Julia Boehme & Julia Ginsbach: Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein

Ein sehr spannendes Gänsehaut-Erdmännchen-Pinselohrschwein-Abenteuer

Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein ist der zweite Band der Kinderbuchreihe um das pfiffige Erdmännchen Tafiti und seinen besten Freund, das Pinselohrschwein Pinsel. Die beiden Freunde haben schon so viel zusammen erlebt, dass sie auch das Gegrummel von Tafitis Opapa nicht stören kann, dem ein Erdmännchenfreund für seine Enkel lieber wäre. Doch als Pinsel Tafiti gleich zweimal aus den Fängen von Mr. Gogo, dem Adler, rettet, muss auch Opapa zugeben: Einen besseren Freund gibt es nicht für Tafiti, deshalb ernennt er ihn gleich zum Ehren-Erdmännchen.

Ein sehr spannendes Gänsehaut-Erdmännchen-Pinselohrschwein-Abenteuer von Julia Böhme, detailreich, bunt und witzig illustriert von Julia Ginsbach und dank der großen Schrift für Zweitklässler geeignet, zum Vorlesen bereits ab 5 Jahre.

Julia Boehme & Julia Ginsbach: Tafiti und das fliegende Pinselohrschwein. Loewe 2013
www.loewe-verlag.de

Gianrico Carofiglio: Reise in die Nacht

Ein herausragend anderer Krimi

Normalerweise lese ich Krimis eher selten zweimal. Bei Gianrico Carofiglios Reise in die Nacht habe ich nun eine Ausnahme gemacht, weil ich mein begeistertes Urteil aus dem Jahr 2007 überprüfen wollte, und kann es nun voll bestätigen. Dabei überzeugt mich nicht allein die Krimihandlung, bei der es nicht um polizeiliche Ermittlungsarbeit, sondern um einen Strafprozess geht, sondern vor allem auch das Privatleben des knapp 40-jährigen Ich-Erzählers und Anwalts Guido Guerrieri, der sich nach der plötzlichen Trennung seiner Frau und einem depressiven Absturz zurück ins Leben kämpft.

Dass ihm dieser Schritt gelingt, ist nicht nur seiner neuen Nachbarin Margherita, sondern vor allem dem Fall des senegalesischen Strandverkäufers Abdou Thiam zu verdanken, der beschuldigt wird, einen neunjährigen Jungen ermordet zu haben. Da Thiam die Tat vehement bestreitet, stützt sich die Anklage ausschließlich auf angeblich sichere Indizien und Zeugenaussagen, keine guten Vorzeichen für die Verteidigung, die Guerrieri trotzdem übernimmt.

Gianrico Carofiglio ist wie sein Hauptdarsteller Jurist, allerdings nicht Anwalt, sondern Anti-Mafia-Staatsanwalt in Bari, der Stadt, in der auch seine Guerrieri-Krimis spielen. Für alle, die lange Gerichtsszenen mit Zeugenvernehmungen und ausgeklügelten Plädoyers nicht schrecken, die wert auf eine gute Sprache legen und die einen differenzierten, ehrlichen, sympathischen, emotionalen Helden kennenlernen möchten, der sich, seinen Beruf und seine Mitmenschen mit viel Ironie und Sarkasmus betrachtet, der ist mit diesem ersten Band der Bari-Krimis bestens bedient.

Gianrico Carogiglio: Reise in die Nacht. Goldmann 2007
www.randomhouse.de

Kirsten Wulf: Sommer unseres Lebens

Ein Revivaltrip mit Stärken und Schwächen

Die Leseprobe zu diesem Roman hat mich angesprochen, ebenso wie das stimmungsvolle, aber nicht kitschige Cover im Gegenlicht. Die Grundidee des Buches – drei Freundinnen, die sich nach einem zufälligen gemeinsamen Urlaub in Portugal vor 25 Jahren mit 50 am alten Ort zu einem Revivaltrip wiedertreffen – fand ich interessant. Die Verschiedenheit der Charaktere versprach gute Unterhaltung und die drei Zeitebenen, der Urlaub 1989 und seine Vorgeschichte, die 25 Jahre, die inzwischen ins Land gegangen sind, während derer die Frauen so gut wie keinen Kontakt zueinander hatten, und die erneute Reise 2014, bieten jede Menge Stoff jenseits des Genres „seichter Frauenroman“.

