Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

  Schwarzes Schaf wider Willen

Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman Arv og miljø, deutsch Bergljots Familie (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familien mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.

Obwohl das neue Buch Die Wahrheiten meiner Mutter mit dem deutlich drastischeren Originaltitel Er mor død (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?

Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten. (S. 312)

Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, der ihrem  zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern haben Mark und ihren Sohn John nie kennengelernt. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter“ gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der Kontakt gänzlich ab.

Foto: © B. Busch. Cover: © S. Fischer

Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?

Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die Wohnung der Mutter, schleicht sich ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.

Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?

Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann. (S. 360)

Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.

Ein packender Monolog
In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamik. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.

Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.

 

Interview und Lesung mit Vigdis Hjorth am 24.10.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Annette Bühler-Dietrich, Deutsche Lesung: Marit Beyer. © B. Busch

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. S. Fischer 2023
www.fischerverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Vigdis Hjorth auf diesem Blog:
Hjorth

Victoria Kielland: Meine Männer

Von Faszination zu Überdruss

Die 1881 aus der mittelnorwegischen Region Trondheim in die USA ausgewanderte Belle Gunness gilt als eine der berüchtigsten Serienmörderinnen ihrer Zeit. Ihre Geschichte diente schon häufig als Stoff für Unterhaltungsliteratur, Feuilleton, Spielfilme und Dokumentationen. Nun hat die 1985 geborene norwegische Autorin Victoria Kielland ihr Leben als Vorbild für den Roman Meine Männer gewählt, weder als Biografie noch als True Crime, sondern, wie sie selbst sagt, als „eine literarische Fantasie, frei inspiriert von tatsächlichen Geschehnissen“ (S. 187)

Von Brynhild…
Unvorstellbare Gewalt erfährt die 1859 als Brynhild geborene Frau in Kiellands Roman. 17-jährig hat sie als Dienstmädchen eine Liaison mit dem Hoferben und wird schwanger. Sie verliert das Kind durch seine Tritte mit Lederstiefeln in ihren Bauch.

… zu Bella…
Traumatisiert und unwillig, die Armut auf dem elterlichen Hof zu ertragen, bricht sie zu ihrer Schwester Nellie nach Chicago auf. Nach dem Zerwürfnis mit ihr und der Heirat mit dem Landsmann Mads Sørensen nennt sie sich Bella Sørensen. Kurz nachdem das Paar mehrere Pflegekinder aufgenommen hat, beginnt die Reihe mysteriöser Todesfälle in ihrem Umfeld, zunächst Pflegekinder und zwei Ehemänner.

Belle Gunness 1904. © Gemeinfrei.

… und schließlich zu Belle
Als zweifache Witwe sucht sie, inzwischen Belle Gunness, gezielt vermögende Männer in der norwegisch-sprachigen Zeitung Skandinaven. Mit herzzerreißenden Liebesbriefen lockt sie ihre Opfer auf ihren Hof in La Porte, Indiana. Nach einem Brand 1908 werden Teile von etwa 30 zerstückelten Leichen sowie drei tote Kinder und eine Frauenleiche ohne Kopf gefunden.

Der Roman beantwortet die bis heute ungeklärte Frage, ob es sich bei der Frauenleiche um Belle handelt, die ihrem langjährigen Hofknecht Ray Lamphere zum Opfer fiel, oder ob ihr die Flucht gelang: Zu Beginn sitzt sie in der „Stadt der Engel, Kalifornien, 1915“ am Kamin und sinnt:

… wer mit ganzem Sein liebt, wird die Liebe nicht überleben. (S. 12)

Enttäuschte Erwartungen
Meine Männer
ist nach einem Kurzgeschichtenband und einem Roman das dritte Buch der vor allem für ihren besonderen Schreibstil mit den „kiellandesken Sätzen“ (Jury des Stig Sæterbakken Memoral Award) von der Literaturkritik gefeierten Autorin. Tatsächlich hat mich diese außergewöhnliche Erzählweise in der Leseprobe zunächst begeistert und zusammen mit dem auffälligen Cover überzeugt. Die Schilderung von Brynhilds die gesellschaftlichen Grenzen überschreitender Affäre, ihr Ehrgeiz, ihre Zweifel, ihr Glühen, die „Millionen magischer Momente“ (S. 22) in ihrer Dachkammer, das Pendeln zwischen Genuss, Gewalt, Hoffnung und Angst haben mir gut gefallen. Allerdings wurde mir der Stil in der Folge zunehmend zu verschwurbelt und schien mir immer unpassender zur Handlung,  l’art pour l’art in pseudo-bedeutungsschwangeren Phrasen, über deren Entschlüsselung ich nicht mehr vergeblich rätseln wollte. Das Übermaß an Metaphern und geschraubten Satzkonstrukten mit der ständige Wiederholung der Begriffe „Ritzen“ und „Spalten“ hat mich irgendwann nur noch genervt und ich war froh, als ich die 184 Seiten beendet hatte. Auch das Cover erschließt sich mir im Nachhinein nicht, obwohl der Schmetterling in einem für den Text typischen Satz vorkommt:

Und die anhaltendste Bewegung war weder Sehnsucht noch Liebe, sondern das Schlagen der Schmetterlingsflügel im Garten, war der Tod, das Auge, das dauernd Blickkontakt aufnahm, das anhaltendste, ewige Flimmern. (S. 157)

Wer hier die Faszination der Literaturkritik teilt, trifft mit dem Roman die richtige Wahl. Mir hat das Buch leider nicht die erhoffte Einsicht in die Psyche einer Serienmörderin eröffnet und ich war insgesamt sehr enttäuscht.

Victoria Kielland: Meine Männer. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Tropen 2023
www.klett-cotta.de

Toni Morrison: Sehr blaue Augen

  Selbsthass als Folge von Rassismus

Was geschieht Anfang der 1940er-Jahre mit schwarzen Mädchen in Lorain, Ohio, dem Geburtsort der Autorin Toni Morrison (1931 – 2019), wenn Shirley Temples blonde Locken und blaue Augen als ultimatives Schönheitsideal gelten? Wenn die Bonbonverpackung ein ebensolches Kind ziert, sie beim Einkaufen übersehen werden und die Lehrerin hellere Kinder bevorzugt? Wenn die eigene Mutter sie für hässlich hält, während sie die Kinder ihrer weißen Arbeitgeberfamilien vergöttert? Wenn sie zu Weihnachten blonde, blauäugige Babypuppen bekommen?

Foto: © B. Busch. Cover: © Rowohlt

Claudia, Frieda, Pecola
Ins Zentrum ihres Debütromans Sehr blaue Augen, erstmals 1970 als The Bluest Eye erschienen und 2023 in deutscher Neuübersetzung von Tanja Handels im Verlag Rowohlt wieder aufgelegt, stellt die 1993 als erste schwarze Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Toni Morrison drei Mädchen. Jede leidet auf ihre Art unter dem Trauma ihrer vermeintlichen Hässlichkeit. Claudia Mac Teer, die temperamentvolle Neunjährige und Ich-Erzählerin der ein Jahr umfassenden Rahmenhandlung, entzieht sich dem allgemeinen Zauber, zerstört die verhassten Puppen und würde in ihrer Wut am liebsten dasselbe mit weißen Mädchen tun. Ihre um ein Jahr ältere, besonnenere Schwester Frieda verehrt zwar Shirley Temple, kommt aber dank ihres Elternhauses besser zurecht als die elfjährige Pecola Breedlove, die aus weit ärmlicheren, liebloseren Verhältnissen stammt und in einem heruntergekommenen Ladenlokal ein freudloses, einsames Dasein fristet:

Sie wohnten dort, weil sie arm und Schwarz waren, und sie blieben dort, weil sie sich für hässlich hielten. Ihre Armut war althergebracht und lähmend, aber keineswegs einzigartig. Ihre Hässlichkeit hingegen schon. Niemand hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht auf schonungslose und aggressive Weise hässlich waren. (S. 58)

Für die permanent gedemütigte Pecola, die im Laufe des Romans – wie man sofort erfährt – von ihrem eigenen Vater ein Baby bekommt, wird der Wunsch nach blauen Augen zur Obsession:

Schon vor geraumer Zeit war Pecola zu dem Schluss gekommen, wenn nur ihre Augen anders wären, […], genauer gesagt: schön, dann wäre auch sie selbst ganz anders. […] Jeden Abend, ausnahmslos, betete sie um blaue Augen. (S. 67/68)

Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählperspektiven
In die Rahmenhandlung eingeschoben sind Einblicke in Lebensläufe von Erwachsenen, rechtlosen schwarzen Frauen und Männer, die erlebte Ohnmacht in Gewalt gegen ihre Frauen und Kinder ummünzen.

Der schwarzen Lebenswirklichkeit stellt Toni Morrison kurze Textschnipsel aus einer US-Fibel über die Bilderbuchwelt einer weißen Mittelschichtfamilie gegenüber.

Ein Roman mit Erkenntnisgewinn
Nicht „bequeme Ausflucht ins Mitleid“ (S. 11) wollte Toni Morrison laut ihrem Vorwort von 2008 auslösen, sondern die schwarze Leserschaft „zu einer Reflexion ihrer eigenen Rolle“  (S. 11) zwingen. Im ebenso exzellenten Nachwort schildert die afrodeutsche Autorin Alice Hasters, wie das bei ihr gelang, als ihr die Mutter mit 13 Jahren den Roman gab:

Das Buch setzte meiner Sehnsucht, weißer auszusehen, etwas entgegen. So blieb es bei einem heimlichen Wunsch, den ich mit meinem Spiegelbild teilte, und wuchs nicht weiter in ein verzweifeltes Verlangen, das meinen Alltag diktierte. (S. 266)

Obwohl ich nicht zur Haupt-Zielgruppe gehöre, hat mir dieser gar nicht plakative Roman, der zum aufmerksamen Lesen und Nachdenken zwingt, großen Erkenntnisgewinn beschert. Nicht nur als Signal gegenüber der weißen Bevölkerung, wie ich bisher dachte, sondern als Aufforderung zu schwarzem Selbstbewusstsein war der Slogan „Black is beautiful“ der Bürgerrechtsbewegung ab 1966 gedacht. Die in der Neuübersetzung gewählte Großschreibung des Adjektivs „schwarz“ schafft in meinen Augen allerdings neue Unterschiede anstatt Diskriminierung abzubauen. Dass aber, wie Claudia und Frieda erkennen, für manche Blumen der Boden nicht taugt und deshalb ausgetauscht oder verändert werden muss, ist die zweifellos zeitlose Quintessenz dieses herausragenden modernen Klassikers.

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Alice Hasters. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Literaturnobelpreisträgerinnen und -preisträgern auf diesem Blog:

1909
1920
1926
1932
1954
2017
2021

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen

  Vergessen ist keine Lösung

Seit September 2022 regiert mit Giorgia Meloni in Italien die am weitesten rechts stehende Politikerin seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie alle Ultrarechten weltweit kämpft sie für ein nationalistisch-identitäres Weltbild sowie gegen Migration, vaterlandslose Linke, Aufweichung des traditionellen Familienbilds und Genderideologie.

