Kristin Roskifte: Alle zählen

  Wimmelige Lebensgeschichten

Der Duden nennt als Bedeutung für „zählen“ einerseits „eine Zahlenfolge hersagen“ und „die Anzahl von etwas feststellen“, andererseits „wert sein“. Genau mit dieser Doppeldeutigkeit spielt Kristin Roskifte in ihrem für den Deutschen Jugendbuchpreis 2022 in der Sparte Bilderbuch nominierten Alle zählen. Das Buch animiert zum Zählen, wenn beginnend bei „Niemand“, „0“, auf jeder Seite eine Person hinzukommt. Später werden die Sprünge größer, es wimmelt immer mehr, und zuletzt sieht man die Erde nur noch als einen Planeten unter vielen im All:

Siebeneinhalb Milliarden Menschen zusammen auf einem Planeten. Jeder Einzelne hat seine persönliche, einzigartige Geschichte. Alle zählen. Und einer von ihnen bist du!

© B. Busch

Es geht also um viel mehr als ums Zählen: Jeder einzelne Mensch in seiner Einzigartigkeit und mit seiner ganz individuellen Biografie ist wertvoll. In der Bibliothek sind Buchgeschichten und Lebensgeschichten von 18 Menschen vereint:

Achtzehn Menschen in einer Bibliothek. Einer fragt sich, wie viele Geschichten dort wohl versammelt sind. Zwei von ihnen finden etwas anderes als Bücher.

© Verlag Gerstenberg

Wer mag das sein, wer mag hier etwas anderes als Bücher finden – und was? Doch nicht etwa die beiden am Kunstbuchregal, die sich einige Seiten vorher unter vier anderen im Aufzug einsam fühlten? Noch können sie sich vor lauter Büchern nicht sehen, aber unter den 30 Menschen im Park einige Seiten weiter sind sie bereits als Liebespaar zu sehen und ihre Hochzeit feiern sie mit 58 Gästen.

Eine Fundgrube für Entdeckungen
Kristin Roskifte, geboren 1975 in Oslo, erzählt in ihrem innovativen Wimmelbuch auf 64 Seiten eine solche Vielzahl von Geschichten, dass man garantiert bei jedem Anschauen neue entdeckt. Die Figuren sind knallbunt gezeichnet vor weißem Hintergrund in einer mit hellblauen Strichen angedeuteten Umgebung. Die meist zweizeiligen Texte am unteren Bildrand, ebenfalls  in Hellblau, geben oft mehr Rätsel auf, als sie erklären. Denn wie könnte man ahnen, welches der 100 Kinder auf dem Schulhof einen Impfstoff entwickeln wird, der Millionen Leben rettet? Welcher der 85 Kinobesucher sich den Film in 82 Jahren noch einmal anschauen, welchem der 23 Gefängnisinsassen die Flucht gelingen wird? Es gibt jede Menge Anlässe für Spekulationen, kreative Lösungen sind gefragt, Fantasie, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Auffinden versteckter Zeichen und zur Deutung von Gesten und Mimik. Die Betrachterinnen und Betrachter werden zum Philosophieren verführt, bekannte Personen tauchen immer wieder auf, alte Fäden werden aufgenommen und neue gesponnen.

So viele Geheimnisse
Wer beim Rätseln nicht weiterkommt, kann die Lösungen im hinteren Buchdeckel zu Rate ziehen oder sie hier ausdrucken, um sie direkt neben die Seiten zu legen. Man erfährt dann, dass der kleine Junge, der zu Beginn alleine von seinem Bett aus den Sternenhimmel betrachtet und auf den folgenden Seiten so viel erlebt, Thomas heißt.

2019 wurde Alle zählen mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Nordischen Rates, dem wichtigsten skandinavischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Auf humorvolle Art lädt dieses ganz besondere Wimmelbuch nicht nur Kinder ab etwa fünf Jahren, sondern auch Erwachsene zum Entdecken, Zählen, Rätseln und Fabulieren ein. Ich drücke fest die Daumen, dass es auch mit einer Prämierung beim Deutschen Jugendbuchpreis klappt!

Kristin Roskifte: Alle zählen. Aus dem Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg 2021
www.gerstenberg-verlag.de

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