Sowohl mit 25 Jahren als auch jetzt im Alter von 50 stehen Hanne, Claude und Miriam an Wendepunkten, doch während ihnen damals noch alle Wege offenstanden, sind die Möglichkeiten nun deutlich eingeschränkt, es gilt, „den Schrott der ersten 50 Jahre aufzuräumen“. Hanne, die geschiedene Mutter von vier Kindern und marathonlaufende Yogalehrerin, Claude, die singende Barfrau in ihrem Hamburger „Duckdalben“, die nie eine Beziehung auf Dauer führen konnte, und Dr. Miriam Ferber, die emanzipierte Karrierefrau mit Familie und Hund, deren Hamsterrad sich unentwegt dreht, wollen Bilanz ziehen und die Weichen für die Zukunft stellen. Dieser Teil des Romans von Kirsten Wulf hat mir gut gefallen und liest sich locker-einfach, unterhaltsam, aber nicht flach. Mehr hätte es in meinen Augen nicht gebraucht. Leider wird im letzten Drittel des Buches dann aber eine alte Geschichte hochgekocht, die Gefühle wallen auf, es wird gezickt und kleine Dramen werden unnötig aufgeblasen.

Diesen letzten, für mich langatmigen Teil mit dem allgemeinen Happy End habe ich nur noch überflogen, in Erinnerung bleiben werden mir die schönen Eindrücke von Portugal und die drei interessanten Frauenbiografien.

Kirsten Wulf: Sommer unseres Lebens. Kiepenheuer & Witsch 2017
www.kiwi-verlag.de

Michael Koglin: Zeitreise auf 4 Pfoten – Eine Katze für Kleopatra

So eine Zeitreise ist ganz schön gefährlich

Hätte der zerstreute Professor Theodorus Tempus nicht vergessen, den Sicherheitshebel an seiner unfertigen Zeitmaschine umzulegen, dann hätte es die neue Abenteuer-Reihe Zeitreise auf 4 Pfoten vermutlich nie gegeben. Doch nachdem ihm dieses Missgeschick passiert ist, kommen nacheinander ein Schimmel, ein weißer Löwe, eine riesige Schildkröte, ein Kätzchen, ein Esel, eine Schlange, ein Papagei, ein Rabe, ein wunderschöner Pfau und ein kleiner Dinosaurier aus der Maschine. Eine Fehlfunktion hat sie aus der Vergangenheit zum Professor, zu seiner mutigen, pfiffigen Enkelin Lia und zu Curry, Ich-Erzählerin und sicherlich die klügste Hündin der Welt, katapultiert. Keineswegs können sie die Tiere behalten, denn das würde den Verlauf der Weltgeschichte gehörig durcheinanderbringen und ein heilloses Chaos stiften. Deshalb beginnen die drei Abenteurer mit der Rückführung des Kätzchens, das laut Zeitreiseprotokoll der ägyptischen Königin Kleopatra gehört, lassen sich ins alte Ägypten zurücktransportieren und sind prompt mittendrin in einer Verschwörung, einem Giftanschlag auf Kleopatra und dem Geheimnis um den Kornschwund.

Der Einstieg in die neue Zeitreise-Reihe von Michael Koglin ist genial umgesetzt und zeichnet die Themen der verschiedenen Bände bereits vor, auch wenn ich bei weitem nicht jedes Tier spontan einem historischen Hintergrund zuordnen kann. Die Reise in das Ägypten der Pharaonen ist ausgesprochen spannend und vermittelt zugleich viel Wissenswertes über diese Epoche, ergänzt durch ein Glossar. Die drei Protagonisten, die in diesem Band noch von der Tochter eines ägyptischen Baumeisters unterstützt werden, sind sehr sympathisch und bilden ein perfektes Team.

Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Fréderic Bertrand im Comicstil werden bei der Zielgruppe sicherlich gut ankommen, allerdings hätten es gerne mehr sein können. Aus diesem Grund empfehle ich das Buch eher für Drittklässler, Zweitklässler könnte die Textmenge pro Seite noch überfordern. Vorlesen kann man das Buch allerdings auch schon ab sechs Jahren und die ein oder andere Information ist dann bestimmt auch für die Erwachsenen neu.

Michael Koglin: Zeitreise auf 4 Pfoten – Eine Katze für Kleopatra. Egmont Schneiderbuch 2017
www.egmont-vg.de

F. Scott Fitzgerald: Ein Diamant – so groß wie das Ritz

Eine makabere Szenerie

Nachdem ich es immer noch nicht geschafft habe, Der große Gatsby von F. Scott Fitzgerald (1896 – 1940) zu lesen, wollte ich mir mit diesem Hörspiel zu seiner Kurzgeschichte Ein Diamant – so groß wie das Ritz von 1922 wenigstens einen Höreindruck des Autors verschaffen. Leider konnte ich weder der Handlung noch der Hörspielbearbeitung viel abgewinnen.

