Charles Lewinsky: Der Stotterer

  Zwischen Altem Testament und Schopenhauer

Johannes Hosea Stärckle, gut 4o-jähriger gescheiterter Germanistikstudent und Held des Romans Der Stotterer, sitzt nach diversen Trickbetrügereien in der JVA. Schuldbewusstsein und Reue sind ihm fremd, eher bedauert der Perfektionist, der wegen seiner sprachlichen Behinderung viel virtuoser mit dem geschriebenen als mit dem gesprochenen Wort umgehen kann, kleinere Nachlässigkeiten und unglückliche Zufälle, die zu seiner Entlarvung führten. Denn war er nicht eher ein „Witwenbeglücker“ als ein „Witwenschüttler“, als den man ihn bezeichnete, hat er die alten Damen nicht froh gemacht mit den Briefen längst verloren geglaubter Angehöriger?

Schreiben, schreiben, schreiben
Weil Stärckle auch im Gefängnis das Schreiben, mit dem er seit seiner Kindheit so gut zu manipulieren versteht, nicht lassen kann, verfasst er Briefe mit Episoden aus seinem Leben und eingebauten Cliffhangern an den Gefängnispadre, führt Tagebuch, macht die Korrespondenz für die Gefängnismafia, übt sich im Geschichtenschreiben, nimmt sogar am Geschichtenwettbewerb einer christlichen Zeitschrift teil und arbeitet an seiner Autobiografie, für die sich ein Verleger gefunden hat. Dabei tritt die Wahrheit zugunsten seines Mottos „jedem Zuhörer die passende Geschichte“ zurück und er streut reichlich Zitate aus dem Alten Testament und von Schopenhauer ein. Je älter er geworden ist, desto mehr bezweifelt er, der nie einen Hehl aus der Unzuverlässigkeit seines Berichtens macht, „dass es so etwas wie Moral überhaupt gibt.“

© B. Busch

Dichtung und Wahrheit
Für mich entdeckt habe ich den 1946 geborenen Schweizer Autor Charles Lewinsky 2020 mit seinem für den Deutschen Buchpreis nominierten Mittelalterroman Der Halbbart. Völlig begeistert war ich danach von seinem bereits 2006 erschienenen jüdischen Generationenroman Melnitz und mit Sein Sohn bin ich ihm 2022 gerne ins postrevolutionäre Frankreich gefolgt. Ich schätze an seinen Romanen, dass sie einerseits auf literarischem Niveau ausgezeichnet unterhalten, andererseits jeder eine ganz eigene Erzählweise hat. Wer allerdings so unterschiedliche Stile verwendet, der riskiert, dass auch eingefleischte Fans ihm nicht immer folgen können, zumal mir Schelmenromane generell nicht sehr liegen. Die Faszination Lewinskys für die Gaunereien, den Humor, die Ironie und den Zynismus des Felix-Krull- und Don-Quichote-Bewunderers Johannes Hosea Stärckle hat sich trotz der zweifellos originellen Erzählweise leider nur teilweise auf mich übertragen. Trotz Stärckles schwieriger Kindheit in einer gewalttätigen Familie und in den Fängen eines Sektengurus konnte ich kaum Empathie für ihn entwickeln. Amüsiert haben mich seine gewitzten Seitenhiebe auf den Literaturbetrieb und natürlich habe ich versucht, die Wahrheit aus seinem ungebremsten Mitteilungsfluss zu destillieren, aber in der Länge des ungekürzten, von Robert Stadlober sehr passend gelesenen Hörbuchs von 610 Minuten auf zwei mp3-CDs war mir das nicht genug. Da halfen leider auch nicht die plakativ aufgegriffenen Modethemen wie Homosexualität, kirchlicher Missbrauch, Selbstjustiz oder Sterbehilfe. Phasenweise glitten mir die Gedanken weg, insbesondere bei den „Fingerübungen“ genannten Geschichten, die mich immer wieder aus dem Hörfluss warfen. Eines aber hat das Buch bewirkt: War ich vorher schon wachsam bei Ich-Erzählerinnen und -Erzählern, werde ich zukünftig garantiert gar niemandem mehr trauen…

Charles Lewinsky: Der Stotterer. Gelesen von Robert Stadlober. Diogenes 2019
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

Maria Borrély: Mistral

  Allen Winden preisgegeben

Die Entdeckung eines Romans, der an einem liebgewordenen Urlaubsort nicht nur verfasst wurde, sondern dort auch spielt, weckt Emotionen. Der Übersetzerin Amelie Thoma, die ich für die Übertragung der Bücher von Leїla Slimani sehr schätze, erging es so mit dem 1929 verfassten schmalen Debütroman Sous le vent von Maria Borrély (1890 – 1963), der in deutscher Übersetzung von Walter Gerull-Kardas erstmals 1939 unter dem Titel Mistral erschien. Im informativen, ausführlichen Nachwort zu ihrer enger an den Originaltext angelehnten Neuübersetzung im Kanon Verlag berichtet Amelie Thoma, wie das 2009 vom südfranzösischen Kleinverlag Éditions Parole wiederaufgelegte Büchlein ihr in ihrem langjährigen Urlaubsort Puimoisson im Département Alpes-de-Haute-Provence zufällig in die Hände fiel, sie zunächst kaum Erwartungen hegte und dann überrascht war, ein echtes literarisches Kleinod zu finden. Ebenso begeistert waren lang vor ihr der mit dem Ehepaar Borrély befreundete provenzalische Schriftsteller Jean Giono und der spätere Literaturnobelpreisträger André Gide, die bei der Erstveröffentlichung 1930 im renommierten Verlag Gallimard unterstützten.

Puimoisson

Das Dorf breitet unter dem gleichförmigen Himmel die Blöße seiner rotblonden Dächer aus, lehnt sich zwischen Oliventerrassen, schmiegt sich an die vom Plateau abfallende Sonnenflanke.
Seine Füße baden in Wiesen und blühenden Obstgärten. (S. 13)

Winde aller Art, die Montagnère, der Levante, der Westwind mit Schönwetterwolken, der heiße Südwind, der regenbringende Zugwind, der Nordwind, aber vor allem der titelgebende Mistral, „wehen“, „heulen“, „rasen“, „wüten“, „zerren“, „brüllen“, „pfeifen“, „wummern“, „röcheln heißer“ und „beißen“ auf nahezu jeder der gut 100 Romanseiten. Sie fahren der jungen Marie Maurel, einem fröhlichen, hübschen jungen Bauernmädchen, „Glückskind“ und Stütze ihrer Eltern bei der Oliven-, Mandel- und Lavendelernte, beim Kochen und Nähen in die unbändigen, glänzenden Kraushaare und verwehen sogar die Schrift auf dem Cover des Buches. Manche Dörflerin treiben sie gar in den Wahnsinn:

Hier hat es immer mehr Frauen gegeben als anderswo, die im kritischen Alter den Verstand verlieren, die sich zu ihren Zeiten herumtreiben und sich aufführen.
Das ist der Wind. (S. 19)

© B. Busch

Liebesleid
Dass der Roman bei so viel bedrohlichem Szenario und bösen Vorzeichen kein gutes Ende nimmt, ist schnell zu erahnen. Ein unüberwindbarer Liebesschmerz macht das lebensfrohe, leidenschaftliche Mädchen zur menschenscheuen jungen Frau, die an ihren Zukunftsaussichten verzweifelt:

Die Arbeit der Frauen endet nie. Nichts Undankbareres als den Haushalt zu besorgen. Was man tut, bleibt unsichtbar. (S. 101)

Ansteckende Begeisterung
Außergewöhnlich macht Mistral nicht in erster Linie die von einer wahren Begebenheit inspirierte Handlung, sondern wie Maria Borrély sie in das dörfliche Leben, den arbeitsintensiven bäuerlichen Alltag, die launische Natur, die Wetterkapriolen und die Jahreszeiten einbettet. Die mal lakonisch knappe, mal ungewöhnlich üppige Sprache mit den Artikeln vor Personennamen ist sehr besonders, bedarf einer gewissen Gewöhnung und hätte mich bei einem umfangreicheren Buch vermutlich irgendwann genervt, so aber passt sie ganz vorzüglich. Maria Borrélys Welt erinnert in mancherlei Hinsicht an die des francophonen Schweizers Charles Ferdinand Ramuz (1878 – 1947) und seinen 1934 veröffentlichten Roman Derborence.

Angesteckt von Amelie Thomas Begeisterung hoffe ich nun auf weitere Neuübersetzungen der insgesamt fünf Romane von Maria Borrély. Es hat mir viel Freude gemacht, dieses Buch einer interessanten Frau, Reformpädagogin, Feministin, Kommunistin bzw. Sozialistin, Résistance-Kämpferin, Naturschützerin, Klimavisionärin und Literatin kennenzulernen.

Maria Borrély: Mistral. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma. Kanon 2023
kanon-verlag.de

Daniela Raimondi: An den Ufern von Stellata

  Die Gene machen den Unterschied

Die Fremde aus dem Wohnwagen war schuld daran, dass wir zu einer Familie von Bastarden wurden. (1. Satz)

Raimondi

Als Angehörige des fahrenden Volkes, durch allerlei widrige Umstände aufgehalten, im lombardischen Dorf Stellata sesshaft werden, bleiben Verbindungen zur angestammten Bevölkerung in der Folge nicht aus. Auch der schwermütige Einzelgänger und Fantast Giacomo Casadio verliebt sich in den 1790er-Jahren überraschend Hals über Kopf in die schillernde, temperamentvolle „zingara“ Viollca Toska mit seherischen und heilerischen Fähigkeiten. Die Gene dieser beiden Urahnen bestimmen die nachfolgenden Generationen der Familie Casadio: Zukünftig gleichen sie entweder Giacomo, sind hellhäutige Träumer mit himmelblauen Augen, oder sie sind von dunklem Teint und verfügen über unerklärliche Talente, lesen die Zukunft aus Tarotkarten und verstehen sich aufs Heilen wie Viollca oder sprechen mit den Toten wie ihr 1800 geborener Sohn Dollaro. Nur einmal, sechs Generationen später, mischen sich beide Anlagen auf unglückliche Weise: Die 1947 geborene Donata erleidet das tragischste Schicksal aller porträtierten Familienmitglieder, als sie politisch radikalisiert zur Terroristin wird.

Sieben Generationen, gut 200 Jahre
Sieben Generationen einer Familie aus einem kleinen Dorf in der Poebene, wo Veneto, Lombardei und Emilia Romagna zusammentreffen, zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und den 1970er-Jahren, ergänzt durch einen Epilog aus dem Jahr 2013, stehen im Mittelpunkt des Debütromans der Lyrikerin Daniela Raimondi, der nach seinem Erscheinen 2020 in Italien zum Bestseller avancierte. Die Autorin, 1956 in der Lombardei geboren, lebte zeitweise in Südamerika, wohin es auch eine ihrer Protagonistinnen verschlägt. Mit den Lebensläufen ihrer Figuren, deren privaten Höhen und Tiefen, Liebesglück und Herzenstragödien, Krankheit und Elend, Heimatverbundenheit und Familiensinn, verschränkt Daniela Raimondi unaufdringlich und ohne belehrenden Unterton die italienische und sogar die Weltgeschichte: Freiheitskampf und Kriege, Naturkatastrophen, Auswanderung, Armut und Not, Revolutionen, Faschismus und Widerstand, Kirche, Fremdarbeitertum und Terrorismus. Gerne hätten die gelegentlichen Ausführungen über Mode, Küche, Musik, Fernsehserien, Sitten und die Stellung der Frauen noch ausführlicher sein dürfen.

© B. Busch


800 Minuten gute Unterhaltung
Dass es während der 800 Minuten der ungekürzten Lesung auf zwei mp3-CDs nie langweilig wird, dafür sorgen einerseits die überaus originellen Charaktere, die alle auf ihre eigene spannende Art aus dem Rahmen fallen, andererseits die facettenreiche Interpretation der Schauspielerin Simone Kabst. Sie erweckt jede einzelne Figur zum Leben und liest den Text nicht nur, sondern lebt ihn auch. Auch wer wie ich keinerlei Draht zur Esoterik hat – der hier als roter Faden dienende magische Realismus sollte niemanden abschrecken, denn die Autorin streut ihn, genau wie den Aberglauben, durchaus mit einem Augenzwinkern ein, das ich auch in Simone Kabsts Stimme zu hören glaubte.

Farbenprächtig und spannend
Erstaunt hat mich, dass ich den Stammbaum im Inneren der CD-Hülle selten gebraucht habe, so gut sind die überaus zahlreichen Familienmitglieder unterscheidbar. Auch wenn man sich die einzelnen Schicksale nicht merken kann, bleibt doch ein Bilderbogen einer ungewöhnlichen Familie in den Wirren zweier Jahrhunderte im Gedächtnis. Wer gerne farbenprächtige, spannende Familiensagas liest oder hört, dem kann ich den zwar oft tragischen, jedoch nie kitschigen und bis zum Ende gut unterhaltenden Schmöker wärmstens empfehlen.

Daniela Raimondi: An den Ufern von Stellata. Aus dem Italienischen von Judith Schaab. Ungekürzte Lesung von Simone Kabst. Hörbuch Hamburg 2022
www.hoerbuch-hamburg.de

Tarjei Vesaas: Der Keim

  Abgründe

Seit dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019 veröffentlicht der außergewöhnliche Guggolz Verlag das Werk des mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagenen Tarjei Vesaas (1897 – 1979). In der hervorragenden Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen zunächst zwei seiner späten Romane: 2019 Das Eis-Schloss von 1963, 2020 Die Vögel von 1957. Beide gehören zu meinen Lesehighlights der vergangenen Jahre, entsprechend war ich etwas skeptisch, ob das nun erschienene Buch Der Keim, sein Durchbruch 1940, ihnen gleichkommen würde – völlig grundlos, wie sich schnell erwies. Wie Tarjei Vesaas psychologisch fundiert menschliche Beweggründe und Abgründe zeichnet, die Natur, aber auch Licht und Dunkelheit als Handlungsträger einbezieht, religiöse Bezüge und vielleicht sogar, je nach Interpretation, politische einflicht, Szenen aus verschiedenen  Perspektiven wiederholt und Unschärfen setzt, das ist einfach großartige Literatur.

Die Inselgesellschaft
Ort der Handlung ist eine kleine, grüne, fruchtbare Insel, die geschützt in einer Meeresbucht liegt. Ihre Bewohnerinnen und Bewohner leben auskömmlich von Landwirtschaft, Viehzucht und etwas Fischerei. Der größte Hof mit dem ertragreichsten Obstgarten gehört der Familie Li. Karl und Mari führen dort mit ihren Kindern Rolv und Inga ein arbeitsames, zufriedenes Leben, auch wenn Rolv die Sehnsucht nach einem Studium in der Stadt umtreibt und Inga mit der Unruhe des Erwachsenwerdens kämpft. Karl Li studierte einst auf dem Festland, kehrte aber als Hoferbe pflichtschuldig zurück. Von seinen übermütigen Plänen zeugt die riesige rote Scheune, der nie ein entsprechendes Wohnhaus folgte und die zu allerlei Spott Anlass gibt. Hier nimmt Der Keim seinen Anfang: im Schweinestall. Nur auf den ersten Blick ist es bei den säugenden Muttersäuen und der gebärenden Jungsau idyllisch:

Dennoch lauerte mitten in dieser schläfrigen Ruhe etwas Bedrohliches. Was man da sah, dem war nicht ganz zu trauen. Allzu glänzend standen lange Reißzähne aus den Schweineschnauzen hervor. (S. 10)

Der Fremdling
Währenddessen kommt ein Fremder auf die Insel, Andreas Vest, der nach einem traumatischen Ereignis Frieden und Heilung sucht. Ziellos spaziert er umher, mehr oder weniger skeptisch von den Einheimischen beäugt. Er wird Zeuge, wie im Schweinekoben Gewalt um sich greift. Sein mühsam unterdrücktes Trauma bricht wieder auf und es kommt zur Katastrophe, auf die wiederum ein Gewaltausbruch der Inselbewohnerinnen und -bewohnen folgt – drei sich bedingende Orgien von Raserei in kurzer Abfolge, dreimal verwandeln sich vorher friedliche Lebewesen urplötzlich in erbarmungslose, blutrünstige Täter. Binnen kürzester Frist werden zivilisierte Geschöpfe zu barbarischen Rächern und Menschen vergessen ihre moralischen Grundsätze.

© B. Busch

Hoffnung
Hilfe im anschließenden Chaos kommt ausgerechnet von Kari Nes, die ihren Mann und zwei Söhne auf See verlor und seither ziellos umherwandert, grübelt und alle schreckt. Sie spürt, was die Einzelnen und die Gemeinschaft brauchen und führt die von Schuld, Reue und Fassungslosigkeit Niedergedrückten in die kathedralenhafte Scheune. Auch Rolv, den allgemeinen Sündenbock, überredet sie zur Heimkehr und verhindert ein noch größeres Unglück in dieser düsteren Nacht, die allmählich dem Tag weicht:

Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein. (S. 217)

Der Keim ist trotz seiner nur gut 200 Seiten ein großer Roman über individuelle und kollektive Schuld, Reue, Sühne, Trauma, Brutalität, gruppendynamische Prozesse, Tod, Trauer, Sprachlosigkeit, aber auch Hoffnung, unnachahmlich, symbolstark, komprimiert, zeitlos und einfach großartig erzählt.

Tarjei Vesaas: Der Keim. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller. Guggolz 2023
www.guggolz-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Tarjej Vesaas auf diesem Blog:

 

Ulrich Trebbin: Die unsichtbare Guillotine

  Vergangenheit und Zukunft der Stadelheimer Guillotine

Ich halte es für richtig, die Guillotine von Stadelheim der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Deshalb habe ich hier ihre Geschichte aufgeschrieben […]. (S. 16)

Am 22.02.1943 wurden im Gefängnis München-Stadelheim die Mitglieder der Weißen Rose Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst guillotiniert. Ihre Hinrichtung basierte auf dreien der etwa 2600 Todesurteile, die der fanatische nationalsozialistische Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler während seiner zweijährigen Amtszeit verhängte. Es waren drei von 11.000 vollstreckten Todesurteilen während der Zeit des Dritten Reichs, drei der über 3000 Exekutionen des Scharfrichters Johann Reichhart und drei der gut 1.300 zwischen 1855 und 1945 mit der Stadelheimer Guillotine durchgeführte Tötungen.

Joseph-Ignace Guillotin (1738-1814)

Opfer, Scharfrichter, Konstrukteure
Der Hörfunkautor und Online-Journalist beim Bayerischen Rundfunk Ulrich Trebbin zeichnet in seinem trotz des enormen Faktenreichtums hervorragend zu lesenden Sachbuch Die unsichtbare Guillotine nicht nur die Geschichte der Stadelheimer Guillotine, ihrer Opfer und Scharfrichter und das immer wieder veränderte Procedere der Hinrichtungen nach. Er widmet sich auch den Gründen, die zu ihrer Einführung in Bayern führten, beschreibt die Vorläufer der berüchtigten französischen Revolutionsguillotine und die 1789 vom französischen Arzt und Politiker Joseph Ignace Guillotin vorgeschlagene, vom Sekretär der Akademie für Chirurgie Antoine Louis entworfene und schließlich vom in Paris lebenden deutschen Klavierbauer Tobias Schmidt gebaute Guillotine, auf der während der 14-monatigen Terrorherrschaft der Französischen Revolution zwischen 16.600 und 40.000 Menschen wie am Fließband starben.

1855 vom Münchner Mechanikus Johann Mannhardt mit einigen technischen Neuerungen angefertigt, löste die Stadelheimer Fallschwertmaschine, die fortan durch Bayern reiste, die „störanfälligen“ Enthauptungen per Schwert durch oft angetrunkene Scharfrichter ab. Da Todesurteile auf Mordfälle beschränkt blieben, fanden unter dem Stadelheimer Fallbeil in den 77 Jahren bis 1932 „nur“ 125 Verurteilte den Tod. Einige aufsehenerregende Fälle werden im Buch aufgegriffen und im ausführlichen Anhang finden sich alle Namen, Sterbedaten, Hinrichtungsorte und Vergehen aus dieser Zeit. Um ein Vielfaches höher war die Zahl der Opfer zwischen 1933 und 1945: knapp 1.200 lassen sich nachweisen, nun oft aufgrund politischer „Delikte“:

An die Stelle der Grundrechte des Einzelnen tritt die Wahrung der „völkischen Gemeinschaftsordnung“, und an die Stelle von Recht, Strafe, Sühne und Gerechtigkeit treten Vernichtung, Rache, Anmaßung, Entehrung und biologistischer Wahn. (S. 110)

Wider die Zensur
Die Forderung, die „in Bayern kaum existierende Erinnerungsarbeit an die Hinrichtungsopfer“ (S. 192) durch die Präsentation der Stadelheimer Guillotine in einer einbettenden Ausstellung zu verbessern, um „ein Bewusstsein zu entwickeln, sowohl für die Barbarei als auch für die seither errungenen Werte“ (S. 196), ist nach allen Richtungen wohlüberlegt und mit konkreten Vorschlägen untermauert. Von ihrer Existenz im Depot des Bayerischen Nationalmuseums erfuhr die staunende Öffentlichkeit erst durch einen sehr empfehlenswerten Beitrag Ulrich Trebbins im Bayerischen Rundfunk 2014, vorher galt sie als verschollen. Zu sehen war sie seit 1945 nur bei einer Ausstellung zum 100. Geburtstag des Komikers Karl Valentin 1982 in Erinnerung an dessen schwarz-humorige Hinrichtungssketche, allerdings damals noch ohne Wissen um ihre genaue Geschichte. Höchste Zeit also für eine neue Diskussion über die Zukunft dieses herausragenden Geschichtsdokuments:

Die Entscheidung, welche Exponate ausgestellt werden, sollten – wie sonst auch – Kuratorinnen treffen und nicht Politiker, denn wenn der Staat schon vorab Verbote ausspricht, ist das nichts anderes als Paternalismus und Zensur. Und beides darf in einem freien und demokratischen Land keine Option sein. (S. 201)

Ulrich Trebbin: Die unsichtbare Guillotine. Pustet 2023
www.verlag-pustet.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Ulrich Trebbin auf diesem Blog:

Sarah Winman: Lichte Tage

  Bruchstellen und Beulen

Wer waren wir, Ellis, ich und Annie? So oft habe ich versucht, uns zu erklären, aber jedes Mal bin ich gescheitert. Wir waren alles, und dann zerbrachen wir. (S. 218)

Im vielversprechenden epilogartigen Eingangskapitel von 1950 wählt die unglücklich verheiratete, schwangere Dora Judd in einem Akt erster Auflehnung gegen ihren Mann Len als Tombolapreis statt des von ihm präferierten Whiskys eine Reproduktion von van Goghs berühmtem Sonnenblumengemälde. Dieses Bild, im Ausschnitt auf dem wunderschönen Cover zu sehen, und sein Entstehungsort, die Provence, sind für Dora, später für ihren Sohn Ellis und dessen Freund Michael,  die Verkörperung von Licht, Farbe, Hingabe, Hoffnung, Inspiration und Freiheit.

Umkehr
46 Jahre danach ist aus Ellis ein „verwahrloster Eremit“ (S. 86) geworden, der in Oxford mehr dahinvegetiert als lebt. Seine Künstlerambitionen fielen dem frühen Tod Doras zum Opfer, stattdessen entfernt er nachts als Tin Man, so der Originaltitel des 2017 erschienenen Romans, Blechmann, Beulen aus Autokarosserien. Die größte Beule seines Lebens ist der Unfalltod seiner Frau Annie 1991 nach 13 Jahren Ehe. Von ihm übrig ist „[…]nichts als ein Körper, der all seine Energie dafür aufwandte, vor etwas zu fliehen, was sich nicht in Worte fassen ließ.“ (S. 36)

Längst hängt Doras Sonnenblumenbild nicht mehr im Haus seines Vaters, wo inzwischen die empathische Carol mit ihm zusammenlebt. Als Ellis, wachgerüttelt durch eine Krankschreibung, sein Leben noch einmal ändern will und auf dem Dachboden nach der Reproduktion sucht, findet er dort auch einen vergessenen Karton mit Michaels Gedankenbuch.

Michaels Sicht
Während im ersten Teil Ellis sein Leben, seine Ehe und die besondere Freundschaft mit Michael bilanziert, spiegeln Michaels Notizen, begonnen in einer schwierigen Lebensphase 1989, seine Sicht auf den Zweierbund, auf eine Provencereise der beiden Neunzehnjährigen, als plötzlich ein ganz anderes Leben möglich schien, und die Zeit ab 1976, als sie mit Annie zum Trio wurden.

© B. Busch

Licht und Schatten
Reduziert auf die reine Romanhandlung, hat mir die natürliche, sprachsensible Ausführung über die verschiedenen Facetten von Liebe und Freundschaft in Lichte Tage durchaus zugesagt, allerdings nicht die Gesamtumsetzung. Anscheinend hat die 1964 geborene britische Schauspielerin und Autorin Sarah Winman dem Stoff für ihren dritten Roman zu Unrecht misstraut und ihn mit überflüssiger Dramatik hart an der Kitschgrenze sowie plump eingestreuten Informationen zu van Gogh und einem Gedicht von Walt Whitman angereichert. Den Figurenzeichnungen fehlen Grautöne, es hakt bei der Gewichtung einzelner Szenen und vor allem Annie bleibt als Charakter enttäuschend blass. Zwar sorgen die sprunghaften Zeitwechsel für angenehme Abwechslung, aber die oftmals platten Dialoge hielten mich auf Distanz. Poetische Landschaftsbeschreibungen aus der Provence kontrastieren mit Fäkalausdrücken und fragwürdigen Sprachbildern, etwa die „erschöpfte Schwalbe, die sanft vom Himmel fällt“ (S. 194): Entweder sie plumpst oder sie gleitet sanft. Inwiefern dies, ebenso wie unpassende Adjektive und unklare Bezüge von Pronomina, an der Übersetzung oder am Originaltext liegt, kann ich nicht entscheiden:

Ich hatte akzeptiert, dass ich nicht der Schlüssel zu seinem Schloss war. Sie sollte erst später kommen. (S. 155)

Ein sorgfältigeres Lektorat wäre dringend erforderlich gewesen, auch bei der verwirrenden Namensverwechslung ausgerechnet im ersten Satz: „Carol“ statt „Dora“.

Sein Publikum wird Lichte Tage bei Fans gefühlvoller Liebes- und Schicksalsromane garantiert finden. Für mich hat das durchaus interessante Buch über biografische Bruchstellen jedoch leider Potential verschenkt.

Sarah Winman: Lichte Tage. Aus dem Englischen von Elina Baumbach. Klett-Cotta 2023
www.klett-cotta.de

Janet Lewis: Draußen die Welt

  Ein Bollwerk gegen die ethische Wildnis

Zwei Morgen flachen Wiesenlandes im ländlichen Kalifornien zwischen dem Küstengebirge und dem südlichen Ende der Bucht von San Francisco bewirtschaftet die Familie Perrault am Ende der 1920er- und Beginn der 1930er-Jahre. Ihr Mittelpunkt und unumstrittene Herrin über Küche, Haus und Garten ist Mary Perrault, eine geborene Schottin und späte Mutter Anfang 50. Sie kümmert sich um die vier Kinder von der pubertierenden Melanie bis zum dreijährigen Jamie, engagiert sich in der Gemeinde und hat für alle stets ein offenes Ohr und einen Platz an ihrem Tisch. Ihre Aufgaben erfüllt sie mit Fleiß, Disziplin, fröhlicher Gelassenheit und Freude:

Es herrschte ein großer Friede in ihrem Herzen, Freundschaft, Geborgenheit, Zufriedenheit. (S. 22)

Ein Vorbild an Resilienz
Stabilität verleiht der warmherzigen, lebensklugen und selbstreflektierten Frau ein innerer moralischer Kompass. Statt Ermahnungen und Strenge sind Vorbildhaftigkeit, Liebe, Sicherheit und Geborgenheit Grundpfeiler ihrer Erziehungsarbeit. Vertrauensvoll gewährt sie ihren Kindern Freiheiten, schreitet selten ein, freut sich über ihre Selbstständigkeit und lässt Melanie ihr Glück außerhalb der Farm suchen.

Dabei ist Mary keineswegs naiv und blind für äußere Bedrohungen und fürchtet „eine Gesellschaft ohne gemeinsame Werte, eine ethische Wildnis, erwachsen aus der Wildnis der Natur“ (S. 362). Denn die Katastrofen häufen sich: eine Verkehrstragödie, die Auswirkungen der großen Depression 1929, menschengemachte Umweltprobleme, ein Kapitalverbrechen und die Lynchjustiz eines entfesselten Mobs. Ihnen setzt sie entgegen, was in ihrer Macht steht: die Atmosphäre ihrer Küche, „warm, vertraut und geborgen.“ (S. 364)

Spülen muss man trotzdem
Die US-Amerikanerin Janet Lewis (1899 – 1998) schrieb neben Lyrik auch eine Trilogie über historische Justizfälle und das 1943 erschienene Against a Darkening Sky. Während der Originaltitel die Gefährdung des Perraultschen Mikrokosmos thematisiert, hebt der ebenso gut passende deutsche Titel Draußen die Welt auf Marys Bestrebungen ab, durch Integrität, Empathie und Zuverlässigkeit ein Bollwerk gegen eben diese Stürme zu errichten. Dazu passen das Geschirrtuch auf dem sehr gelungenen Cover und Marys Gedanken bei der Küchenarbeit:

Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem. (S. 361)

© B. Busch

Gegen den Lärm der Welt
Dass der Roman erst 80 Jahre nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt wurde, erstaunt mich sehr. Es mag daran liegen, dass er – anders als zunächst von mir erwartet – nur am Rande die großen Themen der Weltwirtschaftskrise wie Bankencrash, Arbeitslosigkeit und Verelendung beschreibt. Stattdessen ist es ein Buch über eine Frau, die den Krisen der Welt gelassen und mit den ihr zur Verfügung stehenden Waffen entgegentritt, sich nie beklagt und schlechte Nachrichten nur ungern ins Haus lässt:

Sie wünschte alle Zeitungen von ganzem Herzen zum Teufel. Eine Zeitung mit ihren riesigen Schlagzeilen auf dem Tisch war wie jemand im Raum, der die ganze Zeit hysterisch kreischte. (S. 362)

Eine große Beobachterin
Neben Mary Perrault steht im Mittelpunkt des Romans die Natur, die die Lyrikerin Janet Lewis sehr blumig und ausführlich beschreibt, ausgezeichnet übersetzt von Sylvia Spatz: Landschaft, Pflanzen, Wetterereignisse, den Wechsel der Jahreszeiten, Kaninchen, die Bucht von San Francisco und vieles mehr.

Für mich sind Draußen die Welt und seine Verfasserin Janet Lewis eine echte Entdeckung. Geduldigen Leserinnen und Lesern empfehle ich den ruhig erzählten modernen Klassiker, der ohne große Emotionen und dramatische Wendungen auskommt, als angenehm entschleunigende Lektüre.

Janet Lewis: Draußen die Welt. Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz. dtv 2023
www.dtv.de

Claudia Piñeiro: Kathedralen

  Lange Schatten eines Todes

An manchen Orten fällt das Überleben besonders schwer – in der Wüste, auf einer unbewohnten Insel, auf einem Berggipfel, auf dem Mars, in einem Land, in dem Krieg herrscht, im Urwald. Oder in meiner Familie. (S. 61)

Ein 30 Jahre zurückliegender Todesfall ist Dreh- und Angelpunkt des Romans Kathedralen, 2020 eine der meistverkauften Neuerscheinungen Argentiniens. Mit viel Wut hat die politisch engagierte, 1960 in Buenos Aires geborene Autorin und Journalistin Claudia Piñeiro das Buch geschrieben, das trotz des im Mittelpunkt stehenden Verbrechens kein Krimi ist, eher schon ein belletristisches Debattenbuch mit deutlicher Positionierung mittels krasser Charaktergestaltung.

Sieben schwer vom Tod der 17-jährigen Ana Sardá betroffene Personen kommen mit sprachlich hervorragend unterscheidbaren Stimmen zu Wort, ein großer Pluspunkt des Romans, der auch dem Übersetzer Peter Kultzen zu verdanken ist. Bei allen hinterließ der Fund der zerstückelten, verbrannten Leiche der jüngsten der drei Sardá-Schwestern auf einer Müllhalde tiefe Spuren. Die Familie aus der gebildeten, streng katholischen Mittelschicht zerbrach daran.  

Jeder hat seine eigene Kathedrale
Bei der mittleren Schwester Lía überwiegen Wut und Ratlosigkeit. Nie verziehen ihr ihre strenggläubige Mutter und ihre älteste Schwester Carmen die Abkehr vom Glauben ausgerechnet während der Totenwache. 9000 Kilometer von Buenos Aires entfernt führt sie inzwischen eine Buchhandlung in Santiago de Compostela, nur mit dem Vater in Briefkontakt. Ihre Kathedralen sind die Bücher.

© Kathedrale von Santiago de Compostela: A. Pape, © Gesamtbild: B. Busch

Mateo leidet unter seinen fanatisch katholischen Eltern Carmen und Julián, liebt dagegen seinen Großvater Alfredo, der ihn zu einer Reise zu den Kathedralen Europas ermuntert und ihm drei Briefe mitgibt: für ihn, für Lía und für beide gemeinsam. Seine Kathedrale besteht aus Fragezeichen.

Höchst anrührend ist Marcela, Anas beste, in unverbrüchlicher Treue verbundene Freundin. Seitdem ihr in Anas Todesnacht in einer Kirche eine Statue des Heiligen Gabriel auf den Kopf fiel, leidet sie unter anterograder Amnesie, einem Totalverlust des Kurzzeitgedächtnisses. Obwohl sie sich an alles vor dem Unfall perfekt erinnert, gilt sie als unbrauchbare Zeugin. Erst als ihr der todkranke Alfredo endlich zuhört, kommt Bewegung in die Aufklärung. Ihre Kathedralen sind ihre Notizhefte.

Elmer zweifelte als damals junger Polizist die Theorie des Sexualverbrechens mit Vertuschungsmord erfolglos an. Seine Kathedrale ist die Ermittlungsarbeit.

Für Carmen verließ Julián das Priesterseminar, seine Berufung hielt dem Begehren nicht stand. Seine Kathedrale ist die Stärke seiner Frau, mit der er seine Schwäche kompensiert.

Carmen ist stolz auf ihren radikalen Glauben, ihre Kathedrale, und fühlt sich durch ihn unangreifbar und erhaben.

Alfredo gab die Suche nach dem Mörder seines „Kückens“ nie auf. Er ist froh, kurz vor seinem Tod die Wahrheit bis zu einem für ihn erträglichen Maß erfahren zu haben. Seine Kathedrale besteht aus Lieblingswörtern wie „Lía“ und „Mateo“, die er gerne vereint sehen möchte.

Ein starkes gesellschaftliches Plädoyer
Dass Claudia Piñeiros Figuren kaum Grautöne aufweisen, hat mich wegen ihrer Stimmigkeit nicht übermäßig gestört hat. Kathedralen ist für mich keine Abrechnung mit dem Katholizismus, wohl aber mit dessen selbstgerechter, unbarmherziger, scheinheilig-heuchlerischer Ausübung und der blinden Ergebenheit des Staates gegenüber der Institution Kirche.

Krimifans kämen zwar beim sehr ausführlich geschilderten grauenhaften Tathergang auf ihre Kosten, doch passt die frühe Absehbarkeit nicht zu diesem Genre. Mich haben die Enthüllungen trotzdem bis zum Schluss gefesselt, weshalb ich den gesellschafts- und kirchenkritischen Roman mit Gewinn gelesen habe.

Claudia Piñeiro: Kathedralen. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2023
www.unionsverlag.com

Nils Freytag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof

  Bilder sagen mehr als Worte

Laut der repräsentativen Markt-Media-Studie „best for planning 2021“, bei der mehr als 30.000 Personen ab 14 Jahren in Einzelinterviews befragt wurden, liegt das Bücherlesen in Deutschland nur noch auf Rang 13 der Freizeitbeschäftigungen. 25,5 Prozent der Befragten lesen seltener als einmal pro Monat, weitere 24,1 Prozent sogar nie.

Dafür muss es Gründe geben. Die Kinderbuchautorin Silke Schlichtmann und ihr Mann, der Historiker Nils Freytag, haben sich in ihrem ersten gemeinsamen Buch auf die Suche begeben, warum die Hälfte der Befragten Lesen offenbar doof findet. 20 Sätze, die gegen das Lesen sprechen könnten, haben sie in ihrem hübschen kleinen Büchlein zusammengestellt, alle beginnend mit „Lesen ist doof, weil…“. Widerlegt werden sie auf der gegenüberliegenden Seite nicht mit Worten, sondern mittels Pinsel und Stift von namhaften Illustratorinnen und Illustratoren.

Alles Vorurteile!
Ist Lesen wirklich eine ernste Angelegenheit, wenn man dabei so herrlich lachen kann wie der Junge auf der Illustration von Henrike Wilson? Und ist es tatsächlich so anstrengend, wenn doch der von Kathrin Schärer gezeichnete Hase dabei entspannt im Liegestuhl lümmelt, ganz im Gegensatz zu den schwitzenden Sportlern um ihn herum? Wie passt kann Lesen langweilig sein, wenn das von Ulrike Möltgen abgebildete Mädchen sogar beim Überqueren der Straße die Augen nicht vom Buch abwendet? Paul Maar lässt das Sams gar einem ungläubigen Leser auf die Schulter tippen – von wegen alles erfunden! Drei der Illustrationen stammen von Künstlerinnen, die bereits Silke Schlichtmanns Kinderbuchhelden ausgezeichnet ins Bild gesetzt haben: Susanne Göhlich die Pernilla-Bände, Ulrike Möltgen den Bluma-Roman und Maja Bohn die Mattis-Reihe. Sie und alle anderen, Erhard Dietl, Julia Dürr, Cornelia Funke, Sybille Hein, Felicitas Horstschäfer, Ulf K., Regina Kehn, Ute Krause, Daniela Kulot, Axel Scheffler, Marei Schweitzer, Susanne Strasser, Julie Völk und Sabine Wilharm, schaffen es spielend, die Aussagen zu konterkarieren, humorvoll, überraschend und entwaffnend logisch.

© B. Busch

Ein prima Geschenkbuch
Als Leseratte habe ich mich bestens amüsiert und diebisch gefreut, wie trefflich sich die Argumente der Lesemuffel widerlegen lassen, und wer erst einmal über sich selbst lachen kann, hat den ersten Schritt zur Leserin oder zum Leser vielleicht bereits gemacht. Ob Bücherfan oder nicht, die hintersinnig-witzige Zusammenstellung eignet sich bestens für Groß und Klein ab etwa sechs Jahren und liefert garantiert gleichermaßen Stoff zum Diskutieren wie zum Nachdenken.

Noch ein nicht ganz uneigennütziger Vorschlag zum Schluss: Wie wäre es mit einer Fortsetzung zum ebenso wichtigen Thema „Vorlesen“, schließlich wurde Silke Schlichtmann für ihre Kinderveranstaltungen 2019 als Lesekünstlerin des Jahres ausgezeichnet? Vielleicht heißt es ja dann irgendwann auch: Vorlesen ist doof! Wetten, dass sich auch diese Behauptung spielend als falsch entlarven lässt?

Nils Freitag & Silke Schlichtmann: Lesen ist doof. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Kinderbüchern von Silke Schlichtmann auf diesem Blog:

             

Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte

  Vergangenheit, die kleben bleibt

Weißt du, manchmal gibt es etwas, das vererbt wird, auch wenn man gar nicht weiß, dass es existiert. (S. 68)

Zwei lange verschwiegene Themen aus der norwegischen und deutschen Geschichte verschränkt die norwegische Journalistin und Autorin Trude Teige in ihrem Familienroman Als Großmutter im Regen tanzte: das Schicksal der sogenannten „Tyskerjenter“, Norwegerinnen, die sich während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Soldaten verliebten, als Landesverräterinnen galten und bei der Auswanderung ausgebürgert wurden, und den beispiellosen Massensuizid beim Einzug der marodierenden, plündernden und vergewaltigenden Roten Armee Ende April/Anfang Mai 1945 in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin mit Hunderten Zivilopfern.

Drei Frauengenerationen, zwei Zeitebenen
Drei Frauen aus drei Generationen stehen im Mittelpunkt dieses bereits 2015 in Norwegen erschienenen und dort zum Bestseller avancierten Romans: die Großmutter Tekla, die Mutter Lilla und die vaterlose Enkelin Juni. Erzählt wird kapitelweise in zwei Ebenen aus den Jahren 1945 bis 1946 und in der Jetzt-Zeit, unterscheidbar durch verschiedene Schriftarten. In der Gegenwart tritt Juni als Ich-Erzählerin auf, in der früheren Zeitebene erfahren wir in personaler Erzählweise vom Schicksal der jungen Tekla, die sich in den deutschen Soldaten Otto Adler verliebte, ihm über das norwegische Ausreiselager Mandal ins zerstörte Deutschland folgte und im Sommer 1945 in seiner zerstörten, traumatisierten Heimatstadt Demmin ankam.

Vererbte Traumata
Juni wiederum flieht schwanger und planlos drei Jahre nach dem Tod der Großeltern und kurz nachdem ihre Mutter verstarb vor ihrem gewalttätigen Mann Jahn in das Familienhäuschen auf einer Schäre vor Kragerø. Dort stößt sie auf ein Foto Teklas mit einem deutschen Soldaten, auf die großelterliche Heiratsurkunde, die nicht zum Geburtsdatum Lillas passt, auf Briefe und andere Dokumente, die ein tiefgreifendes Familiengeheimnis erahnen lassen. Zusammen mit dem frisch geschiedenen, gutaussehenden jungen Historiker Georg, der just auf die Schäre gezogen ist, reist Juni nach Deutschland, um Licht ins Familiendunkel zu bringen. Was sie schließlich herausfindet, überrascht, denn es enthüllt nicht nur das bewegende Schicksal ihrer Großmutter, sondern wirft auch ein neues Bild auf das zerrüttete Verhältnis zwischen Tekla und Lilla, Lillas psychische Probleme sowie Junis angespannte Mutter-Beziehung und ihre Alltagsschwierigkeiten.

© B. Busch

In der Form nicht mein Roman
Trude Teige hat für diesen von tatsächlichen Geschehnissen und ähnlich gelebten Leben inspirierten Roman gründlich recherchiert, so dass ich von den Schilderungen der hochinteressanten historischen Umstände zweifellos profitiert und den Roman in Teilen daher auch gern gelesen habe. Formal ist Als Großmutter im Regen tanzte allerdings leider genau die Art „leichter Frauenroman“, die mir gar nicht liegt. Hätte ich mich nicht von den Themen blenden lassen, am Titel wäre es zu erahnen gewesen. Weder konnte mich die sprachliche Qualität mit den vielen kurzen Hauptsätzen überzeugen, noch die teilweise sehr konstruierte Handlung mit den inzwischen überstrapazierten Überraschungsfunden, dem neuen Inselbewohner oder Teklas zufälligem Hineinstolpern in einen Entnazifizierungsprozess. Am meisten gestört haben mich allerdings die aufgesetzten, dadurch hölzernen Dialoge, die statt der Interaktion der Sprechenden der Belehrung der Leserschaft dienen. Außerdem traut die Autorin ihrem Publikum anscheinend wenig zu, wenn sie durch interessante Parallelen im Schicksal der drei Frauen anschaulich illustrierten Themen unnötigerweise zusätzlich wortreich erklärt und berührende Momente damit zerredet. Wen dies jedoch nicht stört, wird an dem flott geschriebenen, leicht sentimentalen Unterhaltungsroman sicher mehr Freude haben als ich.

Trude Teige: Als Großmutter im Regen tanzte. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. Fischer 2023
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen mit dem Thema „Deutschenmädchen“ auf diesem Blog: