Johan Borgen: Lillelord

  Klüfte und Spalten

Der Roman Lillelord aus dem Jahr 1955 ist der erste Teil einer Trilogie, dem Hauptwerk des Journalisten, Literaturkritikers, Dramaturgen und Schriftstellers Johan Borgen (1902 – 1979), und zählt zu den wichtigsten modernen Klassikern Norwegens. Im Mittelpunkt steht Wilfred Sagen, ein Junge aus den besten Kreisen von Kristiania, dem heutigen Oslo, der mit seiner verwitweten Mutter in einem herrschaftlichen Haus mit Blick über die Frognerbucht auf die Halbinsel Bygdøy und das Schloss Oscarshall lebt.

Der Blick aus Lillelords fiktivem Elternhaus über die Frognerbucht auf die Halbinsel Bygdøy und Schloss Oscarshall. © B. Busch

Doppelleben
Wer Wilfred Sagen, den Lillelord genannten 14-Jährigen mit den langen Locken, im ersten der 21 Kapitel bei einem der regelmäßigen Familiendinner mit Onkeln und Tanten erlebt, sieht einen außergewöhnlich wohlerzogenen, an alle familiären Spielregeln angepassten, intelligenten, eher kindlichen Jungen. Und doch ahnt man die Maskerade gegenüber der Mutter, Onkeln, Tanten und dem Dienstmädchen und sieht die versteckte Ironie. Wie ausgeprägt sein Doppelleben allerdings ist, erstaunt dann aber doch: Nicht nur schwänzt er die Schule, bedient sich in der mütterlichen Geldkassette, fälscht das Haushaltsbuch und die Korrespondenz mit seiner exklusiven Privatschule, er begibt sich auch in Stadtteile, von denen er nach Meinung seiner Mutter nichts ahnt. Dort lebt er seine dunkle Seite aus, wütet  durchtrieben, gewissenlos, kaltblütig und erschreckend brutal. Dabei hilft ihm, dass er als mütterlicher Augapfel diese fast nach Belieben manipulieren und aufkommende Zweifel im Keim ersticken kann und der allgemeine Respekt vor der höheren Klasse jeden Verdacht gegen ihn unterdrückt.

Skulptur im Frognerpark Oslo von Gustav Vigeland (1869-1943), dort aufgestellt zwischen 1923 und 1943. © B. Busch

Verwöhnt und vernachlässigt
Auf der Suche nach seinem wahren Ich, „der Sehnsucht nach dem Eigenen“ (S. 26)und nach Grenzen, im verzweifelten Kampf um Anerkennung und im Strudel der erwachenden Sexualität folgen wir Wilfred über etwa ein Jahr. Während ihn die Mutter mit ihrer „indolenten Abscheu vor allem Unbehaglichen“ (S. 169) am liebsten auf ewig als Kind sähe, will er vehement die Fesseln der Kindheit abstreifen. Einerseits überbehütet und verwöhnt, ist er andererseits vernachlässigt und einsam, es fehlt die Vaterfigur. So gerne er in verschiedene Rollen schlüpft, so sehr bewundert er alle, die „frei von allem So-tun-als-ob“ (S. 240) leben.

Ein lesenswerter moderner Klassiker
Johan Borgen, lange dem Kommunismus verbunden, porträtiert in Lillelord nicht nur die gespaltene Persönlichkeit eines Jugendlichen aus dem gehobenen Bürgertum, sondern zeigt auch eine zutiefst gespaltene Gesellschaft kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ich hatte das Glück, den Beginn des Romans während eines Osloaufenthalts zu lesen mit Wilfreds Stadtviertel und dem Drammenveien direkt vor Augen. Die ersten zwei Drittel haben mir sehr gut gefallen, das letzte zog sich etwas in die Länge. Trotzdem möchte ich irgendwann die Bände zwei und drei, Die dunklen Quellen (1956) und Wir haben ihn nun (1957) lesen, besonders aus Neugier auf Wilfreds politische Positionierung im Ersten beziehungsweise Zweiten Weltkrieg.

Der Verlag Fischer Taschenbuch hält die Trilogie dankenswerterweise mit einigen Tagen Vorlauf lieferbar. Es handelt sich allerdings um den unveränderten Reprint einer älteren Ausgabe, eng und bis an die Ränder bedruckt, manchmal unscharf und schwer offen zu halten, was mein Lesevergnügen leider getrübt hat.

Johann Borgen: Lillelord. Aus dem Norwegischen von Alken Bruns. Fischer 2015
www.fischerverlage.de

Shelly Kupferberg: Isidor

  Ein literarischer Stolperstein für den Urgroßonkel

Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zweimal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Genau wie der Künstler Gunter Demnig mit den von ihm erdachten Stolpersteinen oder der norwegische Autor Simon Stranger mit seinem Buch Vergesst unsere Namen nicht verschiebt auch Shelly Kupferberg mit ihrem Debüt diesen zweiten Tod ihres Urgroßonkel Dr. Isidor Geller. Nicht nur sein Leben zeichnet sie nach, auch das seiner Eltern, Geschwister, seines Neffen, seiner Geliebten und anderer, Schicksale, die ich teilweise sogar noch interessanter fand. Initialzündung für das Buchprojekt der 1974 in Tel Aviv geborenen, in Westberlin aufgewachsenen und heute in Berlin lebenden freien Journalistin und Moderatorin war ihre Moderatorentätigkeit bei einer internationalen Tagung zu Nazi-Raubkunst und Provenienzforschung in Berlin, die sie an diesen sehr betuchten Vorfahren erinnerte. Ihr detektivischer Spürsinn war geweckt und aus dem Plan zu einem Radiofeature wurde nach überraschend ergiebigen Funden von Fotoalben, Dokumenten und Familienbriefen auf dem großelterlichen Hängeboden in Tel Aviv, in Wiener Archiven und bei der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde dieses Buch. Eingeflossen sind außerdem Erinnerungen ihres verstorbenen Großvaters Walter Grab, der vor seiner Flucht als Neunzehnjähriger 1938 von Wien nach Palästina dem legendär reichen und erfolgreichen Onkel in dessen Kanzlei nachfolgen sollte und damit ein „gemachter Mann“ gewesen wäre.