John T. Unger aus Hades, einer Kleinstadt am Mississippi, besucht ein Eliteinternat in der Nähe von Boston. In den Ferien wird er von Klassenkameraden nach Hause eingeladen, so auch dieses Mal zu den Washingtons nach Montana. Auf dem Weg dorthin eröffnet ihm Percy Washington, dass sein Vater der reichste Mann der Welt ist und ihr Chateau auf einem Berg steht, der aus einem Diamanten von der Größe des Ritz-Carleton besteht. John ist fasziniert und geblendet vom Reichtum seiner Gastgeber und verliebt sich in Percys naive Schwester Kismine. Bald jedoch merkt er, welch schreckliche Dinge sich hinter der prächtigen Fassade abspielen und welch furchtbares Schicksal ihm zugedacht ist. Doch er hat keineswegs die Absicht, sich zu kampflos fügen…

Leider konnten mich die makaberen Vorgänge hinter dem schönen Schein überhaupt nicht packen und die Bedeutung der Geschichte hat sich mir nicht erschlossen. Gut gefallen haben mir die Stimmen von Jürgen Hentsch als Erzähler und Boris Aljinovic als John, nervig fand ich dagegen Kathrin Angerer als Kismine. Die Klänge der E-Gitarre passen für mich nicht zu einer Handlung in den 1920er-Jahren, sind mir teilweise im Vergleich zu den Stimmen zu laut, so dass ich mehrmals regelrecht hochgeschreckt bin, und haben mich – soweit sie parallel zu den Sprechern zu hören waren – sogar ausgesprochen beim Zuhören gestört. Sehr gut gelungen, da informativ und schön gestaltet, ist dagegen das Booklet.

Alles in allem hat mich das 49-minütige Hörspiel in zwei Absichten bestärkt: Erstens werde ich irgendwann doch noch Der große Gatsby lesen, um mir ein Urteil über F. Scott Fitzgerald zu bilden, und zweitens in Zukunft wieder bei den von mir sowieso deutlich bevorzugten Lesungen bleiben.

F. Scott Fitzgerald: Ein Diamant – so groß wie das Ritz. Der Audio Verlag 2002
www.der-audio-verlag.de

Grégoire Delacourt: Der Dichter der Familie

Kein leichter Sommerroman

2016 hat mich Die vier Jahreszeiten des Sommers von Grégoire Delacourt als leichte, poetisch-melancholische Sommerlektüre begeistert, eine kunstvoll konzipierte Sammlung von Geschichten, die am Ende doch alle miteinander verwoben werden.

Nun war ein neuer Roman des französischen Autors angekündigt, Der Dichter der Familie, wieder mit einem sehr schön gestalteten Cover, der sich bei genauerem Hinsehen jedoch als sein nachträglich ins Deutsche übersetzter Erstling aus dem Jahr 2011 entpuppte. Was ich darin wiedergefunden habe, ist der melancholische Ton, doch fehlt ihm leider völlig die Leichtigkeit der Erzählweise, die ich bei Die vier Jahreszeiten des Sommers so geschätzt habe. Stattdessen haben wir es mit einem selbstmitleidigen Ich-Erzähler, Édouard, zu tun, der sein Leben von seinem achten Lebensjahr an bis zum Alter von 32 Jahren erzählt. Obwohl ihm aufgrund seiner schlechten Startbedingungen ins Leben das Mitleid des Lesers sicher ist – der Großvater war in Mauthausen, die Eltern trennen sich, er selbst kam wegen nicht näher beschriebener Auffälligkeiten ins Internat und der behinderte Bruder in eine Anstalt – hat mich doch mit zunehmendem Alter des Ich-Erzählers dessen Passivität, sein Sichtreibenlassen und der klagende Ton genervt. Können wir wirklich lebenslang unser Elternhaus für alle Misserfolge und Fehlentwicklungen verantwortlich machen? Dafür, dass wir das falsche Studium wählen, weil wir andere für uns entscheiden lassen, dass wir den falschen Partner heiraten, dass wir nie nein sagen, wenn wir nein meinen? Im Falle Édouards kommt allerdings erschwerend hinzu, dass ihm nach selbstverfassten kurzen Reimen im Alter von sieben Jahren die Rolle des „Dichters der Familie“ zugedacht wird, eine Messias-Erwartung zur Familienrettung, die er nie erfüllen kann, gegen die er sich aber auch nie zur Wehr setzt. Seine bedeutenden Erfolge als Werbetexter gehen dagegen nahezu unter, obwohl sie ihn und seine Familie reich machen.