Bereits kurz vor der Wahl von 2022 erschien in Italien Stirpe e vergogna, in der deutschen Übersetzung von 2023 Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Die italienische, in Frankreich lebende und lehrende, 1970 in Rom geborene Philosophin, Autorin und ehemalige Abgeordnete des Partito Democratico Michela Marzano nimmt darin den Ausgang der Wahl vorweg und erklärt, wie es zu einer Regierung kam, die „nichts als eine postmoderne Version des Neofaschismus ist“ (S. 263):

Es wurde niemals wirklich aufgeräumt. (S. 232)

Kollektives Gedächtnis? Eher kollektives Vergessen. (S. 233)

Eine schockierende Entdeckung
Im Jahr 2019 entdeckte Michela Marzano zufällig, dass das in ihrer Familie sorgsam gepflegte, von ihr nie angezweifelte Narrativ der linken Orientierung auf einer Lüge beruht: Nicht nur war ihr Großvater Arturo Marzano (1897 – 1976) Mitglied der Duce-Partei, was vielleicht für einen Richter und Staatsanwalt noch erklärlich wäre, er gehörte vielmehr zu deren allerersten Anhängern und war als Teil der berüchtigten Squadristi am Marsch auf Rom am 28.10.1922 beteiligt. Nach dem Krieg nur kurzzeitig aus dem Staatsdienst entfernt und ab Ende 1949 wieder als Staatsanwalt tätig, setzte er sich in den 1950er-Jahren als Abgeordneter der national-monarchistischen Partei gezielt für das Vergessen ein:

Die Gnade […] muss die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit in eine undurchdringliche Finsternis des Vergessens hüllen, sie in die tiefsten Abgründe der Amnesie stürzen […]. (S. 251)

Collage: © B. Busch. Cover: © Eichborn Verlag

Doch nicht allein Interesse am Großvater trieb Michela Marzano bei ihren Recherchen an:

Als ich anfing zu schreiben, wollte ich da nicht eigentlich mein eigenes Leben erforschen, die Gewaltausbrüche und die Angst meines Vaters ergründen, […], um meiner eigenen Wahrheit auf die Spur zu kommen? Den Schmerz verstehen, den ich seit meiner Kindheit in mir trage und dessen Konturen trotz all meiner Versuche, ihn zu ergründen, immer unscharf geblieben sind? (S. 44)

Besonders die schwierige Beziehung zu ihrem Vater, dem linksliberalen Wirtschaftsprofessor Ferruccio Marzano mit dem fünften, lange totgeschwiegenen Vornamen Benito, und ihre eigene, von Versagensängsten, Magersucht, Suizidversuchen, 20-jähriger Psychotherapie und fehlendem Mut zur Mutterschaft geprägte Biografie, durchziehen das Buch in seinen vier Teilen „Schande“, „Schuld“, „Vergessen“ und „Vergebung“. Überwiegend liest man ein (auto-)biografisches Sachbuch, gelegentliche ergänzt durch Dialoge, die so oder ähnlich stattgefunden haben könnten.

Fehlende Puzzleteile
Trotz aller Forschung in den reichlich vorhandenen großväterlichen Hinterlassenschaften sowie in Archiven bleibt das Bild doch unvollständig. Keine Hinweise fanden sich leider auf die Beweggründe des Großvaters für seinen frühen Anschluss an Mussolini, die mich sehr interessiert hätten, wohingegen mir der autobiografische Teil manchmal zu redundant war.

Die Grundaussagen des Buches zur transgenerationalen Traumatisierung und zu den Auswirkungen versuchter Geschichtstilgung auf die Gegenwart gelten über die Grenzen Italiens hinaus. Dass man dazu noch viel über die italienische Geschichte ab 1914 erfährt, unter anderem, weil der deutschen Ausgabe nicht die italienische Originalfassung, sondern die um Ergänzungen für Nicht-Italiener angereicherte, von der Autorin selbst ins Französische übersetzte Version zugrunde liegt, macht das mit viel persönlicher Betroffenheit, in Gendersprache verfasste Buch umso lesenswerter.

Michela Marzano: Falls ich da war, habe ich nichts gesehen. Übersetzung aus dem Französischen von Lina Robertz. Eichborn 2023
www.luebbe.de/eichborn

Monika Helfer: Die Jungfrau

  Am längeren Hebel

Es gibt Herzensbücher, andere, die mir nicht gefallen und viele Abstufungen dazwischen. Eine weitere Kategorie ist glücklicherweise eher selten: die, deren Lektüre ich bedauere, weil sie mir eine geschätzte Autorin oder einen liebgewordenen Autor verleiden. Zuletzt ist mir das 2020 bei Das Gewicht der Worte von Pascal Mercier passiert und nun leider mit Die Jungfrau von Monika Helfer. Dabei sind beide Bücher stilistisch großartig und Monika Helfer glänzt erneut durch maximale Verdichtung, geniale Zeit- und Gedankencollagen, packende Reflexionen über das Schreiben und ihren gewohnt lakonischen Ton. Anders jedoch als in ihren autofiktionalen Familienromanen Die Bagage und Vati, die ich begeistert gelesen habe, hat mich das kleine Buch über ihre fiktive, aus mehreren Vorbildern zusammengesetzte Jugendfreundin Gloria nach starkem Beginn zunehmend abgestoßen.

Eine ambivalente Beziehung
Die Motivation für die ungleiche Mädchenfreundschaft, so man sie überhaupt als solche bezeichnen kann, war von Beginn an gänzlich verschieden. Die begüterte, talentierte, hübsche und vaterlos aufwachsende Gloria brauchte ein ihr unterlegenes, manipulierbares Publikum und wollte mit Hilfe der Ich-Erzählerin Moni der Einsamkeit mit ihrer psychisch kranken Mutter entkommen. Für Moni dagegen bot Glorias feudale Umgebung Glanz und Fluchtmöglichkeit aus häuslicher Enge und Armut. Dafür opferte sie ihre Freiheit und andere Freundschaften und war zwischen 13 und 18 Jahren fast jeden Tag in Glorias feudaler Villa, dem „Geisterhaus“ (S. 79), „friedlichen Märchenungeheuer“ (S. 59) und „prächtigen Hausmonster“ (S. 71). Faszination, Neid und Wut hielten sich die Waage, gerne nutzte sie Gloria als Telefonseelsorgerin während ihrer missglückten Hochzeitsreise und ärgert sich gleichzeitig bis heute, sie „immer vorgelassen“ (S. 32) zu haben.

