Stephen Crane: Die rote Tapferkeitsmedaille

  Perspektivwechsel

Stephen Crane (1871 – 1900), früh an Tuberkulose verstorbener Sohn eines Methodistenpredigers und keinem Skandal abgeneigt, erlangte in Deutschland nie gleiche Bekanntheit wie im angelsächsischen Raum. Dabei wurde sein bekanntestes Werk aus dem Jahr 1895, das bis heute Pflichtlektüre in US-Schulen und -Universitäten ist, The Red Badge of Courage, mehrfach unter verschiedenen Titeln ins Deutsche übersetzt. Er beeinflusste Erich Maria Remarque und Ernest Hemingway wie H. G. Wells waren von seiner großen Bedeutung überzeugt.

Pulverdampf und Kanonendonner
Während des amerikanischen Bürgerkrieg meldet sich der einzelgängerische Schüler und Bauernsohn Henry Fleming freiwillig zur Unionistenarmee und kommt zum 304. Regiment. Die Geduld der „Frischlinge“ wird auf eine harte Probe gestellt, im Lager herrscht Monotonie und Henry versinkt in Grübeleien:

Wusste er wirklich mit hundertprozentiger Sicherheit, dass er im Zweifelsfall nicht türmen würde? (S. 21)

Er schwankt zwischen Extremen, ist zerrissen zwischen Stolz, Zweifeln, Verzweiflung, Euphorie, Wut auf die Vorgesetzten, Weltschmerz, Heimweh, Neugier und Sehnsucht:

Der Krieg, hatte der Junge einmal gelernt, mache aus jedermann einen echten Mann. Er hatte darin immer seine Rettung gesehen und all seine Hoffnungen auf die entscheidende Schlacht gesetzt. (S. 49)

Doch kaum kommt es zur Feindberührung, ergreift Henry panisch die Flucht. Seine Verwundung, die „rote Medaille der Tapferkeit“, zieht er sich ironischerweise bei der Auseinandersetzung mit einem anderen Flüchtenden zu. Zwar bleiben ihm Strafe und Hohn erspart, doch leidet sein Selbstbewusstsein:

Die moralische Rechtfertigung lag dem Jungen sehr am Herzen. Ein Freispruch musste her, weil er sonst nicht in der Lage sein würde, mit der abstoßenden Medaille der Feigheit durchs Leben zu gehen. Da ihn sein Herz immer wieder der Feigheit beschuldigte, mussten wohl oder übel seine Taten das Gegenteil beweisen. (S. 119/120)

Scham und die erlauschte Verachtung der Vorgesetzten für seinen Truppenteil werden für Henry zum Wendepunkt.

Ein Blick aus der Distanz
Erst der nachgestellten Erzählung Der Veteran kann man das Geschehen historisch verorten. Dies genauso wie ihr Ausgang sind für Stephen Crane nicht von Bedeutung, liegt sein Fokus doch ausschließlich auf den Befindlichkeiten des nicht immer sympathischen personalen Erzählers. Der macht im Alter keinen Hehl mehr aus seiner anfänglichen Flucht und erschüttert damit nachhaltig den Heldenglauben seines Enkels.

© B. Busch

„Roman plus“
Die Neuübersetzung von Stephen Cranes bekanntestem Roman durch Bernd Gockel unter dem Titel Die rote Tapferkeitsmedaille im Pendragon Verlag wird hervorragend ergänzt durch die Erzählung Der Veteran sowie ein kurzes interpretierendes Nachwort von Thomas F. Schneider und ein 68 Seiten umfassendes Porträt Cranes von Rüdiger Barth. Diese Beigaben waren äußerst hilfreich für mich, denn den metaphern-, farb- und teilweise pathosgesättigten Klassiker, der nahezu komplett auf dem Schlachtfeld spielt, las ich dadurch zwar nicht mit Genuss, aber doch mit spürbarem Gewinn. Erst mit Hilfe dieser Ergänzungen verstand ich das revolutionär Neue am Schreiben Cranes, der bis dato weder den amerikanischen Bürgerkrieg noch eine andere Schlacht je erlebt hatte: die konsequente Darstellung des Krieges aus der Sicht eines einfachen Rekruten, Achterbahnfahrt der Gefühle anstatt Kriegstaktik, aber leider keine grundsätzliche Infragestellung von Kriegen.

Stephen Crane: Die rote Tapferkeitsmedaille. Übersetzt von Bernd Gockel mit einem Nachwort von Thomas Schneider und einem Crane-Porträt von Rüdiger Barth. Pendragon 2019
www.pendragon.de

 

Rezension zu einem biografischen Roman mit Stephen Crane auf diesem Blog:

Andreas Kollender: Mr. Crane

  Zwei Wochen in Badenweiler

Was äußerlich zunächst einen Künstlerroman oder eine Biografie über den in Deutschland bisher wenig bekannten US-amerikanischen Journalisten, Kriegsberichterstatter und Autor Stephen Crane (1871 – 1900) vermuten lässt, entpuppt sich bei der Lektüre als virtuos komponierter Roman, in dessen Mittelpunkt eine junge Krankenschwester steht. Trotzdem sind Titel und Foto gut gewählt, denn Mr. Crane verändert auf denkbar intensive Weise das Leben von Elisabeth T. Camphausen, zunächst bei seinem achttägigen Aufenthalt als schwerkranker Tuberkulosepatient im Sanatorium „Villa Eberhard“ in Badenweiler im Schwarzwald und 14 Jahre später indirekt erneut, als der junge Leutnant Bernhard Fischer ebenfalls acht Tage dort verbringt.