Neben der schier endlosen Kette von Niederlagen in Édouards Leben hat mich die an einigen, zugegeben wenigen Stellen sehr vulgäre Sprache gestört, die sich neben durchaus poetischen Abschnitten wie Fremdkörper anfühlen. Viele Bezüge zu französischen Chansons, Filmen oder Persönlichkeiten habe ich leider trotz meiner Affinität zu Frankreich nicht verstanden. Am Ende konnte mich nicht einmal die Aussicht auf eine Veränderung zum Positiven optimistisch stimmen, zu verfahren scheinen die Schicksale der Familienmitglieder und zu eingefahren ihre Verhaltensmuster.

Vielleicht ist es nicht ganz fair, Autoren nur an ihren großen Erfolgen zu messen und mit denselben hohen Erwartungen an ihre Frühwerke zu gehen. So blieb dieser Erstling, der ganz gewiss das Attribut „Sommerroman“ nicht verdient, für mich unbefriedigend. Nichtsdestotrotz freue ich mich auf wirklich neue Titel aus der Feder Delacourts. Ob man ihm mit der nachträglichen Übersetzung seines Debüts allerdings einen Dienst erwiesen hat, halte ich zumindest für fraglich.

Grégoire Delacourt: Der Dichter der Familie. Atlantik 2017
www.atlantikverlag.de

K. A. Nuzum: Hundewinter

Ein Hund als Therapie

Dessa Dean ist elf Jahre alt und lebt mit ihrem Vater fernab der Zivilisation in einem Häuschen im Wald. Seit ihre Mutter vor ihren Augen an Unterzuckerung im Schneesturm erfroren ist, ist das Mädchen traumatisiert. Während ihr Vater seine Tage als Jäger draußen verbringt, traut sich Dessa Dean nur noch bis auf die Terrasse, dann werden ihre Ohrenschmerzen so stark, dass sie umkehren muss. Erst als ein verletzter, einsamer Hund sie zu besuchen beginnt, der Angst vor geschlossenen Räumen hat, setzt allmählich ein Heilungsprozess ein. Die Erfahrung, gebraucht zu werden, beginnt das Trauma in den Hintergrund zu drängen, und Dessa Dean wächst über sich hinaus, als es darauf ankommt…

Mit großen Erwartungen bin ich an dieses Buch gegangen, das 2011 für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Kinderbuch nominiert war. Nach der Lektüre bin ich zwiegespalten: Als Erwachsene finde ich den Titel rundherum beeindruckend, vo Cover über die Naturschilderungen, die ruhige, sensible Erzählweise und die Worte, die die US-amerikanische Autorin K. A. Nuzum für das Trauma und die beginnende Heilung von Dessa Dean findet. Aber ich das Buch meinen Töchtern mit elf Jahren hätte? Ehrlich gesagt eher nicht, denn dafür empfinde ich es als zu traurig und melancholisch, auch wenn das Ende hoffen lässt. Ich bin mir aber sicher, dass es ihnen heute, als junge Erwachsenen, genauso gut gefallen würde wie mir.

