Sarah Orne Jewett: Deephaven

  Relikte aus alter Zeit

In wunderschöner Aufmachung mit einem Leinenband im Schuber, Lesebändchen, Nachwort, klarem Druckbild und glattem Papier, über das zu streichen eine Wonne ist, macht der mareverlag den Debütroman Deephaven von Sarah Orne Jewett (1849 – 1909) zugänglich. Die erste Erzählung über das fiktive Küstenstädtchen erschien 1873 im Atlantic Monthly, zwei weitere 1875 und 1876, bevor 1877 ein Roman daraus wurde.

Ein Sommer am Meer
Helen Davis erinnert sich zurück an den Sommer, als sie 24 war und einige Monate mit ihrer gleichaltrigen, ebenfalls aus Boston stammenden Freundin Kate Lancaster im Herrenhaus von deren verstorbener Großtante in Deephaven verbrachte. Der verschlafene Fischerort an der Küste von Maine wurde nach dem Embargo 1807 von der Welt vergessen:

Es schien, als wären alle Uhren in Deephaven schon vor Jahren stehen geblieben, und die Menschen mit ihnen, als würden sie immer nur das wiederholen, was sie bereits in der Vorwoche ihres anspruchslosen Lebens beschäftigt hatte. (S. 59)

Ein Klassiker in wunderschöner Ausstattung. © B. Busch

Es ereignet sich fast nichts in Deephaven und somit auch im Roman. Helen ist eine detailgetreue Chronistin kleiner Entdeckungen im Haus der Verstorbenen, von Gesprächen mit alten Seebären und exzentrischen Frauen, Relikten aus alter Zeit und „Kopien ihrer Vorfahren“, von Menschen in prekären Verhältnissen und solchen, die noch vom prunkvollen Lebensstil ihrer Vorfahren träumen und sich zur vornehmen Klasse zählen, von gesellschaftlichen Regeln, von Spaziergängen in der Stadt und an der malerischen Küste, von Ausflügen in die nähere Umgebung, Wetterbeobachtungen und Vorleseabenden am Kamin: 

Die Liebschaften, Tragödien und Abenteuer, von denen man in einer stillen, altmodischen Provinzstadt hören kann, sind wundervoll, doch wenn man die Geschichten aus dem Leben von Herzen genießen möchte, muss man die Menschen, ihren Alltag und ihren Charakter studieren, muss nachdenken und am Beobachten einfacher Dinge Freude haben und eine angeborene feinsinnige Aufmerksamkeit für etwas mitbringen, das für andere Augen reizlos und langweilig sein mag. (S. 53)

Eine entschleunigte Lektüre
Tatsächlich hatte ich bisweilen Mühe, der knappen Handlung zu folgen, weil meine Gedanken immer wieder abschweiften. Ihr literarisches Vorbild Elisabeth Gaskell (1810 – 1865), die 1853 in ihrem Episodenroman Cranford ungleich ironischer und charmanter das Leben einer in starren Strukturen gefangenen Gruppe von Frauen mittleren Alters im dörflichen viktorianischen England porträtierte, erreicht Sarah Orne Jewett mit Deephaven nicht. Allerdings gewinnen die Geschichten im letzten Drittel an Intensität und Helens Gedanken im Schlusskapitel werden reflektierter und überraschend modern. Über weite Strecken konnten mich die Protagonistinnen mit ihrer kindlich-naiven Begeisterungsfähigkeit für Kuriositäten, ihrer an Ausbeutung grenzenden Sammelleidenschaft von Schicksalen und ihrer hinter Freundlichkeit versteckten Überheblichkeit gegenüber dem „einfachen Leben“ der Einheimischen nicht für sich einnehmen:

Da sie so feinfühlig und unverbildet sind, erreichen sie einen vollständigeren Einklang mit der Natur und sind in der Lage, deren Stimmen wahrzunehmen, die von gebildeten Menschen meist überhört werden. Letztlich haben sie viel mit Pflanzen gemein, die aus dem Boden sprießen, und mit wilden Tieren, die sich ganz auf ihre Instinkte verlassen. (S. 146)

Wer nach einem gemütlichen, beruhigenden, vollkommen entschleunigten Gegenpol zu unserer durch Corona und Krieg geprägten Gegenwart sucht, der könnte mit dem Klassiker Deephaven genau richtigliegen.

Sarah Orne Jewett: Deephaven. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. mare 2022
www.mare.de

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