28. Mai bis 4. Juni 1900
Bei Cranes Ankunft wird die 25-jährige Elisabeth ihm wegen ihrer Englischkenntnisse als Pflegerin zugeteilt. Sie kennt seine Bücher, sein wichtigstes Werk The Red Badge of Courage, über den Amerikanischen Bürgerkrieg aus der Sicht eines einfachen Soldaten, aber vor allem The Monster über einen Mann, dessen Gesicht durch ein Feuer entstellt wurde, genau wie ihres. Weder ihre Eltern, noch ihr Mann oder ihre Kollegen haben ihre vernarbte linke Gesichtshälfte je thematisiert oder berührt. Anders Crane:

„Es gibt viele gesichtslose Menschen, Schwester Elisabeth“ röchelt er. „Aber Sie, ich bitte Sie, Ihre Narben sind doch gar nicht so schlimm. Sie sind schön, Schwester.“ (S. 92)

Crane, von Todesängsten gepeinigt, erzählt Elisabeth im Fieberwahn Bruchstücke seiner Biografie und hört ihr zu. Sofort fühlt sie sich von dem nur wenig älteren, unsteten und weitgereisten Schriftsteller magisch angezogen und verfällt ihm. Für die temperamentvolle, im Herzen rebellische Frau ist er nicht nur „meine erste wirkliche Liebe“ (S. 192), sondern Symbol eines freieren Lebens.

25.September bis 2. Oktober 1914
14 Jahre später belegt der erste Kriegsverwundete, Bernhard Fischer, Cranes ehemaliges Zimmer. Er spricht nicht, hat jedoch ein Buch Cranes im Gepäck. Schlagartig wird Elisabeth ins Jahr 1900 zurückkatapultiert. „Ihren“ Mr. Crane konnte sie damals nicht retten, kann sie nun Fischer vor einer Rückkehr an die Front bewahren? Und ihrem Leben eine neue Richtung geben?

Als Mr. Crane verschwand, war der Zeitpunkt gekommen, an dem auch sie hätte gehen müssen. Aber Elisabeth rettete sich in die Villa. In die Ehe zu einem Mann, der kein Wort über ihre Narben sagte und sehr, sehr freundlich war. Sie suchte Zuflucht in der Enge des Kaiserreiches und ihrer Privilegiertheit als Arzttochter und der gleichzeitigen Chancenlosigkeit als Frau. (S. 97)

© B. Busch

Äußerst geschickt vernetzte Geschichten
Andreas Kollender
verknüpft in seinem Roman zwei abwechselnd erzählte, fiktive Geschehnisse meisterhaft mit unscharfen biografischen Mosaiksteinen Cranes. Die Figuren sind lebendig, vieldimensional und voller Widersprüche, so dass ich beständig zwischen Sympathie und Abstoßung, Mitleid und Unverständnis schwankte und immer wieder überrascht wurde. Die Details der obsessiven Beziehung zwischen Elisabeth und Crane sind sicher Geschmacksache und sprachen mich wenig an. Auch über die körperlichen Höhenflüge Cranes und die Sorglosigkeit einer Krankenschwester angesichts eines infektiösen Patienten war ich verwundert, aber dies alles zeigt doch den überbordenden Lebenshunger der Protagonisten.

Die sehr anregende Lektüre lohnte in jedem Fall: als erste Begegnung mit dem mir bislang unbekannten amerikanischen Schriftsteller, Porträt einer unangepassten jungen Frau, Plädoyer gegen Kriegsgräuel und Ansporn zum Widerstand vermeintlich Machtloser. Nun bin ich gespannt auf die Neuübersetzung von Stephen Cranes erfolgreichstem Roman Die rote Tapferkeitsmedaille in ebenso hochwertiger Aufmachung und gleichfalls aus dem Pendragon Verlag, der zur Lektüre bereitliegt.

Andreas Kollender: Mr. Crane. Pendragon 2020
www.pendragon.de

Meine Lese-Highlights 2020

Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden. (Ludwig Feuerbach)

© B. Busch

Meine liebsten Bücher 2020 sind nicht alle in diesem Jahr erschienen, sie haben mich aber im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt und sind zu Freunden geworden. Mein Kriterium ist dabei weder, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, noch die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Titeln, die für mich im genau richtigen Augenblick kamen.

