Anna Carls: Die Stunde des Opfers

Rachefeldzug

Fast wäre ich auf diesen Krimi gar nicht aufmerksam geworden, denn der Name Anna Carls war mir neu. Die Krimiautorin Barbara Wendelken, die sich hinter diesem Pseudonym verbirgt, kenne ich allerdings sehr gut, gehören ihre Ostfrieslandkrimis um das sympathische Ermittlerduo Renke Nordmann/Nola van Heerden doch zu meinen Lieblingskrimis. Ich schätze ihren Ideenreichtum, die komplexen Handlungen mit vielen Perspektivwechseln, die Lebendigkeit ihrer Personen- und Ortsbeschreibungen, die zuverlässig schlüssigen Auflösungen ohne kurz vor Schluss eingeführte Täter, den angenehmen Schreibstil und natürlich die Spannung. Um mit dem letzten Punkt zu beginnen: Die Stunde des Opfers ist hochspannend von der ersten bis fast zur letzten der 334 Seiten, ein richtiger Pageturner also.

Die Zahl der Handlungen scheint zunächst schwer zu überblicken. Da gibt es abwechselnd Briefe mit der Anrede „liebste Gloria“, Szenen im Obdachlosenmilieu, in einer Seniorenresidenz und mit verschiedenen Personen im Mittelpunkt. Dominierend ist allerdings die in der Ich-Form verfasste Geschichte von Rebekka Windmöller, 36 Jahre, Redakteurin beim Oldenburg-Kurier, alleinerziehende Mutter einer zweieinhalbjährigen Tochter und lange unfreiwillig alleinstehend. Mit ihrem neuen Lebensgefährten Jamal, den sie erst seit vier Monaten kennt, erträumt sie sich nun ein harmonisches, geordnetes Familienleben nach dem Vorbild ihrer perfekten älteren Schwester, auch wenn ihr Umfeld skeptisch reagiert. Doch plötzlich ist er spurlos verschwunden und sie muss sich fragen und fragen lassen, wie gut sie diesen Mann überhaupt kannte. Wer ist Jamal wirklich und was hat er mit der toten Frau zu tun, die kurze Zeit später auf ihrer Terrasse liegt?

Dem neuen Oldenburger Hauptkommissar Adrian Sandersfeld eilt der Ruf eines beliebten Starermittlers voraus, doch an seinem neuen Arbeitsplatz schlagen ihm Skepsis und Ablehnung entgegen. Seine Flucht aus Berlin wegen eines privaten Desasters belastet ihn schwer, genau wie das feindliche Klima am neuen Arbeitsplatz, was sich in seinem Verhalten bei den Ermittlungen deutlich niederschlägt. Dabei wäre eine gute Zusammenarbeit so wichtig, denn im beschaulichen Universitätsstädtchen Oldenburg häufen sich die Morde, und die Tote auf Rebekkas Terrasse ist nur das erste Opfer eines anscheinend von rasender Wut und glühendem Hass getriebenen Täters. Wer verfolgt hier einen planmäßigen Rachefeldzug, was verbindet die Opfer und wo ist Jamal?

Zwar war mir Rebekka Windmöller manchmal zu blauäugig, wenn sie beispielsweise das Türschloss erst nach mehreren Anläufen auswechselte, und ich konnte nicht verstehen, warum sie noch unter Jamals Verschwinden leidend bereits ein Auge auf ihren attraktiven Kollegen wirft, doch hat dies der Spannung keinen Abbruch getan. Was Adrian Sandersfeld betrifft, so könnte ich mir eine Fortsetzung dieses zunächst wohl als Einzeltitel geplanten Krimis gut vorstellen, denn diese Figur hat vor allem gegen Ende sehr viel Potential.

Anna Carls: Die Stunde des Opfers. Piper 2018
www.piper.de

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