Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Vom Entkommen und Verschwinden

2011 in Italien erschienen, ist der erste der auf insgesamt auf vier Bände angelegten Neapolitanischen Saga der Kindheit und Jugend der beiden Protagonistinnen Elena und Lila gewidmet. Elena hat sich nach 60 Jahren der Freundschaft entschlossen, ihre gemeinsame Geschichte niederzuschreiben, anzuschreiben gegen das Vergessen, denn Lila ist im Alter von 66 Jahren plötzlich verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, ihr Leben einfach auslöschend.

Die beiden sehr unterschiedlichen Mädchen wachsen in den 1950- und 60er-Jahren im Rione auf, einem armen Stadtteil Neapels, in dem ein „Klima abstrakter Spannungen“ herrscht, „wo jedes Gesicht und jede Straße krankhaft blass geblieben waren“ und wo die Kinder das Meer noch nie gesehen haben. Armut, Gewalt, Tod, die Camorra, uralte Fehden und Bildungsferne bestimmen den Alltag. Schon bald sind die beiden Freundinnen entschlossen, diesem Leben irgendwann zu entkommen. Bildung wäre ein Weg aus dem Ghetto, doch gerade der hochbegabten Lila bleibt dieser Weg durch die Sturheit und Ignoranz ihrer Eltern verwehrt. Die Eltern der ebenfalls begabten Ich-Erzählerin Elena trauen sich dagegen nicht, gegen die Lehrerin aufzubegehren, so dass Elena die Mittelschule, später sogar das Gymnasium, die „Schule für die feinen Leute“, besuchen darf. Lila versucht zunächst, am Latein- und Griechischstudium ihrer Freundin teilzuhaben, erkennt aber irgendwann die Aussichtslosigkeit und träumt nun davon, die Schusterwerkstatt des Vaters und Bruders zu einer exklusiven Schuhfabrik zu machen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, das Beste aus dem Rione zu machen: eine vergleichsweise reiche Heirat, mit der die 16-jährige Lila zur „Jacqueline Kennedy des Rione“ wird. Elena aber ist dies zu wenig. Sie, die sich im Vergleich zu ihrer Freundin als bebrilltes, unattraktives Mädchen mit muffigen Gebrauchtbüchern empfindet, möchte dem Rione, der Welt ihrer Eltern,ö ganz und gar entkommen.

Was haben deutsche Kritiker diesem Roman, der weltweit auf vielen Bestsellerlisten stand und steht und im Ausland hochgelobt wurde, nicht alles vorgeworfen: Trivialität, Marketing-Theater, Hochmütigkeit der Ich-Erzählerin, fehlende Poetik und vieles mehr. Sicher, den Hype um die nur als Phantom existierende Autorin, „die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur“, finde ich auch überzogen, aber die anderen Kritikpunkte kann ich ganz und gar nicht teilen. Für mich ist Meine geniale Freundin ein ausgezeichneter, gehobener Unterhaltungsroman, kitschfrei und in einer schnörkellosen, aber bildreichen Sprache verfasst, eine sehr dichte Milieustudie über eine fast archaisch anmutende Gesellschaft, eine Freundschaftsgeschichte mit allen Facetten des Themas Freundschaft, eine sehr gelungene Pubertätsgeschichte, ein Roman über Bildung und eine Emanzipationsgeschichte in einer Umgebung von Machos.

Klar, dass ich auch den nächsten Band lesen werde, nicht nur wegen des Cliffhangers am Ende!

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

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