Von links oben nach rechts unten:

Paul Maar: Wie alles kam. S. Fischer 2020
Thomas Hettche: Herzfaden. Kiepenheuer & Witsch 2020
Michael Crummey: Die Unschuldigen. Eichborn 2020
Isabelle Autissier: Klara vergessen. Mare 2020
Anne von Canal: Mein Gotland. mare 2020
Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt. Arche 2020
Monika Helfer: Die Bagage. Hanser 2020
Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Guggolz 2019
Amanda Sthers: Lettre d’amour sans le dire. Grasset 2020
Charles Lewinsky: Der Halbbart. Diogenes 2020
Jens Rassmus: Juhu, LetzteR. G&G Nilpferd 2020
Sorj Chalandon: Am Tag davor. dtv 2019

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften

  Familiensaga aus dem Bayerischen Wald

Ein Verbrechen und eine Lüge stehen im Mittelpunkt von Christoph Nußbaumeders 670 Seiten umfassendem Debütroman Die Unverhofften, der auf seinem 2010 in Bochum uraufgeführten Drama Eisenstein basiert. 120 Jahre – von 1899 bis 2019 – folgt er dem Schicksal zweier Familien und zeichnet persönliche Schicksale vor dem Hintergrund großer politischer und wirtschaftlicher Umbrüche.

Geografisches Zentrum der Geschichte ist die real existierende niederbayerische Gemeinde Eisenstein am Großen Arber nahe der deutsch-tschechischen Grenze. Wer nicht sein Leben lang hier bleibt, kehrt doch meist spätestens zu seinem Begräbnis zurück.

Das Verbrechen…
1899 ereignet sich in Eisenstein ein Verbrechen, das vier Generationen der Familien Hufnagel und Schatzschneider prägen wird: der „Glasfürst“ Siegmund Hufnagel, Erbe der Glasherrendynastie, vergewaltigt das Stubenmädchen Maria kurz vor ihrer geplanten Auswanderung nach Amerika. Voller Rachgier und Hass auf den Fabrikanten und die verräterischen Dörfler legt die junge Frau am 26.08.1900 das Glasimperium in Schutt und Asche und flieht. Doch anstatt zum Untergang wird die Brandstiftung für die Hufnagels zum Grundstein noch viel größeren Reichtums, denn mit der Versicherungssumme wird die sterbende Glasfabrikation durch ein zukunftsträchtiges Sägewerk ersetzt. Die Glasdynastie wird zur Holzdynastie.

… und die Lüge
1945 kommt die junge Erna Schatzschneider, Tochter Marias und Kriegsflüchtling aus Böhmen, nach Eisenstein. Aus Not schiebt sie ihren im Februar 1946 geborenen Sohn Georg dem amtierenden Chef der Holzfabrik, Josef Hufnagel, unter, was für Georg und Josefs nur zehn Wochen später geborene eheliche Tochter Gerlinde zum lebenslangen Verhängnis wird. Ernas Schweigen und Josefs Unwissenheit stellen die Weichen nicht nur für Georgs und Gerlindes Leben, sie sind Katalysator für berufliche Karriere und märchenhaften Aufstieg ebenso wie für wirtschaftlichen Abstieg, scheiternde Partnerschaften, gestörte Eltern-Kind-Beziehungen und Vereinsamung.

So viele Themen
Christoph Nußbaumeder verfolgt akribisch die Lebenswege unzähliger Figuren und verknüpft sie so konsequent, dass am Ende kein Faden lose bleibt. Allerdings sind nicht wenige Wendungen vorhersehbar und die Dramatik wird unnötigerweise durch einsetzende Gewitter oder klingelnde Telefone gesteigert. Wegen des fast durchgängig chronologischen Aufbaus in sieben Büchern („1899 bis 1900“, „1945 bis 1949“, 1964 bis 1966“, 1973 bis 1975“, „1982 bis 1984“, 1990 bis 1994“ und „2009, 2019, 1900“) – lediglich die letzten Seiten blicken noch einmal zurück auf Marias Leben nach ihrer Flucht – folgt man der Handlung fast zu leicht. Geschickt sind die Schicksale in die gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Meilensteine der deutschen Geschichte verwoben, seien es die Anfänge der Gewerkschaften, nationalsozialistische Verbrechen, Vertriebenentragödie, Aufarbeitung der Nazidiktatur, Wiederaufbau, Rassismus, Studentenbewegung oder Terrorismus bis zu den Veränderungen in der Wirtschaft hin vom persönlichen Unternehmertum zum gesichtslosen Investorentum, Globalisierung und Hartz IV.

Hören und sehen
Das leicht gekürzte Hörbuch mit angenehm kurzen Tracks und einer Laufzeit von 1239 Minuten, gelesen von einem souveränen Thomas Loibl und einer etwas zu pathetisch klingenden, in wütenden Szenen brilliernden Wiebke Puls, ist unterhaltsam und leicht zu erfassen. Zwischendurch habe ich mit der Vorhersehbarkeit, Zufällen und schwer nachvollziehbaren charakterlichen Kehrtwendungen gehadert, manchmal gar gefürchtet, dass der Schmöker zur Schmonzette wird, und hätte mir mehr bayerische Urigkeit gewünscht. Aber als die Geschichte am Ende zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrte, konnte ich darüber hinwegsehen, denn im älteren Teil bis in die 1960er-Jahre liegt für mich die Stärke des Romans.

