„Chèche lavi“ – auf der Suche nach dem besseren Leben
Der Roman Kein anderes Meer beginnt und endet an Claire Limyè Lanmè Faustins siebtem Geburtstag. In acht Kapiteln entrollt sich die Lebensgeschichte mehrerer Personen in den zehn Jahren zuvor. Wie Edwidge Danticat diese Schicksale miteinander verwebt und vor allem wie sie sie erzählt – die klug durchdachte Choreografie greift immer ein Ereignis auf und erzählt dann dessen Vorgeschichte – ist das ganz Besondere an diesem Roman. Gleich Kugeln auf einem Billardtisch begegnen sich ihre Figuren, streifen sich nur im Vorübergehen oder prallen hart zusammen, ändern die Richtung und streben wieder auseinander. Es erfordert Konzentration und Mitdenken vom Leser, doch die Mühe lohnt sich, weil Edwidge Danticat auf ihre stille, unspektakuläre Art Bewegendes zu berichten hat.
Claire Limyè Lanmè, was soviel bedeutet wie Claire vom Meereslicht, ist die Tochter eines armen haitianischen Fischers aus der fiktiven Küstenkleinstadt Ville Rose und dem Volksglauben nach ein „revenan“, da ihre Mutter bei ihrem Eintreten in die Welt starb. Ihr Vater traut sich ihre Erziehung nicht zu: „Er wollte etwas so Wichtiges wie die Zukunft seiner Tochter nicht dem Zufall überlassen.“ Deshalb möchte er sie in Obhut der reichen Stoffhändlerin Gaëlle geben, die ihrerseits ihren Mann bei einer Schießerei und ihre Tochter durch einen Unfall verloren hat. Überhaupt leiden alle Figuren in diesem Roman unter Tod, Gewalt, Vergewaltigung, Bestechung und Korruption, unter fehlender Gerechtigkeit, Selbstjustiz, Naturgewalten, mangelnden Möglichkeiten, starren sozialen Hierarchien und der Auswanderung von Angehörigen und Freunden in die USA. Dabei scheint es Reichen, die „nie auch nur ein paar Regentröpfchen abbekommen“, nicht viel besser zu ergehen als den Bitterarmen, auch wenn sie wenigstens ihre Kinder nicht aus materieller Not als „restavek“ weggeben müssen.
Dem poetischen Erzählstil, dem „chèche lavi“ aller Protagonisten, also dem unermüdliche Streben nach einem besseren Leben, und dem einigermaßen versöhnlichen Ende ist es zu verdanken, dass Edwidge Danticats Roman nicht zu melancholisch und depressiv wirkt. Die Autorin, die 1969 in Port-au-Prince geboren wurde, wuchs zunächst in Haiti auf und konnte im Alter von zwölf Jahren ihren vor dem Duvalier-Regime geflohenen Eltern in die USA folgen. Ihren erstmals auf Deutsch 2015 bei Hanser erschienen Roman, der nun mit farbenprächtigem Cover als Taschenbuch bei Aufbau vorliegt, empfehle ich gerne weiter. Ausgesprochen interessant waren für mich die Einschübe in kreolischer Sprache, die sich fast wie eine französische Lautschrift lesen. Lediglich der Titel Kein anderes Meer blieb mir rätselhaft, denn der englische Originaltitel Claire of the Sea Light ist poetischer und somit passender.
Edwidge Danticat: Kein anderes Meer. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de