Zusammen ist man weniger allein
Der Zufall führt die beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten des Romans 2019 auf einer Fähre von Dänemark nach Oslo zusammen. Der gut 60-jährige Edvard hat nach dem Tod seiner Mutter Hinweise gefunden, dass sein 1967 an seinem zehnten Geburtstag plötzlich verschwundene Vater Oskar Mellmann nicht tot war, wie seine Mutter Helene ihn glauben machte. Die Spur führt nach Norwegen, wo Oskar, wie er gern erzählte, im Zweiten Weltkrieg als Pilot stationiert war. Erschüttert und voller Wut über das Schweigen der Mutter macht sich Edvard, der nichts als sein Dorf hinter dem Elbdeich kennt, auf die Suche nach der Wahrheit.
Die 30-jährige Berlinerin Alva dagegen ist auf der Flucht vor sich selbst und den Erwartungen an sie. Immer „anders“ als alle anderen, wie durch eine „Scheibe“ vom Leben getrennt und nie von ihrer Mutter angenommen, kann sie ihre eigene Mutterrolle nicht ausfüllen. Sie ist auf der Suche nach sich selbst, auch wenn der vordergründige Anlass der Reise Recherchen für eine Fernsehreportage über magische Orte sind:
Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld […]. Das war es doch, was ihre Mutter immer von ihr wollte: dass sie wie alle anderen sei. (S. 46)
Edvard wie Alva sehnen sich nach Halt, Angenommensein, Liebe und einem erfüllten Leben.
Vom Dunkeln ins Helle
Zunächst hatte ich Sorge, dass Edvard, dem die Mutter seit dem Verschwinden des Vaters kein eigenes Leben und kaum Luft zum Atmen ließ, der nie die Kraft zur Befreiung aus ihrer Umklammerung aufbrachte, und der seine große Liebe Elsie aus Pflichtbewusstsein seiner Mutter gegenüber verlor, bei Alva in erprobte Muster fallen und zum „Kümmerer“ würde. Doch im Gegenteil finden beide einen Weg, ihre Projekte zu verbinden und sich gegenseitig zu stützen:
Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt war. (S. 214)
Bei Edvard kehren immer mehr verschüttet geglaubte Erinnerungen zurück und vor allem Alva wächst über sich hinaus:
Es durfte keine Rolle spielen, was sie brauchte, wenn sie gebraucht wurde. (S. 249)
Es bedarf nicht immer der ganzen Wahrheit
Die Reise führt durch die fantastische Landschaft Norwegens von Oslo über den Wasserfall Sputrefossen nach Tromsø, mit der Fähre nach Honningsvåg, nach Kirkeporten, dem Felsen des Nordkaps und Opferstätte der Sami, und auf die vor Bergen liegende Insel Herdla, im Zweiten Weltkrieg Stützpunkt der deutschen Luftwaffe. Sie wird für beide zum Wendepunkt, von dem aus sie verändert heimkehren:
Das Leben verändert sich nicht an einem Tag. Doch eines Tages weiß man, dass es sich verändert hat. (S. 216)
Unbedingt lesenswert
Acht Jahre lang hat der 1960 geborene Autor Alexander Häusser an seinem vierten, von eigenen biografischen Ereignissen beeinflussten Roman Noch alle Zeit gearbeitet und dafür spürbar gründlich recherchiert. Historischer Hintergrund und Einzelschicksal sind hervorragend verbunden, die spannende Handlung ruhig und einfühlsam erzählt, die stimmigen Bilder, Metaphern und Motive lohnen ein gründliches Lesen und Wiederlesen. Haupt- und Nebenfiguren sind glaubhaft und mehrdimensional, so dass ich mehrfach vorschnelle Urteile revidieren musste, jedes Schicksal berührt, jedoch völlig ohne Kitsch. Besonders gut gefallen hat mir das Ende mit der perfekten Balance zwischen Auserzählen und Offenlassen.
Alexander Häusser: Noch alle Zeit. Pendragon 2019
www.pendragon.de
Weitere Rezensionen zu Romanen über Norwegen im Zweiten Weltkrieg auf diesem Blog:
Ein Kommentar