Durch die beim Zuhören entstehenden Bilder erschien mir der Roman wie das Drehbuch zu einem Film. Ich wäre deshalb nicht erstaunt, wenn Die Unverhofften bald im Kino oder Fernsehen zu sehen wären.

Christoph Nußbaumeder: Die Unverhofften. Gelesen von Thomas Loibl und Wiebke Puls. Der Hörverlag 2020
www.randomhouse.de

Anne von Canal: Mein Gotland

  Mit leichtem Gepäck

Als ich 2017 mit großer Freude den Roman Whiteout von Anne von Canal las, ahnte ich nichts von unserer gemeinsamen Leidenschaft: Gotland. Eine Begegnung dort war bisher ausgeschlossen, denn was für uns die Sommerinsel ist, ist für Anne von Canal ihr Winterparadies. Während wir kommen, wenn die Ostsee ein „freundliches“, „sommerliches“ Meer ist, in dem wir auf unseren ausgedehnten Radtouren gerne an menschenleeren Stellen baden, kennt die Autorin sie als „rauen“, „faltigen“ und „gewaltigen“ Gesellen, der bisweilen den Fährbetrieb unterbindet und die Insel komplett abschneidet.

Gotlands Fahne. © M. Busch

Was wir jedoch beide gleichermaßen lieben, sind der „Trost in dieser alten Landschaft“ und das „natürliche Einsamkeitsvorkommen“, das es, liebe Anne von Canal, auch im Sommer gibt, wenn man nicht gerade durch die mittelalterlichen Gassen von Visby schlendert. Unzählige Sätze in diesem wunderbaren Buch kann ich bedenkenlos unterschreiben, aber einer trifft ganz besonders gut auf mich zu:

Nach Gotland reise ich mit leichtem Gepäck. (S. 32)

© B. Busch

Wer Gotland liebt wie ich, geht nicht furchtlos an ein Buch über diesen Sehnsuchtsort. Wird die Insel so beschrieben, wie man sie kennt? Können andere Reisende die Seele, die man diesem Herzensplatz zuschreibt, überhaupt spüren? Die richtigen Worte für das Unsagbare finden? Entspannung schon nach wenigen Sätzen: Anne von Canal ist eine Meisterin ihres Fachs. In zehn Kapiteln über Menschen, Natur, Orte und Ereignisse erzählt sie nicht nur Geschichten über Gotland, sondern lässt uns den Wind um die Nase wehen, die Gischt spritzen, das Eis knacken und die Stille hören und kommt sich dabei selbst näher:

 

Kommen wir am Ende gar nicht des Ortes wegen, sondern nur, um uns selbst zu finden? (S. 58)

Da ist beispielsweise die Bugspitze eines deutschen Frachtschiffs, die in Norsholmen an der Nordspitze Fårös aus dem Meer ragt, die „Villa Villekulla“, Außendrehort der Pippi-Langstrumpf-Filme und heute im Vergnügungspark Kneippbyn aufgebaut, das Haus Ingmar Bergmans auf Få, der Kultort Kutens Bensin, Mischung zwischen Schrottplatz, Museum und Musikkneipe, das Lager Lingen in Havdhem, in dem deutsche und baltische Soldaten 1945 strandeten, bevor Schweden viele nach einer fragwürdigen Entscheidung an die UdSSR auslieferte, die Sommerfrische Fridhem der lungenkranken Prinzessin Eugénie oder zuletzt das große Konzert Klockrent, bei dem am 8. Juni 2013 alle über 200 Glocken der 92 alten Landkirchen und des Visbyer Doms zusammen musizierten.

Kutens Bensin. © M. Busch
Fridhem. © M. Busch

 

Eine Lieblingsgeschichte kann ich schwer benennen, aber das imaginäre Interview mit Ingmar Bergman, eine märchenhafte Liebschaft in Fridhem und das unvergleichliche Konzert haben mich besonders berührt.

Die Landkirche von Hörsne, die das Konzert eröffnete. © M. Busch
Der Dom S:t Maria zu Visby. © M. Busch

 

Zwischen den Kapiteln finden sich lesenswerte Betrachtungen zum Wesen von Inseln und dem, was sie in uns auslösen.

Am liebsten hätte ich noch während der Lektüre die Koffer gepackt, um mit dem wunderschön gestalteten 134-Seiten-Büchlein Altbekanntes wiederzusehen, Neues zu entdecken und wie immer mit dem ersten Schritt von der Fähre in einer anderen Welt anzukommen.

© M. Busch
© M. Busch

Vielen Dank, liebe Anne von Canal, für diese poetischen, atmosphärischen „Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit“, die mir zum Lesehighlight am Jahresende wurden. Vielleicht treffen wir uns ja doch irgendwann zu Milchkaffee und Saffranspannkaka – in „unserem“ Gotland-Sommer oder in „Ihrem“ Winter?