Aufstieg und Fall
Als Sohn eines Talmudgelehrten im armen ostgalizischen Dorf Lokutni geboren, war eine Karriere als Jurist, Kommerzienrat und Wirtschaftsbereiter der österreichischen Staatsregierung dem 1886 als Israel Geller geborenen Urgroßonkel nicht in die Wiege gelegt. Ehrgeiz, Disziplin, Neugier und Aufstiegsdrang führten ihn über Kolomea und Lemberg nach Wien, wo er sich wie seine vier Geschwister gegen den Willen des Vaters niederließ. Schnell stieg er auf, assimilierte sich und erwirtschaftete nicht immer legal während des Ersten Weltkriegs ein großes Vermögen, von dem er fortan ein bequemes Leben in der Beletage eines Palais führte, umgeben von Kunstschätzen und als Liebhaber der Oper. Das größte Hochgefühl empfand der Dandy, kein reiner Sympathieträger, wie Shelly Kupferberg in Ihrem Nachwort schreibt, aber sympathisch in seiner Großzügigkeit, wenn er als „gleichberechtigtes Mitglied der guten Gesellschaft wahrgenommen wurde(S. 95). Dass er die Bedrohungen durch den Nationalsozialismus nicht ernstnahm, wurde ihm zum Verhängnis:

Seinen Glauben an Recht, Ordnung und den eigenen Aufstieg hatte er über alle Warnzeichen gestellt. Der ganze Hass der letzten Jahre und Jahrzehnte habe nichts mit ihm zu tun, dachte er immer. (S. 202)

© B. Busch

Geschichte in Form von Einzelschicksalen
Alleine wegen des Themas hätte ich zu diesem Buch wahrscheinlich nicht gegriffen, zu viele ähnliche habe ich in den letzten Jahren gelesen. Allerdings interessierte mich die Autorin Shelly Kupferberg, die ich als hervorragende Moderatorin von Autorenlesungen und –interviews sehr schätze, stets exzellent vorbereitet, klug fragend und angenehm zurückhaltend. Nun steht fest, dass sie auch schreiben kann, fundiert, klar formulierend, nachdenklich, abwägend und mit merklicher Betroffenheit, die berührt. Wer also wissen möchte, was es mit dem Reh auf dem Cover auf sich hat, und wer Geschichte gerne anhand gut erzählter Einzelschicksale liest, für den ist Isidor genau die richtige Lektüre.

Shelly Kupferberg: Isidor. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Impressionen aus dem Literaturland Norwegen 

© B. Busch

Keinesfalls möchte ich hier den Reiseblogs Konkurrenz machen, die mit oftmals sehr hilfreichen Berichten und Tipps Lust auf Norwegen machen und die Reiseplanung praktisch unterstützen. Diesen Part überlasse ich denen, die es besser können als ich, und berichte stattdessen über alles, was mir in Bezug auf das Literaturland Norwegen während meiner dreiwöchigen Tour durch Teile Südnorwegens bis hoch nach Trondheim begegnete. Schließlich gab den letzten Ausschlag für die Reise der überaus eindrucksvolle Gastlandauftritt Norwegens bei der Frankfurter Buchmesse 2019.

Ständig begleitet hat mich der im Frühjahr 2022 in der fünften Auflage erschienene (und tatsächlich aktualisierte!) Reiseführer Norwegen von Armin Tima aus dem Verlag Michael Müller. Ich kann ihn ebenso empfehlen wie die Landkarte Norwegen Süd von Marco Polo im Maßstab 1:325 000, die zwar im Auto nicht gerade handlich, bei entsprechender Faltung jedoch als Ergänzung zum Navi sehr hilfreich war. Beide verdanke ich der ausgezeichneten Beratung im Reisebuchladen Karlsruhe. Dritter Begleiter war als Vorleselektüre während langer Fahrstunden das Norwegenbuch für „Fjord-Geschrittene“ I did it Norway! der Nordeuropajournalistin Alva Gehrmann von dtv, das in leichtem Ton unterhaltsam und informativ von Land und Leuten erzählt.

© B. Busch

 

Oslo

Vor dem Nationaltheater in Oslo grüßen von ihren Sockeln Henrik Ibsen (1828 – 1906), dessen Drama Nora oder Ein Puppenheim meine erste Begegnung als Schülerin mit der norwegischen Literatur war und das mich damals wie heute begeistert, sowie der erste norwegische Literaturnobelpreisträger und Verfasser der norwegischen Nationalhymne, der Dichter Bjørnstjerne Bjørnson (1832 -1910).

Das Nationaltheater Oslo, links Bjørnstjerne Bjørnson , rechts Henrik Ibsen. © B. Busch

 

Henrik Ibsen begegnete mir wieder als Porträt des Malers Edvard Munch (1863 – 1944) im neuen Munch-Museum direkt am Wasser neben dem futuristischen Opernhaus, ebenso wie sein allerdings schwedischer Kollege August Strindberg (1849 – 1912).

Henrik Ibsen im Porträt von Edvard Munch 1909/10. Munch Museum Oslo. © B. Busch
August Strindberg im Porträt von Edvard Munch 1896. Munch Museum Oslo. © B. Busch

 

Ein Eldorado für Bücherfans ist die 2020 eröffnete Hauptstelle der Stadtbibliothek Deichman in unmittelbarer Nähe der Oper und des Munch-Museums mit atemberaubender Architektur außen wie innen und fast einer Million Bücher, viel Atmosphäre, unzähligen Arbeitsplätzen mit teils umwerfender Aussicht, großer Aktionsfläche für Kinder, Kino, Restaurant und Veranstaltungsräumen.

Blick auf die Deichman-Bibliothek vom Dach der Oper aus. © B. Busch
Innenansicht der Deichman-Bibliothek. © B. Busch

 

Leider hatte eine weitere Literaturattraktion, das Litteraturhuset Oslo direkt am Schlosspark, verkürzte Sommeröffnungszeiten, weswegen ich es nur von außen sehen konnte. Hier finden jährlich etwa 1700 Literaturevents statt, haben zahlreiche Autorinnen und Autoren unter dem Dach ein „skriveloft“, arbeiten und tauschen sich aus, gibt es einen Buchladen und ein Café. Manchmal findet das Literaturhaus sogar in Romanen Erwähnung, wie etwa in Bergljots Familie von Vigdis Hjorth.

