Verena Keßler: Eva

  Kipppunkte

 

Es gibt Fragen, die frau nur mit einem klaren Ja oder Nein beantworten muss, darunter die nach eigenen Kindern. Vier Frauen mit gänzlich unterschiedlichen Positionen stellt die 1988 in Hamburg geborene Autorin Verena Keßler in ihrem Roman Eva vor: von radikaler Ablehnung über Zweifel bis zu hadernder Mutterschaft und Verlusterfahrung.

Eva will ihre Ahnenreihe schließen
Eva Lohaus
, Lehrerin, ist die einzige Figur mit einem Nachnamen. Nur ihr Schicksal wird nicht aus der Ich-Perspektive erzählt. Sie wollte nie Kinder, einerseits, um mit jedem nicht-geborenen Kind 58,6 Tonnen CO2 einzusparen, andererseits, um sie nicht dem Leid durch Klimawandel und Ressourcenkriege auszusetzen. Da sie ihre provokativen Thesen offensiv kundtut, erntet sie Häme, Hass und schließlich die Suspendierung vom Schuldienst. Das Interview, das für sie das Fass zum Überlaufen bringt, erscheint mit einem Hinweis auf ihre nicht klimaneutrale Golden-Retriever-Hündin.

Unerfüllter Kinderwunsch
Sina
, die als Journalistin das Interview verantwortet, befindet sich in einer Kinderwunschbehandlung und wird von Zweifeln geplagt. Ist es tatsächlich ihr Kinderwunsch oder nicht vielmehr der ihres Partners Milo, der sich ein kinderloses Leben schlicht nicht vorstellen kann? Die Begegnung mit Eva stürzt Sina in ein noch tieferes Dilemma:

Wer quält sich seit zwei Jahren, um noch ein unschuldiges Leben auf diese kaputte Welt zu zerren? Milo und ich. (S. 39)

Foto: © B. Busch. Cover: © Hanser Berlin

Überforderung
Für Mona, Sinas ein Jahr ältere Schwester, hat das Schicksal die Entscheidung gefällt. Sie war, kurz nachdem sie Roman kennengelernt hatte, schwanger mit Benni. Die Zwillingstöchter wenige Jahre später wurden eher aus einem Wunsch nach Abhilfe gegen die soziale Auffälligkeit des Sohnes als aus echter Begeisterung geboren. Mona fühlt sich permanent überfordert, hadert mit ihrem Leben und leidet noch stärker als die drei anderen Frauen unter Schlafstörungen.

Trauer
Die namenlose vierte Frau war Schulsekretärin an Evas ehemaliger Schule und verlor kurz vor deren Suspendierung ihr Kind. Sechs Jahre später lebt sie im gleichen Haus wie Mona und hat den siebten Job. Sie hat damals besonders unter Evas Thesen gelitten, die ihr eine Mitschuld gaben:

Ich hatte dich zur Welt gebracht. Alles, was dir geschah, war letztendlich meine Schuld. (S. 172)

Eva Lohaus, für die es ein reales Vorbild gibt, hält als Klammer die zeitlich auseinanderliegenden Episoden zusammen. Mit ihrem erzählenden Sachbuch Kipppunkte untermauert sie ihre Ansichten.

Keine Antwort
Eva
ist der zweite Roman von Verena Keßler nach ihrem glänzenden Debüt Die Gespenster von Demmin 2020 und steht auf der Shortlist des Literaturpreises „Der zweite Roman“, der erstmals im November 2024 von der Christian & Ursula Voß Stiftung und dem Literaturhaus Hamburg verliehen wird. Eine Antwort auf die Ausgangsfrage gibt das genau durchdachte Buch nicht, lässt vielmehr jeden Lebensentwurf gleichermaßen gelten. Auch wenn für mich Eva und Sina die eindrücklicheren Figuren waren und der Roman in der zweiten Hälfte mit den Zeitsprüngen etwas an Schwung verlor, haben mir doch die Vielstimmigkeit, die souveräne Konstruktion, die klare, präzise Sprache und die besonders die lebendigen Dialoge gut gefallen.

À propos Vielstimmigkeit: Selbst wenn ein Roman keineswegs alle Aspekte einer Thematik abdecken muss, hätte ich mir doch auch ein Beispiel für gelingende Mutterschaft gewünscht. Es hätte die Aussage des Buches nicht abgeschwächt, sondern lediglich um eine Facette ergänzt.

Verena Keßler: Eva. Hanser Berlin 2023
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Verena Keßler auf diesem Blog:

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert