Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht

  Tiefe Gräben

Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2017 gingen weit über 40 Prozent der Stimmen an extreme und populistische Parteien. Im zweiten erzielte Marine Le Pen vom Front National, heute Rassemblement National, immerhin 34 Prozent. Das Versprechen des Wahlsiegers Emmanuel Macron, bis zur nächsten Wahl im April 2022 alle Gründe für eine Wahl von Extremisten zu entkräften, erfüllte sich nicht. Die Demoskopen prophezeien erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Doppelter Abgrund
Der Ich-Erzähler und Vater im Debüt-Roman Was es braucht in der Nacht des Franzosen Laurent Petitmangin hat 2017 bei der Stichwohl zwischen Le Pen und Macron auf die Stimmabgabe verzichtet, zu sehr lehnt er faschistisches wie neoliberales Gedankengut ab. Als Lothringer, täglich konfrontiert mit der Arbeitslosigkeit in dieser ehemaligen Bergbau- und Stahlregion und den Niedergang der dörflichen Strukturen vor Augen, fühlt er sich traditionell den Sozialisten verbunden, die allerdings immer weniger werden.

Nach dem Tod seiner Frau, „der Mutti“, die ihn nach drei Jahren Siechtum mit dem 13-jährigen Frédéric, genannt Fus, und dem jüngeren Gillou allein zurückließ, fand er nur schwer Halt und in den Alltag mit der Erziehung der Söhne, der Hausarbeit und dem Job als Monteur bei der SNCF, aber dann klappt es doch. Der weit über sein Alter verantwortungsbewusste und vernünftige Fus kümmert sich hingebungsvoll um den kleinen Bruder, hilft im Haushalt und fasst wieder Fuß in der Schule. Die Männergemeinschaft verbindet mehr als nur die Leidenschaft für Fußball.

Als sich Fus verändert, sich zurückzieht und neue Freunde hat, schaut der Vater weg, bis es nicht mehr anders geht:

In knapp zehn Minuten rechtfertigte er so, dass er mit Rechtsextremen rumzog. […] Den Freunden der Holocaust-Leugner, den Dreckskerlen. Fus blieb ruhig, schien fast froh, dass jetzt alles auf dem Tisch war. Er bekannte Farbe, wie ein Zeuge Jehovas durchdrungen von seinem Stuss, voller neuer Gewissheiten und immer sehr freundlich. (S. 49)

© B. Busch

Auch wenn Fus hofft, es würde sich nichts ändern: Der Familienfrieden ist dahin. Eine abgrundtiefe Scham erfasst den überforderten Ich-Erzähler. Dabei steht ihnen das Schlimmste noch bevor: Gewalt und Gegengewalt eskalieren in einem Ausmaß, dass der Vater zunächst nicht mehr zu seinem Sohn stehen kann und will…

Aktuell und bewegend
Ähnlich wie der 2021 erschienene Roman Über Menschen von Juli Zeh über rechtsradikale Dorfbewohner in Brandenburg ist Was es braucht in der Nacht ein topaktueller Beitrag zur politischen Spaltung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr persönliche Geschichte über die Spaltung einer Familie und einen berührenden Vater-Sohn-Konflikt. Die Frage, wie ein freundlicher, friedfertiger junger Mann sich derart radikalisieren kann und welche Schuld den Vater trifft, ist hochinteressant und geht mir als Mutter nah. Auch wenn ich die Beweggründe, das Verhalten und vor allem die Wendung des Ich-Erzählers, der in der unspektakulären Sprache eines Vertreters der Arbeiterklasse berichtet, nicht immer nachvollziehen kann, bewegt mich der kaum 160 Seiten umfassende Roman auch Tage nach der Lektüre noch, nicht nur wegen des diskussionswürdigen Endes. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Lesen gelohnt hat.

Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. dtv 2022
www.dtv.de

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