Litteraturhuset Oslo. © B. Busch

 

An der Außenmauer der Festung Akershus liegt, dem Meer zugewandt, eine Gedenkstätte für die von hier nach Auschwitz deportierten norwegischen Juden. Von den leeren Stühlen erzählte der Autor Simon Stranger bei einer Veranstaltung im November 2019 in Stuttgart zu seinem Roman Vergesst unsere Namen nicht.

Mahnmal für die deportierten norwegischen Juden. © B. Busch

 

Meine Lektüre während der Tage in Oslo war Lillelord von Johan Borgen (1902 – 1979), der erste Band einer Trilogie, die zu den bedeutendsten Romanwerken Norwegens gehört. Er spielt in der geschützten Welt des Bürgertums Kristianias, dem heutigen Oslo, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Schöner Zufall, dass mein Hotel in unmittelbarer Nähe zu Lillelords fiktivem Elternhaus lag, von dem aus er einen Blick auf die Frognerbucht, die Halbinsel Bygdøy und das Schloss Oscarshall hatte.

Der Blick aus Lillelords fiktivem Elternhaus über die Frognerbucht auf die Halbinsel Bygdøy und Schloss Oscarshall. © B. Busch

In Oslo spielen auch mehrere Bücher, die ich in den letzten Jahren sehr gerne gelesen habe: der Thriller Tiefer Fjord von Ruth Lillegraven, die Romane Aufruhr in mittleren Jahren von Nina Lykke, Das Orangenmädchen von Jostein Gaarder und das Jugendbuch Battle von Maja Lunde.


Entlang der schwedischen Grenze

Von Oslo nach Trondheim hat man zwei Möglichkeiten: über Lillehammer durch das Gudbransdal oder entlang der Glåma und der schwedischen Grenze durch Østerdalen. Zwar gibt es bei der zweiten Alternative weniger Attraktionen, dafür aber sehr viel Natur und Ruhe. Hier spielt einer meiner liebsten norwegischen Romane: Pferde stehlen von Per Petterson, ein wunderbares Buch über das Leben in der skandinavischen Natur, die Besatzungszeit, ein schwieriges Erwachsenwerden, eine komplizierte Vater-Sohn-Beziehung sowie eine berührende, diskrete Liebesgeschichte.

Ostnorwegen nahe der Grenze zu Schweden. © M. Busch


Trondheim

In Trondheim liegt das Wohnhaus des Mannes, dem Simon Stranger in seinem Roman Vergesst unsere Namen nicht ein Denkmal setzt: Hirsch Komissar. Vor dem Haus liegt ein Stolperstein, der an ihn und sein Schicksal erinnert.

Wohnhaus Hirsch Komissar in der Klostergate 35 in Trondheim. © B. Busch
Stolperstein für Hirsch Komissar vor dem Haus Klostergate 35 in Trondheim. © B. Busch

 

Region Molde

Briefkasten von Edvard Hoem in Hoem. © B. Busch

Die Gegend um Molde und den Romsdalsfjord ist Hoem-Land, dort ist der Schriftsteller Edvard Hoem auf dem Hof Bakken im Bygd Hoem, einer ländlichen Gemeinschaft von Höfen 20 Kilometer von Molde entfernt, aufgewachsen, und dort lebt er heute, wie sein Briefkasten beweist, wieder auf dem benachbarten Bortehof.

Hof Bakken in Hoem. © B. Busch

Von seiner Kindheit auf dem Hof Bakken bis zu seinem Weggang mit 14 Jahren nach Molde erzählt Edvard Hoem äußerst eindrucksvoll in Heimatland. Kindheit.

Um die sehr berührende Liebesgeschichte seiner Eltern geht es in Die Geschichte von  Mutter und Vater. Ihr Grab findet sich neben der Kirche von Vågøy.

Grab von Edvard Hoems Eltern auf dem Friedhof Vågøy. © B. Busch
Kirche von Vågøy. © M. Busch

Nicht weit davon wirkte Edvards Hoems Ururgroßmutter Marta Kristine Anderdatter Nesje, die von 1793 bis 1877 in Nesje am Romsdalsfjord lebte und über 50 Jahre lang die erste staatlich bestellte Hebamme war. Ihr Leben beschreibt er in seinem Roman Die Hebamme.

Blick über den Romsdalsfjord Richtung Nesje. © B. Busch

 

Fjærland

In der letzten Verästelung des Sognefjords, am Fjærlandsfjord, liegt äußerst malerisch, langgestreckt am Wasser unterhalb des mächtigen Gletschers Jostedalsbreen, das kleine Dorf Fjærland, das sich selbst „bokbyen“ nennt und zu einem weltweiten Netz von Bücherdörfern gehört. Vier Kilometer Bücherregale gibt es hier in offenen Bücherschränken am Wegrand, dem Warteraum für die Fähre, Stallgebäuden, der ehemaligen Bank, dem Postamt und einem Lebensmittelladen, sorgsam geordnet nach Genres und präsentiert in einer unschlagbar  ruhigen, idyllischen Umgebung.

Bokbyen Fjærland. © B. & M. Busch

Ich habe dort für 100 Nkr gebraucht Felemakaren von Edvard Hoem erstanden und ein überaus freundliches Gespräch mit dem Antiquar über den Autor gratis dazubekommen. Der Roman erscheint im Herbst 2022 unter dem Titel Der Geigenbauer auf Deutsch, mal sehen, wie weit ich mit meinen Schwedischkenntnissen bis dahin beim norwegischen Original gekommen bin.

© B. Busch

Einen weiteren Hinweis zu Fjærland verdanke ich dem eingangs zitierten Buch von Alva Germann: Jostein Gaarder, der Autor so herausragender Bücher wie Sophies Welt, Das Orangenmädchen oder Genau richtig, hütete als Jugendlicher hier Schweine, war im neben der hübschen Kirche gelegenen Hotel Mundal „Junge für alles“ und kommt bis heute in dieses Dorf.


Bergenbahn

Fast schon ein Muss für Norwegentouristen ist die Fahrt mit der Flåmbahn, die von Flåm am  Aurlandsfjord ins 866 Meter hoch gelegene Myrdal führt, einem spektakulären Teil der Bergenbahn von Oslo nach Bergen. Am Bahnhof in Myrdal steigt man um und ich konnten einen kurzen Blick auf den Zug nach Bergen erhaschen.

