Jenseits der Schmerzgrenze
Die beiden auf Deutsch erschienenen Romane des 1976 geborenen Autors Alex Schulman, in Schweden sehr prominent als Blogger, Podcaster, Fernseh- und Radiomoderator, habe ich mit so großer Begeisterung gelesen, dass ich mich nun an sein 2016 erschienenes Buch Glöm mig im Original gewagt habe. Obwohl ausgezeichnet als Årets bok 2017 auf der Buchmesse in Göteborg, wurde es leider bisher nicht übersetzt.
Immer wieder das Familienthema
Sein Roman Die Überlebenden von 2020, deutsche Ausgabe 2021, erzählt mit deutlichen autobiografischen Anklängen von einer dysfunktionalen Familie und der Entfremdung der drei Söhne. Für Verbrenn all meine Briefe aus dem Jahr 2018, deutsche Ausgabe 2022, hat Alex Schulman über seine Großeltern mütterlicherseits recherchiert, den Schriftsteller Sven Stolpe und seine Frau Karin, mit der Frage nach der Vererbung von Gefühlen und Verhaltensmustern. Auslöser war eine Familienaufstellung, die hohes Aggressionspotential in diesem Familienzweig zeigte.
Glöm mig (Vergiss mich) ist ein Buch über seine Mutter Lisette Schulman, geborene Stolpe, Fernsehmoderatorin, Juristin, Redenschreiberin für Wirtschaftsbosse, Politikerin. Alex Schulman setzte sich darin kurz nach ihrem Tod mit ihrer 30 Jahre währenden Alkoholsucht auseinander, damit, wie das Aufwachsen unter schrecklichen Bedingungen ihn bis heute prägt, wie er nach Versöhnung suchte und sich nach der Mutter aus seinen frühesten Kinderjahren sehnte:
Det har varit trettio mörka år. Och kanske några år till. Men bakom alla de där åren finns en sommaräng, där finns min riktiga mamma och väntar på mig. (S. 155)
[Es waren dreißig dunkle Jahre. Oder vielleicht mehr. Aber hinter all diesen Jahren gibt es eine Sommerwiese, auf der meine richtige Mama auf mich wartet.]
1983 begannen die drei Söhne, die leeren Pfandflaschen aus dem mütterlichen Kleiderschrank einzutauschen. Eine verwirrende Unsicherheit breitete sich in dieser Übergangsphase aus:
[…] den mamma jag hade en gång hade inte riktigt fanns kvar. Jag hade en ny mamma och hennes tålamod med mig var nästan alltid slut. (S. 43)
[…von der Mutter, die ich vorher hatte, blieb nicht wirklich etwas übrig. Ich hatte eine neue Mama, die kaum noch Geduld für mich aufbrachte.]
Intuitiv verstanden die Söhne, dass über die Sucht unbedingt geschwiegen werden musste. Auch der 32 Jahre ältere Ehemann Allan Schulman, ein cholerischer Fernsehproduzent, der Mutter jedoch sehr zugetan, schaute lieber weg. Erst als Alex Schulman selbst zwei Kinder hatte, unter Panikattacken litt, nicht mehr arbeiten konnte und seine Ehe gefährdet war, suchte er professionelle Hilfe und konfrontierte die Mutter mit ihrer Sucht:
Jag säger det här både för din skull och min skull, för jag vill att vi ska överleva både två. (S. 119)
[Ich sage das für uns beide, weil ich will, dass wir beide überleben.]
Gestohlene Kindheit
Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland derzeit etwa drei Millionen Kinder mit suchtkranken Elternteilen, verstrickt in eine Co-Abhängigkeit. Etwa ein Drittel von ihnen entwickelt selbst eine Sucht, ein weiteres leidet unter psychischen Erkrankungen. Fehlende Hilfe von außen, wie in Glöm mig, verschlechtert die Prognose.
Alex Schulman schildert höchst emotional, wie seiner Mutter der Alkohol wichtiger war als die Beziehung zu ihren Söhnen und Enkeln, wie die Kinder auch als Erwachsene unter dem Terror, der Manipulation und dem Ignorieren durch die Mutter litten und vom schweren charakterlichen Erbe – nicht als Abrechnung, sondern im Ringen um Verstehen und Versöhung. Thematisch erinnert der Roman an Shuggie Bain von Douglas Stewart, hat mich aber durch die ruhige, nachdenkliche Erzählweise noch mehr bewegt.
Ein trauriges, herzzerreißend ehrliches Buch, das man nach der Lektüre garantiert nicht wieder vergisst.
Alex Schulman: Glöm mig. Bookmark 2020
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