Intrigen
Zwei ungleiche Romanfiguren teilen sich in Godwin von Joseph O’Neill die Erzählerrolle, keine davon ist das titelgebende afrikanische Fußballtalent, das nicht Subjekt, sondern nur Objekt des Buches ist. Insgesamt dreimal kommt Lakesha Williams zu Wort, die es als schwarze Frau aus prekären Verhältnissen in Milwaukee mittels Studium zur Gründerin und Co-Leiterin einer Genossenschaft für freiberuflich tätige technische Redakteure in Pittsburgh gebracht hat. Ihr Problemfall im Einstiegskapitel ist ein langjähriges Mitglied mit neu aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten, Mark Wolfe, um die 40 und Ich-Erzähler der dazwischenliegenden beiden Abschnitte. Trotz seiner Beteuerungen über seine glückliche Ehe und Vaterschaft zeigt er depressive Züge, die neuerdings gelegentlich in Aggression umschlagen. Eine wissenschaftliche Karriere hat er verpasst und schreibt stattdessen als technischer Redakteur Förderanträge und Texte für medizinisch-pharmazeutische Unternehmen. Insgeheim ist er der Überzeugung, dass er damit sein Potential nicht ausschöpft und mehr Erfolg verdient hätte.
Brüder in Schwierigkeiten
Während einer unfreiwilligen Auszeit erreicht ihn ein Anruf seines jüngeren Halbbruders Geoffrey aus London, eines windigen Möchtegern-Fußballagenten, der dringend Marks Hilfe einfordert. Ermutigt von seiner Frau Sushila lässt Mark sich zunächst widerwillig auf diese Reise ins Ungewisse ein:
Dann mache ich mich auf meine Reise über den Atlantik. Schließlich und endlich ist mir der Gedanke gekommen, dass der Bruder in Schwierigkeiten vielleicht gar nicht Geoff ist. (S. 48)
In London angekommen, findet Mark sich in einer ihm fremden Welt wieder, in der es um viel Geld, Ruhm, Macht und das Austricksen undurchsichtiger Konkurrenten geht. Dabei hat Geoffrey zunächst nicht mehr als das Video eines afrikanischen Fußball-Wunderkinds, das sich irgendwo auf diesem Kontinent befindet. Die Herausforderung weckt Marks Lebensgeister:
Meine Zeit ist gekommen. Mir ist Gerechtigkeit widerfahren. (S. 157)
Die Zeiten, in denen ich herumgeschubst worden bin, sind vorbei. (S. 164)
Ein Themenpotpourri
Joseph O’Neill, 1964 als Kind einer türkisch-irischen Verbindung in Cork geboren, in den Niederlanden aufgewachsen, lebt heute nach Stationen in Cambridge und London in New York. 2009 erzielte er mit seinem preisgekrönten Roman Niederland seinen bisher größten internationalen Erfolg. Er engagiert sich für die Demokraten und gegen die Wiederwahl von Donald Trump als Präsident, dessen erste Wahl in Godwin kurz bevorstand. Der Roman kombiniert auf intellligente Weise die Jagd nach einem westafrikanischen Fußballgenie mit den Spannungen in einer US-amerikanischen Bürogenossenschaft und greift dazu das Thema Familie in all ihren Facetten auf: biologische Familie, Adoption, glückliche, toxische, zerbrochene und wiedergefundene Familienbande. Daneben gibt es jede Menge Anekdoten zu berühmten Fußballern, Trainern und Spielen, detailliert porträtierte Nebenfiguren, Überlegungen zu Gesellschaft und Politik, Globalisierung, modernem Kolonialismus und vielem mehr, leider teilweise in Monologform. Beim gut 100 Seiten währenden Erzählmarathon eines alten französischen Fußballagenten mit oft ebenso antiquierten Ansichten über Afrika, Frauen, Rassen und postkoloniales Erbe dämmerte nicht nur Sushila gähnend weg, sondern vorübergehend fast auch ich.
Überraschende Wendungen
Davon abgesehen hat mich der Roman in großen Teilen gut unterhalten und viele Denkanstöße geliefert. Als Nicht-Mehr-Fußballfan fand ich die Intrigen um Macht, Ruhm und Geld in der kleinen Welt der Bürogenossenschaft sogar noch spannender als die im großen, absurd anmutenden Fußballgeschäft. Mit seinen zwar völlig unerwarteten, jedoch keineswegs unmöglichen Wendungen im letzten Abschnitt wird mir der Roman nachhaltig im Gedächtnis bleiben.
Joseph O’Neill: Godwin. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt 2024
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