Abschiede
Max Richard Leßmann, geboren 1991, hätte mir als Sänger, Podcaster und Instragram-Poet längst ein Begriff sein können. Da das alles jedoch außerhalb meiner Wahrnehmung lag, kannte ich ihn bis zur Frankfurter Buchmesse 2023 nicht. Erst mit einer Veranstaltung zu seinem Debütroman Sylter Welle kam es zu einer Überschneidung unserer Hemisphären und nun habe ich das autofiktionale Buch mit Freude gelesen.
Eine Familie mit Sprengkraft
Der brennende Strandkorb auf dem pastelligen Cover von Jessine Hein warnt alle vor, die auf einen harmonischen Familienroman im idyllischen Sylt hoffen: Familie kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Dass einem beim Lesen die einzelnen Mitglieder trotzdem wider Willen allmählich ans Herz wachsen, ist das Verdienst von Max Richard Leßmanns liebevoll empathischer Art der Beschreibung menschlicher Stärken und Schwächen, seiner genauen Beobachtungsgabe und seinem Sinn für (Selbst-)Ironie. Jedes Familienmitglied hätte die Darstellung der anderen gelobt, mit der eigenen jedoch gehadert, berichtete der Autor auf Buchmesse. Wobei bewusst offen bleibt, welche kleineren Teile des Romans der Fiktion entspringen.
Ein letzter Sylturlaub
Fast 20 Jahre lang besuchte Max seine Großeltern im Sommerurlaub auf dem Wennigstedter Campingplatz, fernab von der Schickimicki-Szene Kampens und – Sparsamkeit als oberstes Gebot – ohne offizielle Anmeldung. Nun haben die Großeltern altershalber ihren Wohnwagen verkauft und sich in einer hässlichen Beton-Bettenburg mit Meerblick namens Sylter Welle unweit des gleichnamigen Spaßbades in Westerland eingemietet, erstmals ohne selbst angebaute Kartoffeln im Gepäck. Es soll ihr letzter Sylturlaub sein und Enkel Max besucht sie für drei Tage, über denen Abschiedsstimmung liegt. Einerseits scheinen ihm Oma Lore und Oppa Ludwig seit 30 Jahren optisch und mit ihren Eigenarten unverändert und „Enkel bleibt man für immer“ (S. 14), andererseits sind die Zeichen mentalen und körperlichen Verfalls des Großvaters unübersehbar und erfordern einen phasenweisen Rollentausch.
„Wen von diesen ganzen Leuten würdest du eigentlich mögen, wenn es nicht deine Familie wäre?“ (S. 157)
Oma Lore ist seit jeher die „Feldherrin unserer ganzen Familie“ (S. 49), der nicht einmal die heißblütige Schwiegertochter Paroli bieten kann:
Meine Mutter ist eine sture Frau. Aber Oma Lore ist nun einmal sturer. (S. 16)
Härte ist ihr Markenzeichen, Anerkennung erntet Max höchstens, wenn er sich ihren Fütterungsattacken bis zur halben Bewusstlosigkeit gewachsen zeigt, Mitleid gab es nicht einmal bei einem Badeunfall im Teenageralter („Du tust dir doch selbst schon leid genug“, S. 125), dafür sahen die Großeltern schwarz für die Zukunft des „unkontrollierten“ Enkels: „zu laut, zu frech, zu viel“ (S. 107). Nach und nach erklärt sich vieles, was zu Beginn abschreckt, aus der Biografie der Großeltern. Die Flucht des Großvaters als Kind aus Schlesien, seine Verstoßung aus der Familie, weil er eine Westfälin mit der falschen Religion heiratete, zwei Krebserkrankungen der Großmutter und der Verlust von zwei Kindern machen ihre symbiotische Obsession für Stabilität, regelmäßige Mahlzeiten, heterosexuelle Partnerschaften und bürgerliche Berufe mit geregeltem Einkommen zumindest verständlich:
[…] weil Dinge, die mir anderenorts unerträglich scheinen, bei meinen Großeltern zumindest gerade so eben aushaltbar waren.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist das eine ziemlich präzise Definition von Liebe. (S. 82)
Ein weiterer Abschied liegt in der Luft, auch wenn Max sich dem noch zu entziehen versucht:
Wenn die Ignoranz meiner Großeltern unsterblich ist, dann sind sie es ja vielleicht einfach auch. (S. 217)
Ein empfehlenswertes Erinnerungsbuch mit der richtigen Balance zwischen Lachen und Wehmut.
Max Richard Leßmann: Sylter Welle. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de