Bahnhof Myrdal. © M. Busch

Von der Ingenieurskunst beim Bau der 526 Kilometer langen, rund 200 Tunnel, über 300 Brücken und extreme Gefällstrecken aufweisenden Bergenbahn erzählt der historische Roman Die Brückenbauer des Schweden Jan Guillou.


Stabkirchen

Mehr als 1000 Stabkirchen wurden während 200 Jahren gebaut, vorwiegend von der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Pest 1349. Nur 28 davon sind heute noch erhalten. Um das Schicksal einer Stabkirche geht es im historischen Roman Die Glocke im See von Lars Mytting und in den beiden Fortsetzungsbänden

Die Stabkirchen von Torpo, Udval, Kaupanger und Borgund. © B. & M. Busch

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Vieles hätte es in literarischer Hinsicht noch zu entdecken gegeben, was nun leider auf den nächsten Norwegen-Urlaub warten muss.

Wem die Literaturtipps hier noch nicht genügen, dem möchte ich das Sachbuch Einer von uns von Åsne Seierstad über das Breivik-Attentat und die neuere Geschichte Norwegens empfehlen, den Mehrteiler Die Unsichtbaren und Die Kinder von Barrøy von Roy Jacobsen sowie unbedingt die modernen Klassiker von Terjai Vesaas (1897 – 1970) Das Eis-Schloss und Die Vögel.

Marianna Kurtto: Tristania

  Leben auf dem Vulkan

Tristan da Cunha, die nur 98 Quadratkilometer große Insel im Atlantischen Ozean, gehört zum Britischen Überseegebiet und gilt als abgelegenste bewohnte Insel der Welt. Sie diente Edgar Allan Poe, Jules Vernes, Raoul Schrott oder Primo Levi als Romanschauplatz und 2017 auch der finnischen Romanautorin und Lyrikerin Marianna Kurtto für ihren Debütroman Tristania, mit dem sie 2019 für den renommierten Preis des Nordischen Rates nominiert war. Dreh- und Angelpunkt ist der reale Vulkanausbruch von 1961 mit der vorübergehenden Evakuierung. Im Roman bebt dabei nicht nur die Erde und es ergießt sich ein Lavastrom, es entsteht auch ein neuer Vulkan in der Flanke des alten und für die Protagonistinnen und Protagonisten bleibt nichts, wie es war.

© M. Busch

Einsam und doch nie allein
1961 leben die Inselbewohnerinnen und Inselbewohner von dem, was die karge Umgebung ermöglicht: Fischfang und Schafzucht. Daneben wird mit gelegentlich vorbeifahrenden Schiffen Tauschhandel betrieben, was im ansonsten ruhigen Alltag vorübergehende Hektik auslöst.

Während kaum Kontakt zur Außenwelt besteht, begibt sich der von Fernweh geplagte Fischer Lars zum Handel mit Fischerzubehör regelmäßig ins sechs Schiffswochen entfernte England und lässt seine stille Frau Lise und den neunjährigen Jon zurück. Als er sich in London in die Blumenverkäuferin Yvonne verliebt, zieht er mit ihr in ein Haus am weißen Strand. Doch quält ihn sein Gewissen und Tristan da Cunha, die Insel mit dem schwarzen Sand, „die ein Berg ist, zwei Kilometer hoch, ozeantief und von Schluchten gespalten“ (S. 12), lässt sich nicht so leicht abschütteln:

Sie ist Heimat, sie ist der einsamste Ort auf der Welt, und ich bin dort nie allein. (S. 37)

Allein mit ihrer Trauer um den Verlust bleiben die grüblerische Lise und Jon, Außenseiter und Leseratte dank väterlicher Mitbringsel.

Ein „morsches Liebeshaus“ auch bei den Nachbarn
Unglücklich ist auch das Nachbarspaar. Martha, 20 Jahre jünger als Lise und Insellehrerin, wollte mit der Familiengründung einem Trauma entkommen:

[…] und die bösen Träume werden tief in den Bauch des Vulkans rinnen. Dort werden sie verbrennen, sich an den Rändern ringeln wie alte Fotos, die niemand mehr anschauen will. (S. 52)

Als ihr Kinderwunsch unerfüllt bleibt, entfremden sich die Eheleute. Bert, der nichts über Marthas Vergangenheit weiß, steht ihrer Traurigkeit hilflos gegenüber und verfällt in Trägheit.

Und dann bricht der Vulkan aus…

Viele Puzzleteile werden zu einem Gesamtbild
16 der 17 Kapitel spielen im Jahr des Vulkanausbruchs 1961, je sechs in Tristan da Cunha und England, vier in Kapstadt und eines auf See. Dazwischen gibt es Rückblenden und einen mit „Später: 1965“ überschriebenen Schluss. Die Erzählperspektive wechselt zwischen dem „Ich“ von Lars und Jon sowie personal Erzähltem überwiegend von Lise und Martha.  Ähnlich ist allen jedoch der melancholische, poetische, überbordend bildhafte und einfach schöne Stil, sicher auch ein Verdienst des erfahrenen Übersetzers Stefan Moster. Die fehlende Unterscheidbarkeit der Stimmen könnte man kritisieren, für mich war es jedoch einfach der Inselton.

Wer ein packendes, zeitloses Drama um menschliche Verwicklungen in ungewöhnlicher Umgebung sucht, sich gerne überraschen lässt, Leerstellen, Anspielungen, falsche Fährten, absichtliche Verschleierung und unterschiedliche Zeitebenen nicht scheut, charakterliche Beurteilungen revidieren kann, eine starke, bildhafte Sprache und interessante Charaktere schätzt und Themen wie Fernweh, Heimatverbundenheit, zwischenmenschliche Konflikte, Eifersucht, Gewalt, Schuld, Reue und Neubeginn mag, für den ist Tristania eine ausgezeichnete Leseempfehlung.

Marianna Kurtto: Tristania. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. mare 2022
www.mare.de

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen

  Ein Roman wie ein Film

Das herausragende Cover mit einem Ausschnitt aus dem Gemälde Wolf des britischen Malers, Zeichners und Bildhauers Mark Adlington weckte mein Interesse für den Roman Ein Tag wird kommen. Der fließende Zeichenstil, der greifbare Charakter des Tieres und die authentisch eingefangene Bewegung sind nicht nur optisch ein Genuss, sondern passen auch wunderbar zu diesem zweiten Roman der Autorin, ihrem deutschsprachigen Debüt, obwohl ein echter Wolf nur eine Nebenrolle spielt.