Ein Flashback
Monis frühe erste Ehe und Mutterschaft ließen den Kontakt einschlafen, erst an ihrem 70. Geburtstag erreicht sie ein Brief von Glorias Nichte mit der Bitte um einen Besuch. Die ehemalige Freundin ist in einem erbärmlichen Zustand, ihr Leben krachend gescheitert, abgebrochenes Schauspielstudium, Rückkehr nach Hause, kränkelnd seit dem Tod der Mutter vor 30 Jahren. Nicht einmal ihre Jungfräulichkeit hat sie verloren, wie sie Moni anvertraut, verbunden mit einer Bitte:

Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da. (S. 17)

In Moni flammt mit dem Wiedersehen alte Wut erneut auf:

Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. […] Wofür man sich vor fünfzig Jahren rächen wollte, das ist nicht verziehen. (S. 84)

Mangelnde Größe
Spätestens hier hatte mich der Roman, fiktional oder nicht, verloren. Dass die jugendliche Moni Glorias Bedürftigkeit inmitten ihrer Reichtümer nicht erkennt, ist verständlich. Aber dass sie beim Anblick der gescheiterten Gloria auftrumpft und nur einzelne Höhepunkte ihres Scheiterns aufzählt, um sie ihren eigenen Erfolgen gegenüberzustellen, hat mich abgestoßen. Denn anders als der Titel vermuten lässt, steht nicht Gloria im Mittelpunkt, sondern Moni: ihre Befreiung aus der ersten Ehe, die zweite Ehe mit dem Schriftsteller Michael Köhlmeier, die vier Kinder und ihre späten schriftstellerischen Höhenflüge. So interessant ich diese Passagen fand, so wenig kann ich das Nachkarten einer doch zweifellos klugen Frau verstehen. Warum akzeptiert sie widerwillig Glorias Wunsch, um ihn dann zu konterkarieren?

Weitere autofiktionale Romane von Monika Helfer mag ich nun nicht mehr lesen. Sollte sie das Genre wechseln, mache ich vielleicht einen neuen Versuch.

Monika Helfer: Die Jungfrau. Hanser 2023
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Monika Helfer auf diesem Blog:

 

Eva Björg Ægisdóttir: Verlogen

  Mit anderen Augen

Nach einem Jahr bei der Kripo Akranes hat sich die 33-jährige Ermittlerin Elma überraschend gut in ihrer früheren Heimatstadt eingelebt und die Erinnerung an den Selbstmord ihres langjährigen Partners Davið stehen nicht mehr im Vordergrund. Dass es auch in dem Hafenstädtchen im Westen Islands nicht nur um Verkehrsunfälle und Einbrüche geht, musste sie bereits kurz nach ihrer Rückkehr erfahren, als im ersten Band der Serie mit dem Titel Verschwiegen am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes die Leiche einer jungen Mutter gefunden wurde. Auch die Fortsetzung Verlogen beginnt mit einem Leichenfund, allerdings gut versteckt in einer Höhle im Lavafeld bei Grábrók und stark verwest. Schnell wird ermittelt, dass es sich dabei um die alleinerziehende Mutter der 15-jährigen Hekla handelt, die 31-jährige Maríanna Þórsdóttir, die seit sieben Monaten verschwunden war. Alles schien damals auf einen Selbstmord der immer wieder mit Depressionen und Suchterkrankungen kämpfenden Frau hinzudeuten, weshalb es nur oberflächliche Ermittlungen gab. Zu Unrecht, wie die Obduktion ergibt, denn Maríanna starb durch Schläge:

Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den Ermittlungen noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Leute zu befragen, Dokumente zu prüfen. Alles noch einmal zu machen, aber mit anderen Augen. (S. 71)

Mehr als nur die Aufklärung eines Kriminalfalls
Wie auch schon bei Verschwiegen unterbricht die 1988 in Akranes geborene und aufgewachsene Autorin Eva Björg Ægisdóttir die Chronologie der Ermittlungsarbeit Elmas und ihres 36-jährigen Kollegen Sævar, dieses Mal durch Kapitel aus der Ich-Perspektive einer Mutter von der Geburt ihres Kindes bis zum Alter von 13 Jahren. Mit Augenmaß eingeflochten ist Elmas Privatleben, die Rückblicke in ihre Kindheit, die nicht überwundenen Rivalitäten mit ihrer älteren Schwester, die Bewältigung ihrer Trauer sowie ihre zwiespältigen Gefühle sowohl für ihren Kollegen als auch für ihren liebenswerten Nachbarn Jakob.

Collage: © B. Busch. Cover: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Mit psychologischer Tiefe
Es passiert gar nicht so oft, dass ich bei Krimireihen am Ball bleibe, aber bei dieser gut geschriebenen Island-Serie wollte ich die Fortsetzung auf keinen Fall verpassen. Nun hat mir Verlogen sogar noch etwas besser gefallen als der Vorgängerband, denn das von der dreifachen Mutter Eva Björg Ægisdóttir von allen Seiten beleuchtete Thema „Muttersein“ hebt diesen Krimi aus der Vielzahl der Regionalkrimis heraus. Wieder geht Gründlichkeit bei der Ermittlungsarbeit vor thrillerhafter Rasanz, drängen sich Verdachtsmomente gegen verschiedene Personen auf und wird viel Wert auf Orts- und Charakterzeichnungen gelegt, für die eine Landkarte im Buchdeckel und ein Personenverzeichnis im Anhang hilfreich sind. Die Autorin widmet sich ausführlich verschiedenen Familientragödien und komplizierten Beziehungsgeflechten und wartet im letzten Drittel mit einer für mich umwerfenden Überraschung auf. Auch den Schluss fand ich ausgesprochen gelungen, originell und passend zum Geschehen, auch wenn er vielleicht nicht jedem Krimifan gefällt.