K. A. Nuzum: Hundewinter. Carlsen 2012
www.carlsen.de

Ingrid Noll: Kuckuckskind

Eher ein psychologisches Familiendrama als ein Krimi

„Enkel sind die Belohnung dafür, dass man die eigenen Kinder nicht erwürgt hat“, pflegt die Mutter von Anja Reinold zu sagen. Dumm nur, dass die allmählich aus dem gebärfähigen Alter herauswachsende Tochter frisch geschieden ist und so gar keine Enkel in Sicht sind! Anja, beliebte Deutsch- und Französischlehrerin an einem Gymnasium in Weinheim an der Bergstraße und Ich-Erzählerin, beginnt sich schweren Herzens allmählich von ihrem Lebenstraum „Häuschen mit Garten, glückliche Ehe, zwei Kinder“ zu verabschieden. Nach der Scheidung lebt sie in einer Wohnung, die eher einem Rattenloch gleicht, ist süchtig nach Sudokus und antriebslos. Erst als sie zufällig von einem ihrer Lieblingsschüler, dem smarten 15-jährigen Manuel, von einer schönen, freistehenden Wohnung in dessen Haus erfährt, geht es wieder aufwärts, zumal auch Manuels Vater, der getrenntlebende, alleinerziehende arbeitslose Chemiker Dr. Patrick Bernat, recht anziehend ist. Alles könnte gut werden, wenn nur nicht Anjas Freundin und Kollegin Birgit, die angeblich nie Kinder wollte, plötzlich schwanger wäre. Neid, Missgunst, Eifersucht und ein nagender Verdacht scheinen Anja fortan zu zerfressen, und sie beginnt, bei Birgits Mann Steffen Zweifel an der Vaterschaft zu säen – mit verheerenden Folgen…

Kuckuckskind aus dem Jahr 2008 ist für mich nicht Ingrid Nolls bestes Buch, aber als psychologisches Familiendrama trotzdem kurzweilig. Die Szenen im Lehrerzimmer sind urkomisch und oft bösartig, die Mutter-Tochter-Beziehung als Dauer-Duell hintergründig-witzig und die an sich wegen ihres unbeugsamen, egoistischen, missgünstigen und selbstgerechten Charakters wenig sympathische Protagonistin hat mich durch ihre Selbstrechtfertigung immer wieder fasziniert, auch wenn ich ihr deshalb noch lange kein Happy End gegönnt habe.

Obwohl ich Ingrid Nolls schwarz-humorige Krimis noch lieber mag, war das Hören dieses Romans doch ein unterhaltsames Vergnügen und ich habe lange über die Vaterschaft des kleinen Victor Augustus gerätselt. Zum Genuss beigetragen hat die sehr angenehme, tiefe Stimme von Franziska Pigulla, die den Roman auf sechs CDs und glücklicherweise ungekürzt in 409 Minuten liest.

Ingrid Noll: Kuckuckskind. Gelesen von Franziska Pigulla. Diogenes Hörbuch 2008
www.diogenes.ch

Oliver Hilmes: Berlin 1936

„Erst Olympiade glücklich zu Ende führen“

Es gehörte zur Taktik der Nationalsozialisten, auf Provokationen wie den Austritt aus dem Völkerbund und die Genfer Abrüstungskonferenz (1933) oder die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1935) Zeichen der Zurückhaltung und Verlässlichkeit folgen zu lassen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen ins entmilitarisierte Rheinland im März 1936 war dieses Signal die Ausrichtung der Olympischen Spiele in Berlin im darauffolgenden August. Hitler, Goebbels und ihren Getreuen gelang es mit Hilfe dieses Sportgroßereignisses noch einmal, sich durch eine perfekte Inszenierung und Organisation und ein beeindruckendes Ambiente als friedliebende und verlässliche Partner der Völkerfamilie zu präsentieren. Viele wollten das kommende Unheil nicht sehen, ließen sich von minimalen Zugeständnissen wie der Alibi-Jüdin Helene Mayer im deutschen Fechtteam, dem Verschwinden des Hetzblattes Der Stürmer aus dem Straßenbild Berlins und der vorübergehenden Duldung von Jazz und Swing täuschen, obwohl die Exilpresse längst über die Existenz von Konzentrationslagern berichtete. Während der Spiele war der Bau des KZ Sachsenhausen im Gang und die Legion Condor landete zur Unterstützung von Francos Nationalisten in Spanien, aber: „Erst Olympiade glücklich zu Ende führen“ war laut Goebbels Tagebucheintrag die Vorgabe des Führers.

Oliver Hilmes berichtet in 16 Kapiteln streng chronologisch über die Tage vom ersten bis sechzehnten August 1936 und in einem weiteren unter der Überschrift „Was wurde aus…?“ über das spätere Schicksal seiner verschiedenen Protagonisten. Daneben gibt es einen ausführlichen Anhang mit Anmerkungen, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Bildnachweisen. Es geht dem Autor nicht in erster Linie um sportliche Leistungen, obwohl natürlich auch sie einigen Raum einnehmen, sondern vielmehr um das Ambiente der Spiele, die Feste und Begegnungen, die Anweisungen der Reichspressekonferenz, die Tagesmeldungen der Polizei, die Presseberichte, Goebbels hochinteressante Tagebucheinträge, die ungeschönt die wahren Absichten der Diktatur enthüllen, die Spitzen  der Gastronomie und des Nachtlebens, die Diplomaten, NS-Größen und Künstler, darunter Thomas Wolfe, Victor Klemperer, Thomas Mann und Leni Riefenstahl (von Carl Zuckmayer als „Reichsgletscherspalte“ tituliert) und um die Einzelschicksale Unbekannter.

