Edvard Hoem: Heimatland. Kindheit

  Die Last des Hoferben

Den 1949 an der norwegischen Westküste geborenen Schriftsteller und Theaterregisseur Edvard Hoem habe ich 2021 mit dem biografischen Roman über seine Ururgroßmutter Marta Kristine Anderdatter Nesje, Die Hebamme, entdeckt und unmittelbar danach Die Geschichte von Mutter und Vater gelesen, eine zutiefst berührende Liebesgeschichte über seine Eltern. Beide Bücher sind Familiengeschichte und Zeitdokument über das bäuerliche Leben in West-Norwegen zugleich. Sie haben mich so begeistert, dass ich während einer Norwegen-Reise im August 2022 die aus verstreut liegenden Höfen bestehende Siedlung Hoem und den Hoemschen Hof Bakken, die Kirche von Vågoy und den Friedhof mit dem Grab der Eltern besucht habe.

Der Hof Bakken in Hoem. © B. Busch
Die Kirche von Vågoy am Fjord.  © M. Busch

Außerdem hat mich der Roman Heimatland. Kindheit auf der Reise begleitet, im Original 1985 erschienen und auf Deutsch leider nur noch antiquarisch lieferbar, in dem Edvard Hoem in der Er-Form über seine ersten 14 Jahre bis zu seinem Weggang zur höheren Schule nach Molde erzählt. Es ist die Geschichte des Erstgeborenen von sechs Kindern – die ältere Halbschwester nicht eingerechnet –, der seine Bestimmung zum Hoferben nicht erfüllen konnte und wollte:

Denn weder wollte er Bethauserbauer werden noch Traktorfahrer. Diese Kombination schien die nächstliegende von allen, und er dachte: Wenn ich hierbleibe, werde ich ganz sicher verrückt. (S. 162)

Die Siedlung Hoem mit dem Hof Bakken im Hintergrund. © B. Busch

Große Erwartungen
Schon Edvards Vater Knut Hoem interessierte sich mehr für den Beruf des protestantischen Laienpredigers als für den Hof Bakken in Ytre Hoem nahe Molde. Wie sein Vater Edvard Knutsen Hoem war er Haugianer, Anhänger der Erweckungsbewegung des Wanderpredigers Hans Nielsen Hauge. Als er sich dem Erbe dennoch nicht entziehen konnte, reiste er zwischen der herbstlichen Kartoffelernte und der Frühjahrsaussaat über 40 Jahre zum Zwecke der Erweckung durch Westnorwegens Täler und arbeitete nur in den Sommermonaten als Landwirt. Die Erwartungen des Großvaters in den erstgeborenen Enkel waren daher so enorm wie erdrückend, zumal der bald anders gelagerte Neigungen verspürte:

Es war, als rückte eine lange Reihe toter Verwandter an, die ihn anstarrten und beschuldigten, die Verantwortung nicht übernehmen, die Last nicht tragen, das Erbe nicht annehmen zu wollen. (S. 72) 

Doch bevor Edvard Hoem sich in die Welt der Bücher verlor, erlebte er die Elektrifizierung der rückständigen Höfe, ein Segen, der jedoch viele Bauern zum winterlichen Heringsfang zwang, und den Bau des Betshauses, dem großväterlichen Traum. Seine Berufswünsche Pastor oder Missionar begrub er, nachdem er seinen Kinderglauben verloren hatte, ohne neues Ziel.

Ein Denkmal für die Familie
Ein trotz protestantischer Strenge verständnisvoller Vater, der ihn nicht zur Landarbeit zwingen wollte, und eine bildungsorientierte, unermüdlich bis zur Erschöpfung arbeitende, gütige Mutter ermöglichten Edvard Hoem, der heute wieder auf dem Nachbarhof, dem Bortehof, lebt, den Absprung in ein anderes Leben. Doch wie die Übersetzerin Ebba D. Drolshagen in ihrem vorzüglichen Nachwort darlegt, erfüllt er seine Pflichten heute doch:

Mit seinen Büchern ehrt er seine Vorfahren, er macht seine Familie und den Hof unsterblich. Kurz: Er erfüllt seine Pflichten als Hoferbe. (S. 215)

Edvard Hoem gehört mit seinen familienbiografischen Romanen inzwischen zu meinen Lieblingsschriftstellern. Ich freue mich schon jetzt, dass mit Der Geigenbauer im Herbst 2022 ein weiterer seiner Romane auf Deutsch erscheint, zumal der Protagonist Lars Olsen Hoem bereits in Heimatland. Kindheit Erwähnung findet.

Edvard Hoem: Heimatland. Kindheit. Aus dem Norwegischen und mit einem Nachwort von Ebba D. Drolshagen. Insel 2009
www.suhrkamp.de/verlage/insel-verlag-s-22

 

Weitere Rezensionen zu familienbiografischen Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

 

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