Keine Frage also, dass ich bei Band drei der Serie, Verborgen, im Februar 2024 wieder dabei bin.

Eva Björg Ægisdóttir: Verlogen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Krimi von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog:

Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler

  Der Mensch hinter dem Werk

Am 20. Oktober 2023 wäre Otfried Preußler (1923 – 2013) 100 Jahre alt geworden, deutlich jünger als zwei seiner bekanntesten Kinderbuchfiguren: 27 Jahre weniger als die kleine Hexe, mehrere Jahrhunderte gar als das kleinen Gespenst. Die Deutsche Post ehrt den Verfasser so vieler zeitloser Kinder- und Jugendbuchklassiker mit einer besonders gelungenen Briefmarke, gestaltet von Daniela Burger. Zum Jubiläumsprogramm des Stuttgarter Thienemann Verlags gehört die äußerst lesenswerte Biografie des Preußler-Experten mit vielfältigen Kontakten und FAZ-Literaturredakteurs Tilman Spreckelsen. Gleich im Epilog legt er dar, worum es ihm geht:

Der Mensch hinter den Büchern wurde lange nicht fassbar. (S. 6)

Die Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Werk ist der Leitgedanke dieses Buches. (S. 9)

Tilman Spreckselsen beginnt bei den Hauptinspirationsquellen Preußlers, die in dessen Kindheit im böhmischen Reichenberg (heute Liberec) liegen: den Geschichten seines Vaters und böhmischen Heimatkundlers Josef Syrowatka, ab 1941 Preußler, und der Großmutter Dorothea. Aus dem Märchen- und Sagenschatz Böhmens und der Erinnerung an die Landschaft konnte er sein ganzes Leben schöpfen.

Collage: © B. Busch. Gestaltung des Postwertzeichens: Daniela Burger, Berlin. Aus urheberrechtlichen Gründen ist bei einer Nutzung der Briefmarken-Abbildung zwingend eine Erlaubnis einzuholen (LB5@bmf.bund.de). Coverabbildungen: © Thienemann Verlag

Kindheit und Krieg
Nach einer Kindheit als Teil der deutschsprachigen Minderheit in der Ersten Tschechoslowakischen Republik und dem sich zuspitzende Nationalitätenkonflikt löste der Anschluss ans Deutsche Reich 1938 Jubel beim jungen Otfried Preußler aus. Sein erster Roman aus diesen Jahren ist heute glücklicherweise vergessen.

Der Kriegsbegeisterung folgte Ernüchterung an der Ostfront ab 1942 und in einem sowjetischen Gefangenenlager ab Sommer 1944:

…denn obwohl wir einmal von ganzem Herzen Soldaten gewesen sind – ein zweites Mal wäre das kaum mehr der Fall. (S. 45/46)

Schriftstellerische Erfolge
Im bayerischen Rosenheim kam es im Juni 1949 zur Wiedervereinigung der Familie Preußler und der Verlobten Annelies Kind. Nun sollten die verlorenen Jahre aufgeholt werden. Eine Ausbildung zum Volksschullehrer sicherte der jungen Familie Preußler ein regelmäßiges Einkommen. 1956 stellte sich mit Der kleine Wassermann der erste große Erfolg ein, gekrönt vom Sonderpreis für Text und Illustration beim Deutschen Jugendbuchpreis. Entstanden im Erzählen für seine Töchter, erprobt an seinen Schulkindern und basierend auf dem Sagenschatz der Heimat begann mit diesem ersten Kinderbuch ein kometenhafter Aufstieg, kurz unterbrochen nur vom Vorwurf „schönfärberischer Weltabgewandtheit“ während der Eskapismusdebatte der 1970er-Jahre.

Buch für Buch führt Tilman Spreckelsen durch Preußlers Werk, beschreibt Inhalte, Quellen, Illustrationen, Rezeption und Preußlers besonderen, aus dem mündlichen Erzählen geborenen Stil. Ausführlich schreibt er über Preußlers jahrelanges Ringen mit dem schwierigen Krabat-Stoff, bevor das Buch 1971 erschien. Noch später datieren zwei mir besonders lieb gewordene Bücher: Hörbe mit dem großen Hut (1981) und Hörbe und sein Freund Zwottel (1983), die der Autor eigenhändig illustrierte:

Soweit ich zurückdenken kann, stand für mich fest, dass ich einmal Maler oder Schriftsteller werden wollte – am besten beides. (S. 257)

Berührend ist der langsame Rückzug aus der Öffentlichkeit ab Mitte der 1990er-Jahre und die bereits Jahre vorher einsetzende Rückbesinnung auf die eigene Lebensgeschichte und das schmerzlich gescheiterte Zusammenleben von Tschechen und Deutschen.

Der Brückenbauer
Neben dem ausgezeichneten Überblick über Otfried Preußlers Werk war für mich besonders dessen Entwicklung vom deutschnationalen Jugendlichen zum kulturellen Brückenbauer in die Tschechoslowakei und sogar ins ihm „während der Jahre des Krieges und der Gefangenschaft ans Herz gewachsene“ Russland interessant. Seine Reisen in beide Länder, neue Freundschaften, Übersetzungen und Nacherzählungen tschechischer Kinderbücher wie beispielsweise Kater Mikesch von Josef Lada (1962) und die Ablehnung von  Restitutionsforderungen haben mich beeindruckt.

Wer Otfried Preußlers Geburtstag in Erinnerung an eigene erste Bucherfahrungen und Vorleseerlebnisse mit Kindern und Enkel feiern möchte, dem empfehle ich wärmstens diese souverän erzählte, ausgezeichnet recherchierte, respektvolle aber nicht ehrfürchtige Biografie –  zur Unterhaltung ebenso wie zur Information.

