Sylvie Schenk: Roman d’amour

  Katz-und-Maus-Spiel um Wahrheit und Fiktion

Die Frage nach autobiografischen Bezügen ihrer Romane gehört zu den am häufigsten gestellten und von vielen Autorinnen und Autoren meistgehassten. In Roman d’amour der deutsch-französischen Romanschriftstellerin und Lyrikerin Sylvie Schenk, die 1944 in Frankreich geboren wurde, seit 1992 auf Deutsch schreibt und in beiden Ländern lebt, geht es genau darum.

Roman im Roman
Die gut 70-jährige Schriftstellerin Charlotte soll für ihr neuestes Buch Roman d’amour einen erstmals verliehenen, schlecht dotierten Literaturpreis auf einer Nordseeinsel erhalten. Zuvor soll sie der Journalistin Frau Sittich ein ausführliches Radiointerview geben. Doch was auch immer Charlotte von diesem Interview erwartet hatte, es läuft anders und sonderbar. Frau Sittich scheint sich weniger für den Roman als für dessen autobiografische Hintergründe zu interessieren und eröffnet das Gespräch sogleich mit einem Affront:

„Ich heiße Charlotte“, sagte ich. „Sie haben mich gerade Klara genannt.“ Sie schlug dreimal ihre künstlichen Wimpern nieder und die Hände über den Mund: „Oh Pardon! Sie merken, liebe Charlotte, wie die Persönlichkeit Ihrer Protagonistin in mir nachwirkt, eine tolle Figur, Ihre Klara, so lebendig, so real.“ (S. 13) 

Damit hat Frau Sittich, die Charlotte mit ihren zunehmend hintergründigen Fragen immer mehr herausfordert, von dieser jedoch mit Provokationen gekonnt gekontert wird, recht. Der Dreiecksgeschichte im Roman zwischen der Schuldirektorin Klara, dem jüngeren Kollegen und Familienvater Lew und dessen französischstämmiger Frau Marie liegen eigene Erfahrungen zugrunde. Vor gut 25 Jahren hatte auch die nach ihrer Scheidung vereinsamte Charlotte eine leidenschaftliche Affäre mit einem ebenfalls verheirateten, etwas jüngeren Mann namens Ludo:

Mit Lew habe ich meinen verflüchtigten Liebhaber festgeschrieben. (S. 31)

Sowohl die Romanfigur Klara wie ihre Erfinderin Charlotte führten ein Geheimleben, beide verloren – allerdings auf unterschiedliche Weise – während einer Radtour durch Irland gegen die Ehefrauen.

© B. Busch

Besondere Erzählstruktur
Sylvie Schenk verwebt drei Ebenen so gekonnt, dass es beim Lesen höchster Aufmerksamkeit bedarf: kursiv gedruckte Bruchstücke des Romans mit der Geschichte von Klara, Lew und Marie, stille Erinnerungen Charlottes an ihre reale Affäre mit Ludo sowie das sich stetig zum Duell steigernde Interview. Je mehr die übergriffige Journalistin insistiert, desto unwillig abwehrender reagiert Charlotte:

„Ich bleibe bei meiner Meinung, liebe Charlotte“, fuhr sie fort, „ich denke, dass Klara Ihr wirkliches Alter Ego ist und dass Sie Marie nur das Französischsein mit auf den Weg gegeben haben. Würden Sie Ihre Romane als ein Stück Therapieliteratur sehen oder eher als eine künstlerische Form des Beichtstuhls?“ […]
„Weder noch“, sagte ich, „weder therapeutische Literatur noch Beichtstuhl.“ (S. 85/86)

„Charlotte, springen Sie über Ihren Schatten! Ein letztes Mal!“
„Eben“, sagte ich, „ich brauchte einen Schatten. Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht.“ (S. 110)

Intelligent und leise-humorig
Es sind nicht die beiden gänzlich unspektakulären Dreiecksgeschichten, die den schmalen Band mit dem Interview in Echtzeit besonders machen, eher schon die gänzlich kitschfreien Gedanken über Ehebruch, Schuldbewusstsein, Moral und das Wesen der Liebe. Außergewöhnlich jedoch ist die raffinierte Verschachtelung der Romanebenen und die Frage nach den Beweggründen der im Schlagabtausch zunehmend emotional agierenden Journalistin, die nicht nur Charlotte, sondern auch mich beschäftigt hat. Auch der leise Humor hat mir gut gefallen und der Spiegel, den mir die Autorin vorhält, denn unwillkürlich habe ich mich beim Lesen immer stärker für die Parallelen zwischen ihr und Charlotte interessiert…

Sylvie Schenk: Roman d’amour. Carl Hanser 2021
www.hanser-literaturverlage.de

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