Noch ein letztes Mal gelang es den Nazis mit Hilfe der Olympiade im Sommer 1936, das Deutsche Reich als weltoffene Metropole zu präsentieren und die „herrliche Welt des Scheins“ zu zelebrieren. Oliver Hilmes, Historiker und Verfasser mehrerer erfolgreicher Biografien, entlarvt diese Scheinwelt in seinem 2016 zum 80. Jahrestag erschienen Buch, indem er mosaikhaft Ereignisse, Berichte und Schicksale herausgreift und in unterhaltsamer, manchmal sogar humorvoller, aber vor allem informativer Weise miteinander verbindet.

Oliver Hilmes: Berlin 1936. Siedler 2016
www.randomhouse.de

Edwidge Danticat: Kein anderes Meer

„Chèche lavi“ – auf der Suche nach dem besseren Leben

Der Roman Kein anderes Meer beginnt und endet an Claire Limyè Lanmè Faustins siebtem Geburtstag. In acht Kapiteln entrollt sich die Lebensgeschichte mehrerer Personen in den zehn Jahren zuvor. Wie Edwidge Danticat diese Schicksale miteinander verwebt und vor allem wie sie sie erzählt – die klug durchdachte Choreografie greift immer ein Ereignis auf und erzählt dann dessen Vorgeschichte – ist das ganz Besondere an diesem Roman. Gleich Kugeln auf einem Billardtisch begegnen sich ihre Figuren, streifen sich nur im Vorübergehen oder prallen hart zusammen, ändern die Richtung und streben wieder auseinander. Es erfordert Konzentration und Mitdenken vom Leser, doch die Mühe lohnt sich, weil Edwidge Danticat auf ihre stille, unspektakuläre Art Bewegendes zu berichten hat.

Claire Limyè Lanmè, was soviel bedeutet wie Claire vom Meereslicht, ist die Tochter eines armen haitianischen Fischers aus der fiktiven Küstenkleinstadt Ville Rose und dem Volksglauben nach ein „revenan“, da ihre Mutter bei ihrem Eintreten in die Welt starb. Ihr Vater traut sich ihre Erziehung nicht zu: „Er wollte etwas so Wichtiges wie die Zukunft seiner Tochter nicht dem Zufall überlassen.“ Deshalb möchte er sie in Obhut der reichen Stoffhändlerin Gaëlle geben, die ihrerseits ihren Mann bei einer Schießerei und ihre Tochter durch einen Unfall verloren hat. Überhaupt leiden alle Figuren in diesem Roman unter Tod, Gewalt, Vergewaltigung, Bestechung und Korruption, unter fehlender Gerechtigkeit, Selbstjustiz, Naturgewalten, mangelnden Möglichkeiten, starren sozialen Hierarchien und der Auswanderung von Angehörigen und Freunden in die USA. Dabei scheint es Reichen, die „nie auch nur ein paar Regentröpfchen abbekommen“, nicht viel besser zu ergehen als den Bitterarmen, auch wenn sie wenigstens ihre Kinder nicht aus materieller Not als „restavek“ weggeben müssen.

Dem poetischen Erzählstil, dem „chèche lavi“ aller Protagonisten, also dem unermüdliche Streben nach einem besseren Leben, und dem einigermaßen versöhnlichen Ende ist es zu verdanken, dass Edwidge Danticats Roman nicht zu melancholisch und depressiv wirkt. Die Autorin, die 1969 in Port-au-Prince geboren wurde, wuchs zunächst in Haiti auf und konnte im Alter von zwölf Jahren ihren vor dem Duvalier-Regime geflohenen Eltern in die USA folgen. Ihren erstmals auf Deutsch 2015 bei Hanser erschienen Roman, der nun mit farbenprächtigem Cover als Taschenbuch bei Aufbau vorliegt, empfehle ich gerne weiter. Ausgesprochen interessant waren für mich die Einschübe in kreolischer Sprache, die sich fast wie eine französische Lautschrift lesen. Lediglich der Titel Kein anderes Meer blieb mir rätselhaft, denn der englische Originaltitel Claire of the Sea Light ist poetischer und somit passender.

Edwidge Danticat: Kein anderes Meer. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de