Der Schlusssatz aus Whiteout passt ebenso gut zu Mein Gotland:

Dies ist ein Ort, an dem Zweifel enden.

Anne von Canal: Mein Gotland. mare 2020
www.mare.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Anne von Canal auf diesem Blog:

Der Buchhandel bringt’s!

Nur in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt bleiben die Buchhandlungen während des zweiten Lockdowns geöffnet. In Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Thüringen und im Saarland sind zusätzlich zu Lieferdiensten auch Abholstationen für zuvor bestellte Bücher erlaubt. Baden-Württemberg, Bayern und Sachsen gestatten dagegen nur Lieferdienste. In Baden-Württemberg läuft ein Eilantrag des Buchhändlers Rasmus Schöll, Inhaber der Ulmer Aegis Buchhandlung, gegen das unverständliche Verbot der im ersten Lockdown erlaubten kontaktlosen Abholstationen, unterstützt vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim entscheidet darüber am 21.12.2020.

Bitte nutzen Sie während des neuerlichen Lockdowns wieder die Lieferdienste der unabhängigen Buchhandlungen und bestellen Sie Ihre Bücher nicht bei den Internetriesen und Buchhandelsketten. Die Buchhändlerinnen und Buchhändler in den kleinen Läden vor Ort tun das Menschenmögliche, um Ihre Bücher rechtzeitig vor Weihnachten zu liefern. Helfen Sie mit, diese wunderbaren Orte zu erhalten! Danke.

Vielen Dank an den Moritz Verlag für die Bereitstellung dieses originellen Plakats des Illustrators Jörg Mühle mit seiner Figur des Hasenkinds in Schutzkleidung und mit weihnachtlich-roter Mütze auf dem Kopf.

Update 21.12.2020: Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim hat bedauerlicherweise (und in meinen Augen unverständlich) den gut begründeten Eilantrag abgewiesen. Bitte nutzen Sie deshalb weiterhin die Lieferdienste – natürlich auch nach Weihnachten!

Update 06.01.2021: Ab 11. Januar 2021 dürfen Kunden ihre vorbestellten Produkte auch wieder in den Geschäften in Baden-Württemberg und Bayern abholen. Nach dem Weihnachtsgeschäft seien keine großen Warteschlangen vor den Geschäften mehr zu erwarten, erklärte ein Sprecher der baden-württembergischen Landesregierung. Nur in Sachsen ist Click-and-Collect weiterhin verboten.

Sorj Chalandon: Am Tag davor

  Über und unter Tage

Das schwerste Grubenunglück der französischen Nachkriegsgeschichte war kein Schicksal, sondern Folge der Nichtbeachtung von Sicherheitsvorschriften zur Gewinnmaximierung. Am 27.12.1974 starben im nordfranzösischen Kohlerevier 42 Kumpel bei einer Gasexplosion im schon lange als gefährlich bekannten Schacht 3b der Zeche Saint-Amé in Liévin-Lens. Ein Gericht erkannte 1981 trotz mangelhafter Bewetterung und fehlender Explosionssperren sowie Branddämme keine grobe Fahrlässigkeit. Den Hinterbliebenen wurden drei Arbeitstage im Dezember und die Kleidung der Toten in Rechnung gestellt. Fast 100 Jahre nach Émile Zolas großem, überaus empfehlenswertem Klassiker Germinal über die Zustände in den nordfranzösischen Bergwerken während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war diese Katastrophe ein Beweis für die weiterhin mörderischen Arbeitsbedingungen unter Tage.

Vor und nach dem Unglück
Auf dieser realen Tragödie basiert der Roman Am Tag davor des 1952 in Tunis geborenen, in Frankreich vielfach ausgezeichneten Journalisten und Autors Sorj Chandalon, der den Opfern ein Denkmal setzt und darüber hinaus vom Schicksal der Familie eines fiktiven 43. Opfers erzählt. Die Eltern sind Bauern und hoffen, dass einer der beiden Söhne sich für die Scholle und gegen die Kohle entscheidet, doch Joseph, den Älteren, zieht es nach dem geplatzten Traum vom Motorsport unter Tage. Michel, der 14 Jahre jüngere Ich-Erzähler, himmelt den Bruder an. Am Vorabend der Katastrophe darf er Joseph bei einer nächtlichen Spritztour mit dem Moped erstmals kutschieren, ein unvergessliches Erlebnis:

Diese Nachtfahrt würde ein Davor und ein Danach haben. (S. 22)

Das Unglück am nächsten Morgen um 6.19 Uhr verändert schlagartig das Leben vieler Familien. Joseph stirbt mit nur 30 Jahren am 22.01.1975 im Krankenhaus, zu spät, um bei der Trauerfeier für die Opfer geehrt oder auf der Gedenktafel vermerkt zu werden. Sein Vater nimmt sich ein Jahr später das Leben und hinterlässt eine klare Anweisung:

