie in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster aus der Kindheit zurückwirft, wie alte Konkurrenzkämpfe neu aufleben und wie sie sich auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis und Miteinander machen. Der besondere Reiz des Romans liegt dabei für mich in der Erzählweise, die einerseits gleiche Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt, andererseits die Handlung vorantreibt.

Helga Flatland erzählt ruhig und nicht wertend über das Beziehungsgeflecht innerhalb einer ganz normalen Familie und die Neuzusammensetzung der familiären Puzzlesteine. Ihr Roman handelt von Rollen, Abhängigkeiten, Verletzungen, Empfindlichkeiten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, meist ernst, manchmal ironisch, mit hohem Wiedererkennungswert und absolut lesenswert.

Helga Flatland: Eine moderne Familie. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Weidle 2019
www.weidleverlag.de

 

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2014
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