Tilman Spreckelsen: Otfried Preußler. Ein Leben in Geschichten. Thienemann 2023
www.thienemann-esslinger.de

 

Rezensionen zu Kinderbüchern von Otfried Preußler auf diesem Blog:

 

Weitere Rezensionen zu Biografien über oder Autobiografien von Kinder- und Jugendbuchautoren auf diesem Blog:

   

Rezension zu einem Krimi von Tilman Spreckelsen auf diesem Blog:

Georges Simenon: La Marie du port

  Die Unberechenbare

Da ich im Urlaub gerne Romane aus der Region lese, habe ich mir im Sommer 2023 in Cherbourg La Marie du port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) gekauft. Anders als mit seinen erfolgreichen Krimis hoffte er mit seinen, wie er es nannte, „romans durs“ eine neue Stufe in seiner literarischen Entwicklung zu erreichen. Nachdem La Marie du port 1938 in Frankreich erschienen war, wurde es in der Presse wohlwollend besprochen, sein Kollege und Literaturnobelpreisträger André Gide (1869 – 1951) war – mit wenigen Einschränkungen –  begeistert und Georges Simenon selbst höchst zufrieden.

Studien vor Ort
Während eines Aufenthalts im normannischen Fischerdorf Port-en-Bessin im Oktober 1937 hatte Georges Simenon vom Hôtel de l’Europe am Quai Félix Faure einen erstklassigen Blick auf den Fischerhafen und die Drehbrücke, beides zentrale Elemente in La Marie du port.

Port-en-Bessin. © B. Busch

In trister Oktoberstimmung beginnt der Roman mit einem Begräbnis: Jules Le Flem, Witwer und Vater von fünf Kindern, wird unter großer Anteilnahme zu Grabe getragen. Aus Cherbourg ist die älteste Tochter Odile mit ihrem Liebhaber, dem großspurigen Restaurant- und Kinobesitzer Henri Chatelard angereist. Beim Leichenschmaus werden die drei jüngeren Geschwister unter den Verwandten verteilt, die 17-jährige Marie hat bereits eigene Zukunftspläne gemacht:

Je reste à Port.
Qu’est-ce que tu veux faire dans un trou comme Port-en-Bessin? Tu ne trouveras
seulement pas une place…
J’en ai déjà une.
ça?
Au Café de la Marine. (S. 20)

Ein folgenreicher Blick
Aus dem Fenster des Café de la Marine, in dem Marie zukünftig als Serviermädchen arbeiten möchte, hat Chatelard den Leichenzug beobachtet. Fasziniert von Marie, die nur halb so alt ist wie er, würde er sie am liebsten mit nach Cherbourg nehmen. Das resolute Mädchen, das sich von niemandem in die Karten schauen lässt, widersetzt sich in den nächsten Wochen jedoch jedem Annährungsversuch, obwohl Chatelard, der am Begräbnistag planlos ein verunfalltes Fischerboot ersteigert hat, jeden Tag wegen dessen Instandsetzung in Port-en-Bessin auftaucht…

Blick auf die Drehbrücke von Port-en-Bessin. © B. Busch

Zweierlei zeichnet den ungewöhnlichen, überraschend nüchternen Liebesroman für mich aus: einerseits die sehr genaue Beschreibung der Atmosphäre des Fischerdorfs, andererseits die Figur der Marie, deren Absichten sich jeder Einschätzung, sei es für Chatelard, für Odile, für die Bewohnerinnen und Bewohner von Port-en-Bessin oder für uns Leserinnen und Leser, entzieht. Die Unberechenbarkeit dieser willensstarken Geheimniskrämerin macht den Roman interessant und trotz der Handlungsarmut spannend.

Übersetzt und verfilmt
Obwohl Georges Simenon allgemein für seinen beschränkten Wortschatz kritisiert wird, war das Buch auf Französisch für mich eine Herausforderung. Auf Deutsch gibt es den Roman unter dem Titel Die Marie vom Hafen in einer inzwischen vergriffenen Ausgabe von 1989 im Diogenes Verlag, übersetzt von Ursula Vogel, und im Verlag Hoffmann und Campe seit 2019 in der Übersetzung von Claudia Kalscheuer. In der Verfilmung aus dem Jahr 1949 von Marcel Carné spielt Jean Gabin die männliche Hauptrolle, allerdings wurden die in Port-en-Bessin spielenden Szenen im knapp 90 Kilometer entfernt liegenden Saint-Vaast-la-Hogue im Cotentin gedreht, wo es eine ähnliche Drehbrücke und natürlich ebenfalls einen Hafen gibt.

Georges Simenon: La Marie du port. Gallimard 2003
www.gallimard.fr

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen

  Grautöne

Vom 9. April 1940 bis zum 8. Mai 1945 dauerte die deutsche Besetzung Norwegens. Während König Haakon VII. und die demokratisch gewählte Regierung ins Londoner Exil flohen, setzten die Invasoren eine Marionettenregierung unter Vidkun Quisling ein, der nach dem Krieg wegen Hochverrats hingerichtet wurde.

Wie im dritten Teil seiner Barrøy-Saga Die Augen der Rigel erzählt Roy Jacobsen die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Norwegens in seinem Roman Die Unwürdigen nicht schwarz-weiß mit Helden und Schurken, sondern in Grautönen. Im Epilog lässt er einen seiner mittlerweile alt gewordenen Protagonisten über der These brüten, im Krieg wären je etwa zehn Prozent der Norweger im Widerstand bzw. Mitläufer und Kollaborateure gewesen, die restlichen achtzig Prozent dagegen gleichgültig. Was aber, fragt der alte Mann, ist mit den Unwissenden?

Ihr, die ihr die Besatzungszeit studiert, wisst so viel mehr darüber als wir, die wir sie gelebt haben, wir hatten nicht eure Wissensmengen und euren Überblick […]. (S. 328/29)

Überleben – egal wie
Für Carl, Olav und Roar, die drei Jugendlichen im Mittelpunkt, ist Politik Nebensache:

Olaf hatte ein Gesetz, dass dieser Krieg uns nichts angeht, dass es andere sind, die ihn betreiben. (S. 114)

Was sie wirklich betrifft, sind die beengten Wohnverhältnisse in der Arbeitersiedlung Åsen im nordöstlichen Teil Oslos, der leider auf dem Stadtplan vorn und hinten im Buch nicht eingezeichnet ist. Hier hausen sie mit Eltern und Geschwistern in Einzimmerwohnungen. Armut und Mangel begegnen sie kreativ, intelligent, gut organisiert und skrupellos entgegentreten, indem sie einbrechen, stehlen, den Schwarzmarkt beliefern, Dokumente fälschen und Norweger wie Besatzer betrügen. Ihre Beute wird von den Eltern kommentarlos angenommen als wichtiger Beitrag zum Überleben der Familien. Aber was machen eigentlich die Eltern? Carls Vater hat sich verändert, schlägt den Sohn, und Carl verachtet ihn dafür. Doch als er verhaftet und zu Tode geprügelt wird, hört Carl, dass der Vater ein „wichtiger Mann“ war – für wen? Die Liste mit leerstehenden Villen, die er ihm zuletzt gegeben hat, wird Grundlage für ihre nächsten Beutezüge. Olavs Vater setzt sich ab, nach Schweden, wie die Mutter glaubt, bevor auch sie packt und Richtung Deutschland verschwindet. Zurück bleiben die Jungen und ihre Geschwister, die fortan noch mehr Verantwortung übernehmen und mit noch mehr ungeklärten Fragen leben müssen.

Edvard Munch: Der Schrei, Munch-Museum Oslo. © M. Busch. Collage: © B. Busch

In 37 Kapiteln und einem Epilog, wobei das Kapitel 25 oder dessen Nummerierung fehlt, erzählt der Roman brutal und unsentimental vom Überleben in Kriegszeiten. Roy Jacobsen erspart seinen Protagonisten nichts, beschönigt und urteilt nicht und bringt uns die Mitglieder der kleinen Gemeinschaft filmhaft nah. Trotz ihrer Verbrechen bis hin zum Mord fiebert man mit ihnen mit, wenn sie ihren kleinen Geschwistern eine Kindheit schenken möchten, die sie selbst nie hatten, beneidet sie um den Zusammenhalt und leidet mit bei ihren Verlusten.

Show, don’t tell
Der 1954 in Oslo geborene Roy Jacobsen hat fast alle Literaturauszeichnungen Skandinaviens erhalten und wird in über 40 Sprachen übersetzt. Herausragend sind für mich seine inzwischen vier Bände der Barrøy-Saga, die hoffentlich fortgesetzt wird. Wie immer stellt er in Die Unwürdigen Zeigen über Erklären, und gerade dieser gedankliche Spielraum macht seine dicht, beinahe schroff erzählten, oft verstörenden Romane für mich so interessant. Überrascht hat mich, dass auch in Norwegen viele Täter nach Kriegsende  unbehelligt blieben, während die Opfer erfolglos um ihre Rechte kämpften.

Die Unwürdigen ist keine einfache Lektüre, eine sehr empfehlenswerte dagegen schon.

Roy Jacobsen: Die Unwürdigen. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andres Brunstermann. C.H. Beck 2023
www.beck.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Roy Jacobsen auf diesem Blog:

     

Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 3 (Seine-Maritime)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier, Teil 2 hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Seine-Maritime

Zwischen Le Havre im Westen und Le Tréport an der Grenze zur Picardie im Osten erstreckt sich über gut 140 Kilometer die Côte d’Albâtre, der für seine Kreidefelsen, Steilküste, Schluchten und Kiesstränden berühmte Küsteabschnitt des Départements Seine-Maritime. An den Stränden gibt es im Juli und August eine ganz besondere Attraktion: 13 „Lire-à-la-plage“-Hütten mit über 13.000 Büchern aller Genres und exklusiv für Leserinnen und Leser reservierten, mit Liegestühlen und Sitzgelegenheiten bestückten Holzterrassen. Hier kann man kostenfrei und zeitlich unbegrenzt schmökern, in mitgebrachter Lektüre oder Entdeckungen vor Ort. Was für eine tolle Marketingaktion für das Lesen!

Lire à la plage an der Côte d’Albâtre. © B. Busch

Zum Beginn des Schuljahres 1931 wurde Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) als Gymnasiallehrer für Philosophie nach Le Havre geschickt, wo er mit einer Unterbrechung bis 1936 blieb. Obwohl Simone de Beauvoir (1908 -1986) ab 1932 in Rouen unterrichtete und die Entfernung damit nicht mehr so groß wie nach Paris war, fühlte sich Sartre einsam, deplatziert und zunehmend depressiv.

Blick auf die Hafenanlagen von Le Havre. © M. Busch

Unweit der Côte d’Albâtre im Landesinneren und 20 Kilometer nordöstlich von Le Havre liegt das Dorf Cuverville. Hier heiratete der Literaturnobelpreisträger von 1947 André Gide (1868 – 1951) im Oktober 1895 seine Cousine Madeleine, eine Verbindung, die er aufgrund seiner Homosexualität als „die verborgene Tragödie“ seines Lebens bezeichnete. Die Ehe blieb dennoch bis zum Tod seiner Frau 1938 bestehen. Das Manoir de Cuverville aus dem Jahr 1730 hatte Madeleine geerbt. Als Kind verbrachte André Gide oft seine Ferien in Cuverville, während seiner Ehe hielt er sich häufig dort auf, empfing Besucher wie die Schriftstellerkollegen Roger Martin du Gard (1881 – 1958), Literaturnobelpreisträger 1937, Paul Valéry (1871 – 1945) oder Alain Fournier (1886 – 1914) und beschrieb das Haus in seinen Romanen. Die enge Tür, die seinem Roman La porte étroite (1909) den Titel gab, befindet sich hier, allerdings ist das Haus heute in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Auf dem Friedhof von Cuverville ist das Ehepaar Gide begraben.

Cuverville und André Gide. © B.&M. Busch

Ebenfalls in Privatbesitz, nur auf Anfrage zu besichtigen und leider gänzlich hinter Bäumen versteckt, liegt das Haus von Guy de Maupassant (1850 – 1893) in Étretat. Lediglich die Einfahrt und das Schild mit dem Namen des Hauses, „La Guillette“, ist von der Straße aus zu sehen. Von einem höher gelegenen Weg in einiger Entfernung erkennt man immerhin einen kleinen Zipfel der großen Villa im mediterranen Stil. Guy de Maupassant, geboren wahrscheinlich im Château de Miromesnil im Norden des Départements Seine-Maritime, lebte nach der Trennung seiner Eltern mit seiner Mutter in Étretat und baute sich dort 1883 die Villa, in der er fortan mehrere Monate im Jahr verbrachte und schrieb.

Villa La Guillette von Guy de Maupassant in Étretat. © M.&B. Busch

Guy de Maupassant liebte die Normandie und die Felsen von Étretat, denen er in seinem berühmten Roman La vie (1883, deutsch: Ein Leben, 1894) ein Denkmal setzte: „…et là-bas, en avant, une roche d’une forme étrange, arrondie et percée à jour, avait à peu près la figure d’un éléphant énorme enfonçant sa trompe dans les flots. C’était la petite porte d’Étretat. […] Et soudain on découvrit les grandes arcades d’Étretat, pareilles à deux jambes de la falaise marchant dans la mer, hautes à servir d’arche à des navires; tandis qu’une aiguille de roche blanche et pointue se dressait devant la première.“

Felsen von Étretat. © B. Busch

Im Gegensatz zu La Guillette ist Le clos Arsène Lupin, in der gleichen Straße gelegen, heute ein Museum. Der Autor und Erfinder des Gentleman-Gauners und Meisterdiebs Arsène Lupin, der in Rouen geborene Maurice Leblanc (1864 – 1941), kaufte die 1854 im Stil der Belle Époque erbaute Villa 1918 und wohnte dort 20 Jahre lang. Mehrere Bände der Arsène-Lupin-Reihe spielen an der Côte d’Âlbâtre, L’Aiguille creuse aus dem Jahr 1909 teilweise direkt an den Felsen von Étretat (deutsch: Die hohle Nadel, 1914, bzw. Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich, Verlag Matthes & Seitz 2008).

Le clos Arsène Lupin in Étretat. © M.&B. Busch

Überhaupt haben die Felsen von Étretat zahlreiche Autorinnen und Autoren inspiriert, zu Krimis vor allem, aber auch zu Romanen. Zwei von ihnen möchte ich unbedingt noch lesen: Die Steinesammlerin von Étretat von Gerd Heidenreich und Klippen von Olivier Adam.

Im Inneren des Départements Seine-Maritime liegt das Städtchen Lillebonne, in dem die Literaturnobelpreisträgerin 2022 Annie Ernaux (*1940) zur Welt kam. Nur 25 Kilometer entfernt wuchs sie in Yvetot im gleichen Département auf. Während der Reise habe ich endlich mein erstes Buch von ihr gelesen, Die Jahre, und war begeistert von der erzählerischen Dichte und dem Rhythmus dieser „unpersönlichen Autobiografie“.

Annie Ernaux. © B. Busch

Direkt an der Seine liegt das entzückende Dorf Villequier, wo sich am 4. September 1843 ein schreckliches Unglück ereignete: Bei einem Bootsunfall ertranken Léopoldine, die schwangere Tochter von Victor Hugo (1802 – 1885), sowie ihr Mann Charles Vacquerie und zwei Verwandte. Im Haus der Familie Vacquerie in prächtiger Lage direkt an einer Schleife der Seine gelegen, wo der berühmte Schriftsteller mehrmals logierte, erinnert heute ein Museum, das Maison Victor Hugo, an ihn. Neben seinen Romanen, darunter Der Glöckner von Notre Dame von 1831 und Die Elenden von 1862, seinen Dramen, Reisebeschreibungen und Gedichten engagierte sich Victor Hugo auch politisch und setzte sich zusammen mit Honoré de Balzac (1799 – 1850) für ein Urheberrecht zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst ein. 

Villequier und das Maison Victor Hugo. © B. Busch

Unsere letzte Urlaubsstation, die Abbaye de Jumiège, liegt ebenfalls in einer Schleife der Seine und galt Victor Hugo als „schönste Ruine Frankreichs“. Nach einer wechselvollen Geschichte besiegelten die Religionskriege und die Französische Revolution das Ende dieses einst prachtvollen und mächtigen Klosters.

Abbaye de Jumiège. © B. Busch

Direkt gegenüber der Ruine begegnet man einer Gedenktafel an Maurice Leblanc, dem Vater der Arsène-Lupin-Reihe, der hier oft zu Gast war und sich von der Schönheit der Natur und der Ruinen inspirieren ließ.

Jumiège. © B. Busch

Leider ist auch der schönste Urlaub irgendwann vorbei, so dass für den geplanten Besuch in der normannischen Hauptstadt Rouen am Ende keine Zeit mehr blieb. Schade, denn es hätte dort weitere literarische Bezüge gegeben: zu Gustave Flaubert, Pierre Corneille, Simone de Beauvoir. Gerne hätte ich auch noch das 20 Kilometer von Rouen entfernte Dorf Ry besucht, wo – getarnt als Yonville-l’Abbaye – Gustave Flauberts berühmtester Roman Madame Bovary aus dem Jahr 1856 spielt, „ein Sittenbild aus der Provinz“. Manches Gebäude lässt sich wohl unschwer erkennen und das literarische Vorbild, die unglückliche Delphine Delamare (1822 – 1848), liegt auf dem örtlichen Friedhof begraben.

Grund und Stoff genug also für eine weitere Reise in die Normandie und eine Fortsetzung dieser Impressionen…irgendwann…