Michel, räche uns an der Zeche. (S. 78)

Michel schlägt sich mühsam durchs Leben, wird Automechaniker, geht nach Paris, arbeitet dort als Fernfahrer und errichtet in seiner Garage ein Mausoleum für den toten Bruder:

Ich war an Josephs Tod verwelkt. Meine Jugend war alt geworden. (S. 28)

Die Rache
Erst 2014, nachdem er beim Tod seiner geliebten Frau Cécile zum zweiten Mal allein zurückbleibt, plant er generalstabsmäßig seine Rache. Er kehrt zurück in den Norden, mietet unter falschem Namen ein Haus und macht den in seinen Augen Verantwortlichen aus:

Ich kannte mein Ziel: Dravelle, den Steiger, der für die Sicherheit verantwortlich gewesen war. […] Ich musste Lucien Dravelle töten. (S. 123/124) 

Zwei unterschiedliche Teile
Damit wird aus einem packenden, sehr bewegenden Roman über das Grubenunglück im zweiten Teil ein Gerichtsdrama, das unglaubliche Wahrheiten zutage fördert und mir den sicher geglaubten Boden unter den Füßen weggezog. Selten habe ich einen so geschickt inszenierten Roman gelesen, wurde ich so überrumpelt und gefordert bei der Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern:

Saint-Amé hat aus meiner Familie Opfer und aus mir einen Verbrecher gemacht. (S. 206)

Am Tag davor ist eine persönliche Tragödie vor dem Hintergrund einer historischen, ein vielschichtiger psychologischer Roman über jahrzehntelange Leidenswege, eine Abhandlung über den Umgang mit Schuld und eine Auseinandersetzung mit den Themen Erinnernung, Wahrheit und Verdrängung. Unbedingt lesenswert!

Sorj Chalandon: Am Tag davor. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2019
www.dtv.de

Steven Price: Der letzte Prinz

Melancholischer Künstlerroman und Abbild einer vergangenen Epoche

Biografische Romane lassen den Verfasserinnen und Verfassern Spielräume beim Umgang mit bekannten Lebensdaten und beim Ergänzen fehlender Details. Selbstverständlich erwarte ich auch hier, dass die große Linie der äußeren Lebensdaten berücksichtigt wird, ich toleriere darüber hinaus aber kleinere Abweichungen und fantasievolle Ausschmückungen. Entscheidend ist, ein stimmiges Gefühl für die Person, ihre Zeit und ihr Umfeld entsteht. Genau dies ist für mich bei Der letzte Prinz, einem Künstlerroman über den sizilianischen Autor Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 – 1957) des kanadischen Lyrikers, Autors und Literaturdozenten Steven Price, gegeben. Bestärkt hat mich in dieser Auffassung, dass Gioacchino Lanza, Tomasis Adoptivsohn, mit der Beschreibung seines Adoptivvaters im Roman einverstanden war.

Ein Mann der Vergangenheit
Fürst Giuseppe Tomasi di Lampedusa entstammte einer der mächtigsten und reichsten Adels- und Großgrundbesitzerfamilien Siziliens. Als letzter Spross seines Geschlechts erlebte er den unaufhaltsamen Niedergang nicht nur seiner Familie, sondern seiner ganzen Welt.

Auf eine als „golden“ empfundene Kindheit folgten traumatische Erfahrungen Tomasis als Soldat im Ersten Weltkrieg und in einem ungarischen Gefangenenlager, wohin ihm die dominante, weltfremde Mutter Pakete schickte:

Im März kam das erste Paket seiner Mutter aus Palermo. Es enthielt zwei Bücher von Stendhal und absurderweise einen Tennisschläger, einen Abendanzug und ein Paar feine Lederschuhe. (S. 193)

Nach seiner Heimkehr reiste er unruhig durch Europa. Die Liaison und schließlich Heirat mit einer deutsch-baltischen Baronesse und Psychoanalytikerin bedeutete das Ende seiner überaus engen Mutter-Sohn-Beziehung. Von Geldsorgen geplagt, bewohnte der Literaturenthusiast mit seiner Frau Alexandra von Wolff-Stomersee einen heruntergekommenen Palazzo in Palermo, nachdem beide 1943 ihre prächtigen Familienwohnsitze verloren hatten, sie durch die Russen in Lettland, er durch amerikanische Bomber in Palermo.

Aristokrat durch und durch
Beim Einsetzen des Romans 1955 ist Tomasi ein 59-jähriger, schwerfällig am Stock gehender, vorzeitig gealterter, korpulenter Kettenraucher, der einer vergangenen Zeit nachhängt:

Giuseppe […] war es gewohnt, dass man stutzte und ihn anders ansah, wenn man von seiner Stellung im Leben erfuhr. Die hatte er viele Jahre lang als natürlich und richtig empfunden, und wenngleich er ihr seit den Nachkriegsjahren und dem Tod seiner Mutter misstraute, sah er sie tief in einem sehr alten Winkel seines Herzens doch als
ihm gebührend an. (S. 102)

© B. Busch

Die Diagnose eines Emphysems konfrontiert Tomasi mit der Einsicht, dass er nichts hinterlassen wird. Charakterlich zu schwach und passiv, um die ärztlichen Ratschläge nach Rauchverzicht und Diät zu befolgen, nimmt er doch in den letzten Lebensjahren zwei Mammutaufgaben in Angriff: Er adoptiert einen jungen Adeligen und schreibt mit Il Gattopardo seinen einzigen Roman. Zwar findet sich zu seinen Lebzeiten kein Verleger, doch ist Der Leopard bis heute der meistverkaufte italienische Roman des 20. Jahrhunderts.

Ein Roman in Episoden
In acht, jeweils mit Zeitangaben versehenen, nicht chronologisch geordneten Kapiteln wirft Price Schlaglichter auf Lampedusas Leben und die Entstehungsgeschichte seines Romans. Das neunte Kapitel von 2003 beinhaltet ein Interview mit dem Adoptivsohn.

Dass sich das Lebensgefühl dieses emotionslos treibenden Mannes so gut überträgt, ist der bewusst altertümlichen Sprache des Romans zu verdanken. Man muss Der Leopard nicht gelesen haben, um den Roman zu mögen, ich vermute allerdings einen größeren Lesegewinn für die, die ihn kennen und nicht nur – wie ich – vor vielen Jahren die Verfilmung von Luchino Visconti aus dem Jahr 1963 gesehen haben.

Steven Price: Der letzte Prinz. Aus dem Englischen von Malte Krutzsch. Diogenes 2020
www.diogenes.ch 

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erscheinen:

      

David Grossman: Was Nina wusste

  Kindsverflucht

Schon lange wollte ich einen Roman des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels von 2010,  David Grossman, lesen. Aufgrund der interessant klingenden Themen „Titos Gulags“ und „transgenerationale Traumatisierung“ fiel meine Wahl nun auf Was Nina wusste. Leider war das Buch für mich überwiegend enttäuschend, denn mit seinem Zuviel von fast allem machte es mir den Zugang zu den Protagonistinnen Vera, Nina und Gili, Großmutter, Tochter und Enkelin, schwer.

Abwesende Mütter
Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Geheimnis der inzwischen 90-jährigen Vera, das Nina, ihre Tochter ahnt, und von dem Gili, ihre Enkelin weiß, seit Vera ihr nach einem Suizidversuch im Nebel der Intensivstation davon erzählt hat. Es ist der Grund für zwei desaströse Mutter-Tochter -Beziehungen, für Ninas Unfähigkeit, sich lieben zu lassen, und für Gilis Horror vor dem Muttersein: 

… aber ich kann nicht, ich kann kein Kind. Bin kindsverflucht. (S. 107)

Vera, geboren 1918 als jüdische Kroatin, verheiratet mit einem Serben, war zusammen mit ihrem Mann als kommunistische Partisanin tätig. Nach Titos Bruch mit Stalin 1948 geriet ihr Mann in den Verdacht sowjetischer Spionage und nahm sich nach seiner Verhaftung 1951 das Leben. Vera entschied sich für die Solidarität zu ihrem übermäßig geliebten toten Mann und gegen die sechseinhalbjährige Tochter, die während Veras fast dreijähriger Gefangenschaft im Gulag auf Goli Otok plötzlich alles verlor.

Eine therapeutische Reise in die Vergangenheit
Zur Feier von Veras 90. Geburtstag in einem israelischen Kibbuz, wo sie seit 1963 lebt, reist Nina, die es nie lange irgendwo ausgehalten hat, aus Norwegen an. Im Gegensatz zu Vera hat sie nirgendwo fußgefasst und die hingebungsvolle Liebe von Rafael, Sohn des zweiten Ehemanns ihrer Mutter, gab ihr keinen Halt. Sie verließ Rafael, als die gemeinsame Tochter Gili drei Jahre alt war. Beide Töchter hassen ihre Mütter für das, was sie ihnen aus unterschiedlichen Motiven angetan haben, Vera wegen der Ideologie, die selbstzerstörerische Nina wegen ihres Traumas.

Während einer Reise der drei Frauen mit Rafael nach Goli Otok möchten Gili und Rafael einen Film drehen, um vor allem der am Beginn einer Demenzerkrankung stehenden Nina endlich Gewissheit zu verschaffen:

… was im Verhörzimmer der UDBA in Belgrad passiert war und was Ninas Leben so verschissen hat und unsere Familie bereits über drei Generationen vergiftet. (S. 103/104)

Mit acht Jahren Abstand verfasst Gili ein Buch.

Hadern mit der fiktionalen Bearbeitung des Stoffes
Die unnötig komplizierte Konstruktion mit der Überdramatisierung eines an sich schon hochdramatischen Konflikts, zu viel Pathos, fehlende Kapitelunterteilung, ein Übermaß an wörtlicher Rede, teils in gebrochenem Deutsch, der Sarkasmus der Ich-Erzählerin, die Filmarbeit, das alles hat mir beim Lesen keinen Spaß gemacht. Dass eine über Jahrzehnte fehlende Weiterentwicklung der Protagonistinnen in ein so versöhnliches Ende umschlägt, klang für mich unglaubhaft. Dagegen hätte ich gerne viel mehr über Veras politische Vergangenheit erfahren. Allerdings spürt man die Betroffenheit und das Engagement David Grossmans, der mit der Gulag-Überlebenden Eva Panić-Nahir (1918 – 2015), Veras realem Vorbild, eng befreundet war. Positiv auch, dass Grossman ein moralisches Urteil den Leserinnen und Lesern überlässt. Nur schießt die fiktionale Bearbeitung des Stoffes eben in meinen Augen leider weit über das Ziel hinaus.

David Grossman: Was Nina wusste. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de

Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge

  Der gute Hirte

Wenn ein Fest bevorsteht, machen sich die Menschen dazu bereit, jeder nach seiner Weise. (S. 5)

Benedikt, halb Knecht, halb Kätner, hat seine eigene vorweihnachtliche Tradition. Jahr für Jahr zieht er am ersten Advent ins isländische Hochgebirge und macht sich auf die Suche nach verirrten Schafen, die bei der großen Schafeinsammlung im Herbst dort vergessen wurden. Zum 27. Mal setzt er sein Leben für fremde Schafe aufs Spiel, aus Achtung vor der Kreatur und aus Sorge um diese hilflosen Geschöpfe, denen sonst der sichere Tod droht. Eine Art Jubiläum ist es, denn Benedikt zählt 54 Jahre und hat nun sein halbes Leben diese Tradition gepflegt, die nicht bei allen auf Verständnis stößt.

Auf seinen einsamen Wanderungen durch die menschenfeindliche Gebirgswelt begleiten ihn nur sein Hund Leo und der Leithammel Knorz. Unterwegs kehren sie bei den letzten Höfen ein, lassen sich jedoch von den schlechten Wetterprognosen und dem guten Zureden der Bauern nicht aufhalten. Nichts läuft in diesem Jahr wie geplant: Menschen schließen sich ihnen ungeplant an und bedürfen ihrer Hilfe, der Winter bricht unerwartet früh und heftig herein und der Proviant wird knapp. Das erste Schaf, auf das sie schließlich stoßen, ist tot, und ohne die gute Nase seines Hundes wäre Benedikt vermutlich dieses Mal gar erfroren. Doch Benedikt ist kein Mann der Zweifel:

Dies war sein Leben – hier zu wandern. Und weil nun dies sein Leben geworden war, ist er jetzt für alles gerüstet, für alles, und kann es willkommen heißen. Er hat keine Sorgen mehr – doch eine: er kann sich nicht recht denken, wer nach ihm hier wandern wird. Doch irgendjemand wird wohl kommen. (S. 57)

Originalsprache dänisch
Gunnar Gunnarsson (1889 – 1975) gilt neben dem alles überstrahlenden Literaturnobelpreisträger von 1955 Halldór Laxness (1902 – 1998) als zweiter großer isländischer Autor des 20. Jahrhunderts und war selbst mehrfach für diese höchste Auszeichnung vorgeschlagen. Als armer Bauernsohn ging er im Alter von 18 Jahren nach Dänemark und besuchte dort für zwei Jahre die Volkshochschule. Wegen der größeren Reichweite schrieb er fast alle seine Werke zunächst auf Dänisch, darunter auch die Novelle Advent im Hochgebirge, die 1936, übersetzt von Helmut de Boor, zuerst auf Deutsch, dann 1937 auf Dänisch erschien und erst 1939 ins Isländische übertragen wurde.

Eine stimmungsvolle Vorweihnachtsleküre
Von Jón Kalman Stefánsson, heute einer der bekanntesten Autoren Islands, stammt das 17-seitige informative und persönliche Nachwort zu dieser im kleinen Format nur 80 Seiten umfassenden Erzählung, die auf einer wahren Geschichte beruht. Die unspektakuläre Handlung über eine menschlich-tierische „Dreieinigkeit“ im Kampf gegen die übermächtigen Naturgewalten gefiel mir vor allem wegen ihrer Schlichtheit. Der bisweilen leicht pathetisch-frömmelnde Stil störte mich dagegen in diesem Fall nicht, im Gegenteil empfand ich die Novelle als ebenso herzerwärmend wie ergreifend. Ich verstehe deshalb Jón Kalman Stefánsson  gut, der das Büchlein seit vielen Jahren zu jedem Weihnachtsfest mit großer Freude wieder liest. Die Idee zu dieser Vorweihnachtslektüre verdanke ich übrigens dem Wahl-Isländer und Autor Joachim B. Schmidt, der Advent im Hochgebirge ebenfalls wärmstens empfiehlt.

Gunnar Gunnarsson: Advent im Hochgebirge. Übertragung von Helmut de Boor. Reclam 2017
www.reclam.de