Wahrheit und Lüge
Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte und ihrem der Anarchistenbewegung angehörenden Urgroßvater taucht die 1988 geborene italienische Autorin Giulia Caminito tief in die italienische Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg ein, beginnend mit einem spannungsgeladenen Prolog über 13 dramatische Kapitel bis zum friedvollen Epilog. Historische Tatsachen wie die Kämpfe der Bauern gegen das ungerechte System der Halbpacht, die anarchistische Bewegung, der Aufstand von 1914 in Ancona, bekannt als Settimana Rossa, der Erste Weltkrieg, die Vorboten des Faschismus, die Spanische Grippe, die Auflösung von Klöstern und die Auswanderungswelle nach Amerika sind gründlich recherchiert, trotzdem warnt die Autorin im Nachwort:

Trotz gründlicher Recherchen, der Sichtung von Dokumenten, der Besuche vor Ort, gibt es in diesem Roman nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen.
Ich möchte die Leserinnen und Leser also dazu ermuntern, nicht alles zu glauben und von diesen Seiten keine verlässliche historische Zeugenschaft zu erwarten […] (S. 264/265)

© B. Busch. Hintergrundfoto: © M. Busch

Ein politischer Dorf- und Familienroman
Der erste Haupthandlungsstrang erzählt vom Leben der vom Unglück verfolgten Bäckersfamilie Ceresa aus dem bitterarmen Bergdorf Serra de‘ Conti in den mittelitalienischen Marken. Ihre Kinder sterben bei oder kurz nach der Geburt, durch einen tragischen Unglücksfall oder Krankheit. 

Zuletzt bleiben nur die beiden Söhne Lupo, geboren 1897, und Nicola, geboren 1899, sowie die geheimnisvolle Tochter Nella, die seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr in striktester Klausur im örtlichen Klarissinnen-Kloster lebt. Hier spielt der zweite Haupthandlungsstrang, in dessen Mittelpunkt die ebenso strenge wie weise, empathische und vom Volk verehrte schwarze Äbtissin Suor Clara, genannt La Moretta, steht, eine historisch verbürgte italienische Ordensschwester sudanesischer Abstammung mit atemberaubender Lebensgeschichte.

Wolf und Schaf
Die Brüder Lupo und Nicola ähneln sich weder äußerlich noch im Charakter. Lupo, der Junge mit dem Wolfsnamen und einem Cane, Hund, genannten Wolf als Haustier, eigenwillig, grob und rau, eine Naturgewalt, ein Gotteslästerer und anarchistischer Rebell, bestimmt über Nicola, liebt und beschützt ihn, „ein stilles, fast durchsichtiges Kind“ (S. 10), schreckhaft, unfähig zu körperlicher Arbeit, vor dem jähzornigen Vater und der Priesterlaufbahn und sorgt mit seinem Verdienst für dessen Bildung.

Ein Lese-Highlight
Auch wenn die Struktur der Vor- und Rückblenden von Ein Tag wird kommen eine Herausforderung darstellt und sich nicht jede Szene spontan zeitlich einordnen lässt, hat mich das Buch sofort in Bann gezogen und schließlich verzaubert. Aus den erst allmählich stimmig zueinanderfindenden Handlungssträngen, den düsteren Familiengeheimnissen und vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund Italiens entwickelt Giulia Caminito in kraftvoller, überreich bebilderter Sprache eine ebenso mitreißende wie bewegende Geschichte und bezieht klar Position: gegen die Unterdrückung durch die Padroni und die autoritäre Kirchenführung und vor allem gegen die Lüge, sei es in der Familie, Kirche oder Politik.

Wer die erforderliche Konzentration und Ausdauer mitbringt, wird reich belohnt mit einem psychologisch fundierten Romangeschehen, das wie ein Film vor mir ablief.

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Wagenbach 2020
www.wagenbach.de

August Strindberg: Die Leute auf Hemsö

  Jeder für sich und Gott für uns alle

August Strindberg (1849 – 1912) ist unstrittig einer der wichtigsten schwedischen Autoren. Zu Lebzeiten angefeindet, gehören seine Romane, Novellen und Dramen heute zu den bedeutendsten Klassikern der schwedischen Literatur.

Einer seiner leicht zugänglichen Romane stammt aus dem Jahr 1887, als Strindberg für mehrere Jahre im Ausland lebte. Das schmale Buch erschien auf Deutsch als Die Inselbauern, Die Hemsöer oder Die Leute auf Hemsö und spielt um 1880 auf einer fiktiven Schäre im Stockholmer Schärengarten.

Mehr als ein gewöhnlicher Knecht
Nach Hemsö kommt an einem Apriltag „wie ein Schneewirbel“ (S. 5) der junge mittellose Värmländer Johannes Edvard Carlsson, der sich schon in so mancher Branche verdingt hat und nun als Knecht dem heruntergekommenen Hof der Witwe Anna Eva Flod neues Leben einhauchen soll. Von Beginn an signalisiert „die Alte“, die von ihrem Gesinde mit „Tante“ angesprochen wird, dass sie große Hoffnungen auf Carlsson setzt und in ihm mehr als den Knecht sieht:

Und das ist auch der Grund, Carlsson, weshalb ich Ihn herkommen ließ! Damit Er nach dem Rechten sieht! Und darum soll Er sich auch für’n bißchen mehr halten und ein Auge auf die Burschen haben. (S. 11)

Das wiederum spornt Carlssons Ehrgeiz an. Prompt sieht er sich als eine Art Inspektor, führt das große Wort, verlangt eine eigene Kammer und schaltet und waltet, fast wie er will.

Einziges Aufstiegshindernis ist der Sohn des Hofes, der nur zehn Jahre jüngere Gusten, der sich statt für die Hofarbeit nur für Fischfang und Jagd interessiert und dem seeunkundigen Neuzugang vom Festland misstrauisch-feindselig gegenübersteht.

© B. Busch. Hintergrund: Im Schärengarten vor Stockholm. © M. Busch

Als sich dank Carlsson Geschick, Fleiß und Erfindungsreichtum Erfolge einstellen und seine nach zweijähriger Witwenschaft von Fleischeslust gepeinigte Arbeitgeberin ihm immer deutlichere Avancen macht, scheint sein Weg nach oben frei:

Und fängt Er’s klug an, sitzt Er bald auf eigenem Hof; früher als Er glaubt. (S. 60)

August Strindberg im Porträt von Edvard Munch 1896. Munch Museum Oslo. © B. Busch

Ein Klassiker, der Spaß macht
Ich hatte zunächst Respekt vor der Lektüre eines Strindberg-Romans, ganz zu Unrecht, denn der Roman lässt sich sehr gut lesen. Zwar sind die männlichen Charaktere und ihre Beweggründe durchweg stärker beschrieben als die weiblichen, trotzdem hinterlassen alle einen bleibenden Eindruck. Die alte Sprache mit der Anrede „Er“ ist nur kurz ungewohnt, passt aber vorzüglich in die Dialoge, die mir neben der malerischen Beschreibung von Landschaft, Menschen und Gebräuchen und dem immer wieder durchscheinenden Humor am meisten Spaß beim Lesen gemacht haben. Es wird getrickst, betrogen und für den eigenen Vorteil gelogen und Pastor Nordström, die stärkste Nebenfigur, längst mehr Fischer und Bauer als Kirchenmann, setzt überlange Gottesdienste als Strafe für seine ungehorsamen Schäfchen ein und trinkt so hemmungslos, dass er nicht mehr ins richtige Bett findet. Aber egal, was die Menschen unternehmen und planen, am Ende hat die Natur das letzte Wort und entscheidet über Wohl und Weh. Dann heißt es:

Jeder für sich und Gott für uns alle. (S. 181)

Die Leute auf Hemsö ist 135 Jahre nach seinem Erscheinen alles andere ein verstaubter Klassiker und daher auch heute noch empfehlenswert.

August Strindberg: Die Leute auf Hemsö. Übersetzt von Hans-Jürgen Hube. Mit 15 Illustrationen von Harald Metzkes. Winkler 1984

 

Rezensionen zu weiteren Schären-Romanen auf diesem Blog:

           

Isabel Allende: Violeta

  Ein Leben wie ein Roman

Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist Zeit, sich zu erinnern. (S. 391/392)

 

 

Nachdem sie länger gelebt hat, „als die Würde es gebietet“ (S. 387), schreibt Violeta del Valle einen Bericht, um vor ihrem geliebten Enkel Camilo Zeugnis abzulegen:

Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman. (S. 7)

In den vier ähnlich umfangreichen Teilen „Die Verbannung 1920 – 1940“, „Leidenschaft 1940 – 1960“, „Die Abwesenden 1960 – 1983“ und „Wiedergeburt 1983 – 2020“ verbindet Violeta ihre Biografie mit der Geschichte eines Jahrhunderts in Südamerika, das eine nicht weniger dramatisch als das andere. Zwei Pandemien rahmen ihr Leben ein: die Spanische Grippe und die Corona-Epidemie.

Ein turbulentes Leben in dramatischen Zeiten
Während eines Sturms kommt Violeta 1920 in Chile zur Welt. Ihre wohlhabende Oberschichtfamilie büßt in der Weltwirtschaftskrise ihr Vermögen ein, nach dem tragischen Verlust des Vaters zerfällt die Familie und Violeta erlebt die Verbannung nach Patagonien, wo sie trotz der widrigen Umstände glücklich heranwächst. Leidenschaften und Sexualität prägen sie bis ins hohe Alter, vier grundverschiedene Männer begleiten sie durch ein Leben voller persönlicher und gesellschaftlicher Turbulenzen. Erst spät erkennt Violeta, die wie in ihren Kreisen üblich stets die Konservativen wählte, die Verbrechen der Junta, als sie die Leiche ihres treuen Familienbediensteten Torito anhand eines Kreuzes identifiziert:

Ich weiß noch, wie ich mit vierundsechzig drauf und dran war, mich dem Altwerden zu überlassen, und wie Toritos Kreuz mich damals zwang, den Kurs zu ändern und ein neues Leben zu beginnen, wie es mir ein Ziel schenkte, eine Möglichkeit, nützlich zu sein, und eine wundervolle Freiheit der Seele. (S. 387)

Die Mutter als Vorbild
Die Inspiration zu Violeta verdankt die 1942 geborene Isabel Allende ihrer kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie verstorbenen Mutter. Wie die Titelfigur des Romans war sie schön, klug, freiheitsliebend und leidenschaftlich, allerdings erreichte sie nie deren wirtschaftliche Unabhängigkeit. Vorbild für Violetas Tochter Nieves, nach der sie im hohen Alter ihre Stiftung für Opfer häuslicher Gewalt benannte, war Allendes drogensüchtige Stieftochter, und viele Anekdoten über Violetas rebellischen Sohn Juan Martín und ihren noch aufmüpfigeren Enkel sind von ihrem eigenen Sohn inspiriert.

© B. Busch

Eine Vielschreiberin
Keine Autorin und kein Autor nimmt mit seinem Werk so viel Platz in meinem Bücherregal ein wie Isabel Allende, obwohl sie nie wieder die überragende Qualität ihres Debüts Das Geisterhaus von 1982 erreichte. Nichtsdestotrotz ist sie nach wie vor die weltweit erfolgreichste spanischsprachige Stimme und auch ihre leichteren Romane habe ich immer wieder gern gelesen, egal, ob sie im Plauderton aus ihrem Leben erzählte oder fiktive Stoffe behandelte. Neben leidenschaftlichen Charakteren sind es besonders die politischen Themen, die mich interessieren, die sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas, die chilenische Militärdiktatur, der Feminismus und gesellschaftliche Fragen.

Ich bin Violeta gerne durch ihr Leben vom ungezogenen Kind bis zur altersweisen Großmutter gefolgt. Statt magischen Realismus gibt es einen starken Frauencharakter mit einem unsentimentalen, selbstkritischen, teilweise humorvollen Blick auf ein Leben, das tatsächlich mehr als genug Stoff für einen unterhaltsamen, bisweilen allerdings durch die Vielzahl der Themen eher oberflächlichen Roman bietet.

Isabel Allende: Violeta. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp 2022
www.suhrkamp.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Isabel Allende auf diesem Blog:

           

Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren

  Alte und neue Geister

In ein namenloses russisches Dorf an einem namenlosen Fluss dringen 1918 Neuigkeiten von außen nur spärlich. Weder weiß man vom Ende des Ersten Weltkriegs, noch ist die Kunde von der Oktoberrevolution angekommen. Doch bleibt auch hier die Zeit nicht stehen: Ilja, der weißbärtige, verrunzelte, halb blinde Dorfälteste, hat ein Röhrchen aus dem Fluss gefischt, dessen Quecksilbersäule ihm bei der Wetterprognose hilft. Seither zerfällt die Bewohnerschaft in zwei Teile: Die Iljianer vertrauen auf das Neue, die Pjotrianer auf den zweitältesten Pjotr, der lieber den Fluss und seine Geister befragt:

Das Röhrchen. Das kann einfach nicht gutgehen auf die Dauer. […] Nicht umsonst sagt man: Wo man den Geistern die Tür weist, da gehen sie nicht mehr hinein. (S. 20)

Inna Nikolajewna, Iljas Frau, misstraut den Röhrchenweisheiten ihres Mannes ebenfalls und hängt mehr ihrer ersten Liebe Pjotr und dem Aberglauben an. Als ihr ein Messer aus der Hand fällt, weiß sie es zu deuten:

Man weiß ja, was man so sagt: Fällt ein Messer herunter, kommt ein Mann ins Haus. Fällt ein Löffel, kommt eine Frau. Und fällt eine Gabel, kommt auch eine Frau, weil Löffel und Gabel feminin, Messer dagegen maskulin sind, jedenfalls an diesem Ufer des Flusses. (S. 16)

Bald kommt ein junger Mann barfuß und in schmutzig-schäbiger Uniform ins Dorf, aus dem sonst alle jungen Männer verschwunden sind. Sie lädt ihn ein in ihr altes Haus mit der niedrigen Decke, den kleinen Fenstern und dem leicht muffigen Geruch und er bleibt, genau beobachtet von der pfiffigen Annuschka, Enkelin von Inna und Ilja. Mit Wadik, wie er vielleicht heißt, kommen erstmals „Ideen“ ins Dorf und er veranlasst, dass die alte vertraute Ikone aus ihrer Ecke verbannt wird. Sogar Ilja taut auf, als er Wadiks Interesse für sein Röhrchen spürt:

Dieses hier, dieses Stück Glas und Quecksilber ist der Fortschritt, dem man dienen muss, weil er nicht aufzuhalten ist. (S. 65)

© B. Busch

Es bleibt nicht bei diesem einen Neuzugang und auch nicht bei der Zahl der unbegrabenen Toten, die Annuschka, die sich bald erwachsen Anna nennt, bei ihrer „Dorfinventur“ aufzählt. Während Pjotr wie vom Erdboden verschluckt ist, kommen die „Realitäten“ der Revolution, die Mitja-Realität und die Kostja-Realität, ins Dorf, hungrig und ebenso fordernd wie zuvor der ferne Gutsbesitzer und sein Gehilfe mit den sauberen Nägeln…

Einzigartiger Erzählstil
Die 1988 in Moskau geborene Yulia Marfutova, die in Deutschland Germanistik und Geschichte studierte und inzwischen in Boston lebt, war mit ihrem auf Deutsch verfassten Debüt 2021 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Herausstechend ist die lebendige, spielerisch-poetische Sprache mit Anklängen an die russische Märchentradition. Die Personen sind mehr Typen als Figuren aus Fleisch und Blut: die Abergläubigen und die Fortschrittsgläubigen, die Verrückte, die junge Unschuld, der Steuereintreiber, der Kriegstraumatisierte, die Schwätzer und die Schweiger.

Diese absolut originelle Erzählstimme mit den Abschweifungen, Wiederholungen und Andeutungen ist es, die mir im Gedächtnis bleiben wird, noch mehr als die hohe Konzentration erfordernde, wie das Cover leicht verschwommene Handlung in einem russischen Provinzdorf an der Schwelle zur Neuzeit.

Yulia Marfutova: Der Himmel vor hundert Jahren. Rowohlt 2021
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezensionen zu einem Roman auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021:

  

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway

  Gedanken- und Gefühlswelten

 

 

In ihrem erhellenden Nachwort zur hübschen, handlich-kleinen Manesse-Ausgabe mit zahlreichen Fußnoten von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway in einer Neuübersetzung von Melanie Walz stellt die Autorin Vea Kaiser das Revolutionäre dieses 1925 erstmals veröffentlichten Klassikers der modernen Literatur heraus:

Mrs. Dalloway wurde nach seinem Erscheinen zu einem für die damalige Zeit großen Erfolg und begründete Woolfs Weltruhm. […] Nicht nur aufgrund seiner bahnbrechenden, neuen Erzählweise, die bis in die zeitgenössische Literatur hineinwirkt, lohnt sich das Lesen und Wiederlesen des Romans heute, sondern vor allem aufgrund seines Interesses am Innenleben von Menschen, die nach außen hin ganz anders wirken. (S. 388/389)

Big Ben schlägt den Takt
Der Roman spielt an einem einzigen Tag in London, den wie immer die Glockenschläge von Big Ben unterteilen. Im Laufe dieses Werktags im Juni 1923, an dessen Beginn Mrs. Clarissa Dalloway, Anfang 50, Mitglied der Upperclass mit einem Haus in Westminister, Blumen einkauft und an dessen Ende sie eine Party gibt, lernen wir zahlreiche Personen kennen. Teils enger, teils nur durch eine zufällige Begegnung miteinander verbunden, sind sie fast alle physisch oder als Gesprächsstoff bei der Abendgesellschaft präsent.

© B. Busch. – „Mrs. Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen.“ (1. Satz, S. 5).

Da ist Clarissas Gatte Richard Dalloway, konservativer Parlamentsabgeordneter, der es nie ins Kabinett geschafft hat, die 17-jähige Tochter Elizabeth mit ihrer von Mrs. Dalloway für ihre Armut, Bildung und das enge Verhältnis zu ihrem Kind gehasste Lehrerin Miss Kilman, Clarissas verflossene Jugendliebe Peter Walsh, der nie reüssierte und ihr nachtrauert (so wie sie ihm manchmal auch), ihre Cousine und erste Liebe Sally Seaton, mit der sie linksliberales Gedankengut teilte, bevor beide konservative Ehemänner heirateten, verschiedene Bedienstete und einige andere mehr. Die mit Abstand für mich interessanteste Figur ist der ehemalige Soldat Septimus Warren Smith, der schwer kriegstraumatisiert dahinvegetiert. Dass weder seine italienische Frau Lucrezia noch seine Ärzte Art und Schwere seines Leidens einschätzen können, wird ihm zum Verhängnis.

Nicht so fesselnd wie erhofft
Ich habe Mrs. Dalloway mit lang gehegten, großen Erwartungen und viel Vorfreude begonnen, doch leider wich dieses Gefühl rasch der Ernüchterung. Schuld daran war nicht die manchmal beklagte Handlungsarmut, sondern der Umstand, dass mir die Figuren, allen voran Mrs. Dalloway, nicht nur unsympathisch waren, was Romanfiguren durchaus sein dürfen, sondern schlichtweg egal. Die Überheblichkeit, Oberflächlichkeit und Eitelkeit der Upperclass mit ihren Luxus-Problemchen und der Banalität ihrer ausschließlich um sich selbst kreisenden Gedanken vermochten mich nicht zu fesseln, ja, langweilten mich sogar über weite Strecken. „Rasant“, wie Vea Kaiser schreibt, erschien mir der Roman daher keineswegs. Einzige Ausnahme war das Schicksal des traumatisierten Septimus, dessen Visionen und hilfloses Ringen Virginia Woolf überragend nachvollzieht.

Lesenswert machen den Roman neben Septimus‘ Schicksal der Aufbau mit dem den Takt schlagenden Big Ben, die beständigen, volle Konzentration fordernden Perspektivsprünge, die Wechsel zwischen Dialogen und inneren Monologen, dem sogenannten „Bewusstseinsstrom“, die Themenvielfalt und die kunstvolle Verknüpfung der Einzelschicksale mit mehr oder weniger dicken Fäden.

Ohne Zweifel ist Mrs. Dalloway ein Meilenstein der modernen Literaturgeschichte, den es zu würdigen gilt, ein Lesevergnügen war es für mich jedoch nur teilweise.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. Nachwort von Vea Kaiser. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de/Verlag/Manesse

Matthias Jügler: Raubfischen

  Abschied

Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in anderen Bahnen verläuft als erhofft. (Matthias Jügler: Die Verlassenen. Penguin 2021, S. 27)

Dieses Zitat aus dem zweiten Roman von Matthias Jügler, Die Verlassenen, passt ebenso gut zu Raubfischen, seinem Debüt aus dem Jahr 2015. Es trifft auf den Ich-Erzähler Daniel und seine Familie zu, als er an seinem 16. Geburtstag von der Diagnose seines Großvaters Hannes erfährt: ALS, eine schwere, unheilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems, bei der die Patienten schubweise die Kontrolle über ihren Körper verlieren und nach wenigen Jahren versterben.

An diesem Tag beginnen wir mit den Lügen. Keine Angst. Es wird wieder gut werden. (S. 15)

Eine besondere Großvater-Enkel-Beziehung
Schon bevor die Merseburger Großeltern 1993 eine Hütte in der schwedischen Provinz Västergötland unweit von Gislaved am Tostaholmen kauften, nahm der Großvater den kleinen Daniel zum Angeln mit, eine Leidenschaft, die die beiden bald verband. Es folgten gemeinsame Angelurlaube in Schweden, jäh unterbrochen, als Daniel das strikte, für ihn unverständliche Redeverbot mit den Nachbarn Åke Mortensson und seinem Sohn Henrik brach:

Ich müsste Erklärungen einfordern. Der Tag auf dem Eis. Das Redeverbot, das ich seitdem strikt befolge. Warum soll ich mit niemandem hier mehr reden? (S. 23)

Die besondere Verbindung zwischen Großvater und Enkel scheint zerstört – bis zu jenem 16. Geburtstag. Doch nun tritt etwas Neues in die Beziehung, heimliches Beobachten, die Suche nach Krankheitszeichen, Sanftheit, kostbare Tage, Hoffnung, Angst, schließlich Ernüchterung:

Ich habe das Vertrauen verloren. Das Vertrauen darin, dass er dieser Krankheit die kalte Schulter zeigt. (S. 68)

Aufgeben aber will und kann Daniel nicht. Während die Ehe seiner Eltern über der Krankheit zerbricht, möchte er den letzten Wunsch seines Großvaters erfüllen:

Als er noch mit dem Stift schreiben konnte, und später, als er auf dem Sprachcomputer schrieb, gab er mir zu verstehen, was er wollte: Nach Schweden fahren. (S. 119)

© B. Busch

Ein Autor mit eigenem Ton
2021 habe ich Die Verlassenen von Matthias Jügler eher zufällig, aber mit umso mehr Begeisterung gelesen, und war deshalb sehr gespannt auf sein sechs Jahr zuvor erschienenes Debüt. Zu meiner großen Freude kam mir der Ton des Buches sofort vertraut vor. Die klare Sprache, die kurzen, auf das Notwendigste reduzierten Sätze, die skandinavisch anmutende Melancholie, die Andeutungen mit dem Spielraum für Fantasie und die überaus kunstvolle Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit sind auch hier vorzüglich gelungen. Man muss kein Angelenthusiast oder Spezialist für Hechte, Barsche, Karauschen und Plötzen sein, um diese bewegende, so ruhig und sensibel erzählte Geschichte mit der besonderen Großvater-Enkel-Verbundenheit, der traurigen Krankheitschronologie, dem Geheimnis um ein altes Zerwürfnis und der Liebe zu einem schwedischen See großartig zu finden.

Bei aller Trauer über den bevorstehenden Abschied stimmt der Blick in die Zukunft auch hoffnungsvoll:

Henrik sagt etwas. […] dass er glaube, wir zwei, wir könnten später, wenn mir die Hütte tatsächlich mal gehöre, gute Nachbarn werden. »Ja«, rufe ich, «ja, warum nicht.« (S. 203)

Matthias Jügler: Raubfischen. Blumenbar 2015
www.aufbau-verlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Matthias Jügler auf diesem Blog: