Anne Müller: Zwei Wochen im Juni

  Abschied von Gragaard

Anne Müllers Debütroman Sommer in Super 8 hätte ich 2018 fast verpasst, weil ich ihn zunächst in die Kategorie „Leichter Frauenroman“ eingeordnet und erst auf dringende Empfehlung einer Bücherfreundin gelesen habe. Das Buch über eine schwierige Kindheit und Jugend in den 1970er-Jahren und eine durch Schweigen gelähmten Familie hat mich dann aber überzeugt, vor allem aufgrund der genauen Beobachtungen der jungen Protagonistin Clara.

Der zweite Roman, Zwei Wochen im Juni, ist nun tatsächlich ein Buch für die Hängematte, ein Frauen-Wohlfühlroman für zwischendurch, für einen Sonntag auf dem Balkon oder für den Strand. Er liest sich leicht, macht Lust auf einen Ostsee-Urlaub in Schleswig-Holstein, wird mir aber nicht so im Gedächtnis bleiben wie der Vorgänger.

Ein Lebensabschnitt geht zu Ende
Ada
und Toni, Schwestern Mitte Vierzig, haben vor kurzem ihre Mutter verloren. Die knapp 73-Jährige ist überraschend an Herzversagen gestorben, ein gnädiger, gleichwohl zu früher Tod. Nun muss das Haus mit dem Esszimmerblick aufs Meer und einem gepflegten Bauerngarten, das Haus, in dem sie aufgewachsen sind, entrümpelt und verkauft werden. Der sensiblen Malerin Ada fällt das schwerer als Toni, hat sie doch keine eigene Familie, lediglich seit drei Jahren einen verheirateten Geliebten, einen „Schönwettermann“, „Mittagspausenanrufer“, „Mittenindernachtgeher“ und „Niemalsfrühstücksmensch“. Doch auch bei Toni, der kopfgesteuerten Studienrätin, läuft privat längst nicht alles rund und in ihrer Bilderbuchfamilie gibt es Brüche.

Während die Schwestern den Haushalt in ihrem Elternhaus in Gragaard, einem fiktiven Dorf unweit von Kappeln an der Schlei, auflösen und Kaufinteressenten herumführen, stoßen sie auf viele kleine Schätze, die ihnen Geschichten erzählen und Erinnerungen auslösen. In den beiden Wochen, die ihnen zum Abschiednehmen bleiben, begegnen sie nicht nur ihrer Vergangenheit, lernen ihre verstorbene Mutter von einer neuen Seiten kennen und kommen sich über die Rückbesinnung auf ihre Kindheit wieder näher, sondern treffen auch wichtige Entscheidungen für ihre Zukunft, in der es kein Gragaard mehr für sie geben wird.

Ein Haus zum Verlieben
Nicht in den klischeehaften Protagonistinnen und Nebenfiguren liegt für mich die Stärke des Romans, sondern in der atmosphärischen Schilderung des Hauses und der norddeutschen Landschaft, die mit allen Sinnen spürbar wird:

Jetzt erschien am Ende des Weges hinter alten Kastanienbäumen das große zweigeschossige Haus, „unsere Möchtegern-Villa“, wie ihre Mutter immer gesagt hatte. Ein herrlich verwinkeltes, unperfektes Haus mit einer hellen Fassade, die einen Anstrich vertragen konnte, ein Haus, das ein Locationscout vom Film vor Jahren für die Dreharbeiten zu einem Schwedenkrimi hatte mieten wollen. (S. 12)

Mit dem etwas kleineren Format liegt das Buch beim Lesen angenehm in der Hand. Sehr gelungen ist auch die äußere Gestaltung mit Umschlag und Einband in meerblauer Farbe und dem schlichten Cover, das sich in Teilen auf dem Einband wiederholt.

Anne Müller: Zwei Wochen im Juni. Penguin 2020
www.randomhouse.de

Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss

  Magische Eiswelten

Unn ist nach dem Tod ihrer Mutter vor kurzem erst zu ihrer Tante ins Heimatdorf von Siss gekommen. Von der ersten Begegnung an fühlen sich die beiden elfjährigen Mädchen zueinander hingezogen. Dabei sind sie auf den ersten Blick ganz und gar gegensätzlich, denn Siss ist die muntere Anführerin ihrer Klasse, Unn dagegen hält sich abseits und will nicht an den Spielen der Schulkameradinnen teilnehmen. Und doch strahlt Unn Stärke aus und schließlich ist sie es, die im klirrend kalten Spätherbst die Initiative ergreift und Siss zu sich einlädt. Obwohl beide an diesem Abend verlegen sind und nicht so richtig ins Gespräch finden, spüren sie eine Verheißung:

Ihre Freundschaft lag offen vor ihnen wie ein verlockender Weg in die Zukunft. Etwas Großes war geschehen. (S. 23)

Um die Begegnung mit Siss in der Schule hinauszuzögern, unternimmt Unn am folgenden Tag einen verbotenen Ausflug zum gefrorenen Wasserfall, dem „Eis-Schloss“:

Unn blickte in eine Zauberwelt aus kleinen Zinnen, Dachwölbungen, bereiften Kuppeln, weichen Bögen und verworrenem Spitzengeklöppel. Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter. Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen. Alles glänzte. Die Sonne war nicht gekommen, aber alles glänzte aus sich heraus eisblau und grün, und todkalt. (S. 50/51)

Unn ist wie verhext von diesem „Zauberschloss“, zwängt sich durch schmale Öffnungen und Spalten in immer märchenhaftere Räume, bis sich eine „Eishand“ auf sie legt, ihre Gedanken immer mehr „taumeln“ und sie schließlich in ein „blendendes Lichtmeer“ gerät, in dem sie nur noch schlafen möchte.

Mit Unns Verschwinden kommt ein Wetterwechsel, der Winter löst den frostkalten Herbst ab und Schnee bedeckt nicht nur das Dorf, den Wald, den See und das Eis-Schloss:

Der Schnee fiel und deckte alles zu, sowohl draußen als auch in den Menschen drinnen. (S. 113)

Siss wird krank. Dann, als sie das Bett wieder verlässt, übernimmt sie Unns Außenseiterrolle in der Schule, hält sich abseits und lässt sich nicht zum Mitmachen verlocken. Sie ist erstarrt, eingefroren, und erst im Frühling, als im Eis-Schloss das „erste Untergangszittern“ spürbar wird, steht auch Siss allmählich „wie in tauendem Eis“.

Tarjei Vesaas (1897 – 1979), norwegischer Romanautor, Lyriker und Dramatiker aus der Provinz Telemark, wurde für diesen 1963 auf Nynorsk erschienenen Roman 1964 mit dem wichtigsten skandinavischen Literaturpreis, dem Großen Preis des Nordischen Rates, ausgezeichnet und mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Mit der fantastischen Neuübersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, dessen Name zurecht auf dem Cover steht, und der hinreißenden Gestaltung durch den Berliner Guggolz Verlag wird dieser in Norwegen sehr populäre Roman nun hoffentlich auch in Deutschland gelesen. Die glasklare Sprache voller Poesie, das fantastische Einfühlungsvermögen des damals schon 66-jährigen Vesaas in die Gefühlswelt der Mädchen, die unvergleichlichen Naturschilderungen und die Andeutungen über die behutsam-zurückhaltende und doch beharrliche Unterstützung von Erwachsenen wie Kindern für die trauernde Siss machen dieses kaum 200 Seiten umfassende Buch zu einem ganz großen Literaturereignis.

Das Eis-Schloss gehört, wenn auch verspätet gelesen, zu meinen großen Entdeckungen beim Gastland-Auftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019.

Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Guggolz 2019
www.guggolz-verlag.de

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast schwarz

  Zu viel und zu wenig

Seit 2018 der Debütroman Dunkelgrün fast schwarz von Mareike Fallwickl erschien und teils hymnische Kritiken erhielt, hatte ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Nun ist diese Lücke geschlossen, Euphorie hat sich bei mir jedoch nicht eingestellt. Zwar ist das Cover ausgezeichnet gelungen und die Wiederholung der Farnblätter als Teiler zwischen Abschnitten ist originell, aber weder Handlung noch Erzählweise konnten mich überzeugen.

Aus zwei mach drei
Der Inhalt lässt sich in erstaunlich wenigen Sätzen zusammenfassen, obwohl das Buch immerhin 475 Seiten umfasst. Moritz und Raffael sind unzertrennlich, seit sie sich im Alter von drei Jahren erstmals begegneten. Seither sind die Rollen klar verteilt: Moritz ist der sensible, künstlerisch begabte, unsichere und zurückhaltende Teil des Gespanns, Raffael das „Arschlochkind“, das andere quält, manipuliert und erpresst, dabei selbstsicher und arrogant auftritt, und auf den Frauen reihenweise hereinfallen. Moritz‘ Mutter Marie und Raffaels Mutter Sabrina sind ihrer ungeplanten Schwangerschaften wegen im Städtchen Hallein bei Salzburg gelandet und dort unglückliche Außenseiterinnen. Im Jahr vor der Matura wird mit der Neuen in die Klasse, Johanna, das Duo zum Trio. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf und nur Moritz bleibt schließlich in Hallein zurück, anstatt wie geplant die Kunstakademie in Berlin zu besuchen. 16 Jahre hört Moritz so gut wie nichts von Raffael, doch dann steht er vor der Tür, unmittelbar bevor Moritz zum ersten Mal Vater wird. Raffael ist, wenig überraschend, kriminell geworden, Moritz fällt spontan in die alte Abhängigkeit zurück. Als auch Johanna überraschend dazustößt, wird die alte Geschichte neu aufgerollt.

Erzählt wie ein Mosaik
Mareike Fallwickl erzählt in gekonntem Aufbau abwechselnd teils aus der Ich-Perspektive Maries, teils in personaler Erzählweise aus der Sicht von Moritz oder Johanna, nicht aber von Raffael. Jeder Erzählabschnitt ist durch nicht chronologisch geordnete Jahreszahlen unterteilt. Neben der Gegenwart 2017 wird unter anderem zurückgeblendet ins Jahr 1982, als Marie mit Moritz schwanger wurde, 1986, als Moritz und Raffael sich erstmals begegneten, in Etappen der Jungenfreundschaft bis zur Triobildung 2000 sowie in das dramatische Jahr danach. So entsteht ein Mosaik aus Lebenssplittern, die sich nach und nach zum Gesamtbild zusammensetzen.

Eine interessante Idee ist Moritz‘ titelgebende synästhetische Veranlagung, die ihn bei Menschen Farben wahrnehmen lässt. In Bezug auf den zurückgekehrten Raffael liest sich das so:

Das Grün ist dunkler geworden, viel dunkler, tief und massiv, fast schwarz. Es füllt den Raum, bis an die Decke strahlt es. Einst war Raffael knospengrün, raupengrün, wie Zuckererbsen in ihrer frisch geöffneten Schote, an manchen Tagen limonenhell. Schwarze Flecken hat das Grün bekommen, wie Schimmel.

Bedingt empfehlenswert
Für mich war Dunkelgrün fast schwarz an vielen Stellen eine Mischung aus einem Zuviel und Zuwenig: zu viele Seiten mit zu wenig Inhalt, zu viel Schwarz-Weiß-Malerei, zu viel unglaubwürdiges Verhalten der Personen und zu wenig Weiterentwicklung, zu viel Auserzählen und zu wenig Raum für Fantasie, zu viele Metaphern, zu viele Klischees, zu viel schlechter Sex und zu viele beschworene Emotionen. Weglegen konnte ich das Buch trotzdem nicht, dafür war ich zu neugierig auf die Ereignisse nach der Matura.

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast schwarz. Frankfurter Verlagsanstalt 2018
www.fva.de

Eduardo Halfon: Duell

  Lebenssplitter

Eduardo Halfon, geboren 1971 in Guatemala und 1981 in die USA ausgewandert, lebt heute zwischen beiden Ländern und ist, nachdem er ursprünglich Industrial Engineering studierte, inzwischen Professor für Literatur unter anderem an der University of Iowa. Für mich war Duell die erste Begegnung mit seinem Werk. Was mich am meisten an diesem nur 110 Seiten umfassenden Roman fasziniert hat, sind die Themenfülle, die Herkunfts-Vielfalt seiner jüdischen Familie und die zwischen Realität und Fiktion schwebende Erzählweise.

Familiengeheimnisse

Er hieß Salomon. Er starb, als er fünf war, ertrunken im See von Amatitlán. So bekam ich es als Kind in Guatemala erzählt. Der ältere Bruder meines Vaters, der erstgeborene Sohn meiner Großeltern, mein potentieller Onkel Salomon, sei im See im See von Amatitlán ertrunken, verunglückt, als er so alt war wie ich, und seine Leiche sei nie gefunden worden.

So beginnt der Roman. Das Rätsel um den kleinen Salomon ist der rote Faden in der Geschichte. Es ist nicht das einzige Ereignis, über das die Familie Stillschweigen bewahrt. Doch viel mehr als die ebenso verschwiegene Vergangenheit des Großvaters aus Łódź, der als Einziger seiner Familie den Holocaust überlebte und nach einer sechsjährigen Odyssee durch KZs 1946 nach Guatemala kam, beflügelt der Tod des Kindes die Fantasie des Ich-Erzählers Eduardo. Zufällig aufgeschnappte Bemerkungen über Schuld verunsichern ihn. Zwei Urgroßväter Eduardos aus Aleppo beziehungsweise Beirut trugen den Namen des Königs der Israeliten, ebenso der im Ghetto von Łódź verhungerte jüngere Bruder des polnischen Großvaters. Doch nun ist der Name in der Familie tabu.

Obwohl der Vater ihm Jahre spätere, als die Familie wegen der Unruhen in Guatemala längst in Florida lebte, eine ganz andere Version erzählt, verlässt Eduardo der Gedanke an den vermeintlich Ertrunkenen nicht. 40 Jahre später kehrt er zum ehemaligen Landhaus der Großeltern am Amatitlán zurück, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Aber so sehr er auch beim ehemaligen Gärtner der Familie, Don Isidoro, und bei einer Heilerin, Doña Ermelinda, nachforscht, unter den traurigen Geschichten über ertrunkene Kinder existiert keine über Salomon.

Skizzenhafte Erzählweise
Überaus kunstvoll verwebt Eduardo Halfons die Erinnerungsschnipsel aus seiner(?) Familiengeschichte. Ohne Kapitelunterteilung springt er zwischen Zeiten und Ländern und zwingt damit zu großer Konzentration. Manch ein Schicksal eines Familienmitglieds böte Stoff für einen eigenen Roman und sehr gerne hätte ich mehr gelesen. Sollte der Autor jemals ein umfangreicheres Buch schreiben – ich wäre garantiert dabei!

Rätsel gab mir nach der Lektüre der deutsche Titel Duell auf, der sich laut Klappentext auf Erfindung und Wahrheit bezieht. Ich tendiere eher zur anderen Übersetzung des Originaltitels Duelo, der auch „Trauer“ oder „Trauerzug“ bedeuten kann, passend zu den melancholischen Lebenssplittern.

Nicht zuletzt eine Suche nach Identität
Immer wieder fielen mir beim Lesen Parallelen zu Saša Stanišićs Roman Herkunft auf. In beiden Romanen beantwortet ein alter Mann die Frage nach dem Woher in gleicher, einfacher Weise, in Eduardos Fall der Gärtner:

Junger Mann, sagte er, Sie werden immer von hier sein.

Eine sehr lohnende Lektüre, die sich wegen der Leerstellen auch besonders gut für Diskussionen in Lesekreisen eignet.

Eduardo Halfon: Duell. Aus dem Spanischen von Luis Ruby. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de

Markus Orths: Luftpiraten

  Blitz und Donner – was für ein Kinderbuch!

Wer bisher dachte, Luftlöcher wären einfach leerer Raum, der wird im Kinderbuch Luftpiraten von Max Orths eines Besseren belehrt. Nein, Luftlöcher sind die Behausungen finsterer Gesellen, der Luftpiraten:

„Im Gegensatz zu den Piraten auf dem Meer sind Luftpiraten hoch über den Wolken Einzelgänger. Raue Gesellen sind das, die ständig schlechte Laune haben, verbittert und griesgrämig. Und weil sie so griesgrämig sind, ist die Haut der Luftpiraten grieselgrau. Weite, lange Umhänge verbergen den mächtigen Brustkorb. So einen Brustkorb braucht ein Luftpirat, um tief Luft zu holen vor dem Brüllen. Denn ein Luftpirat brüllt oft und laut.“

Im Anderssein lautert Gefahr
Einer dieser unerfreulichen Gesellen ist Doktor Amadäus Adiaba, Luftpiratenlehrer am Johann-Sebastian-Krach-Gymnasium in der Luftstadt Ätheria, bei dem die Luftpiratenkindern in ihrem zweiten Lebensjahr das Blitzen, Streiten, Brüllen, Hässlich-Lachen und viele andere nützliche Schlüsselqualifikation lernen. Eigentlich ist er damit von der Aufzucht eigener Kinder befreit, trotzdem erhält er eines Tages ein Luftpiratenbaby im Paket zugestellt, der üblichen Zuteilungsweise des Luftpiratennachwuchses. Dem ersten Schock folgt ein zweiter: Sein Luftpiratenkind ist nicht aschgrau, wie es sich gehört hätte, sondern schneeweiß, das rechte Auge kann nicht blitzen und es schreit nicht, sondern strahlt ihn freundlich an. Der griesgrämige, verbitterte Eigenbrötler Adiaba kann es kaum fassen, aber in Windeseile erobert das Kind sein Herz. Dabei müsste er den Weißen Luftpiraten, die „Missgeburt“, eigentlich laut Luftpiratengesetzbuch sofort ertränken, anderenfalls droht ihm lebenslange Haft im Tafelberg. Stattdessen tauft er das fröhliche Kind auf den Namen Zwolle, kauft ihm zur Gesellschaft einen Luftikus und versteckt ihn vor der Gemeinschaft. Dumm nur, dass Zwolle an seinem ersten Geburtstag unbedingt wie alle anderen Luftpiratenkinder in die Schule möchte und sich nicht davon abbringen lässt. Nun wird es trotz Verkleidung und List brandgefährlich für Vater und Sohn. Ein Glück, dass Zwolle mit seinem verwandlungsfreudigen Luftikus, seiner überaus temperamentvollen Mitschülerin Franka, dem klugen Professor Theodor Rättich und dem Hauch-und-Geist-Wesen Charley Gottchen Unterstützung gegen den Alleinherrscher Peer Dekret, dessen Spiegelglatte und den gefährlichen Kugelblitz Zephyr hat…

Ein Kinderbuch mit Klassiker-Potential
Luftpiraten
ist nicht nur ein höchst spannendes Abenteuerbuch für Kinder ab acht Jahren, zum Vorlesen auch schon ab sechs, es ist ein Roman, in dem mit überbordender Fantasie eine komplexe Welt erschaffen wird. Die altersgerechten, manchmal comichaft anmutenden Illustrationen und kleinen Verzierungen in Schwarz-Weiß-Blau-Tönen von Lena Winkel sind genauso spielerisch leicht wie der Text. Besonders gut gelungen ist das Layout des gefährlichsten Kapitels Nummer 23 auf schwarzem Untergrund. Die genialen Wortspiele, vor allem rund um die Themen Luft und Wetter, machen Kindern wie Erwachsenen großen Spaß; Erklärungen wie die für die Milchstraße (die überschüssige Milch aus den Wolken, die in den Wolkereien nicht zu Wolkereiprodukten verarbeitet werden kann) oder für Platzregen (ein Luftpirat platzt vor Wut und seine 90% Wasseranteil platschen auf die Erde) sind von bestrickender Logik. Nichts wirkt in dieser Geschichte gekünstelt oder hohl, die Sprachbilder und Wortspiele sitzen und der große Spaß, den Markus Orths beim Ausdenken und Schreiben sicher hatte, überträgt sich nahtlos auf die (Vor-)Lesenden.

Markus Orths: Luftpiraten. Mit Illustrationen von Lena Winkel. Ueberreuter 2020
www.ueberreuter.de

Sara Paborn: Blybröllop

  Ende einer Ehe

Eine rabenschwarze Komödie im Stile Ingrid Nolls ist der Roman Blybröllop („Eisenhochzeit“) der 1972 geborenen schwedischen Autorin Sara Paborn, der auf Deutsch unter dem Titel Beim Morden bitte langsam vorgehen bei der DVA erschien. Ich habe ihn in der Originalsprache gelesen, was mit einem Niveau von B1/B2 problemlos möglich war. Hierbei versteht man auch das Wortspiel, das Sara Paborn vielleicht erst auf die Idee zu dieser sehr skurril-unterhaltsamen Geschichte brachte, denn die schwedische Vokabel „gift“ bedeutet sowohl „Gift“ als auch „verheiratet“.

Genug ist genug
Sechs Jahre ist es her, dass Irene genug von ihrer demütigenden Ehe mit Horst hatte. Andere hätten wohl über Scheidung nachgedacht, aber diese Lösung erschien ihr unerfreulich, fantasielos und konventionell. Stattdessen entschied sie sich für die radikalere Variante Giftmord, die ihr anstatt einer Teilung der Besitztümer eine satte Lebensversicherung bescherte. Denn ist eine Ehe nicht wie ein Krieg und muss daher mit dem Tod eines Kontrahenden enden? War Horsts Leben in den vergangenen 15 Jahren überhaupt lebenswert? Was ist schon eine Scheidung, verglichen mit einem Gifttod à la Nero? Lebte er nicht schon länger als der durchschnittliche Schweden vor 100 Jahren? Lange genug, fand jedenfalls Irene, und schritt zur Tat.

Zu Macht und Freiheit
In einem alten Notizbuch, das sie vor mehr als 40 Jahren von ihrer Mutter bekommen und für besondere Zwecke aufbewahrt hat, legt die Ich-Erzählerin sachlich und detailliert Bericht ab. Wir erfahren von der ersten Begnung mit Horst und wie enttäuschend ihre Ehe mit einem egoistischen, gleichgültigen und gefühlskalten Mann verlief, der sie und ihre geliebten Bücher aus der gemütlichen Dachkammer in den Keller verdrängte und nur für seine Kabel und seine Hightech-Musikanlage lebte. Der zufällige Fund alter Vorhänge ihrer Mutter mit den zugehörigen Bleibändern schien da wie ein Wink des Schicksals. Plötzlich hatte sie eine Vision, eignete sich Kenntnisse in Chemie an, funktionierte ihre Küche um zum Labor und stellte Bleizucker her. Zuerst war dessen Anwendung nur ein Gedankenspiel, mit dem ihre Lebensfreude zurückkehrte, doch mit dem ersten Löffel in Horsts Kaffee brach der Damm und die unscheinbare Frau verfolgte aufmerksam und neugierig die Symptome und den allmählichen Verfall ihres Opfers. Äußere Umstände begünstigten ihr Vorgehen und machten sie von Tag zu Tag mutiger und selbstbewusster. Mit Horsts zunehmender Hinfälligkeit hielt sie auf einmal beim Fernsehen die Fernbedienung in der Hand, stellte den Heizungsthermostat ein, bestimmte den Speiseplan und eroberte die Dachkammer zurück.

Bitterböser Humor
Obwohl der Ausgang des Romans von Beginn an klar war, habe ich das Geschehen und die detaillierte Schilderung des Verbrechens in Irenes Plauderton mit größter Spannung und – ich gestehe – mit einer gehörigen Portion Schadenfreude verfolgt. Wie konnte aus der duldsamen, zurückhaltenden Bibliothekarin eine derart abgebrühte Mörderin werden? Würde der arglose Horst irgendwann misstrauisch werden? Und warum konnte sie nach der Tat unbehelligt ein Häuschen auf dem Land beziehen?

Blybröllop ist eine ebenso schwarze wie vergnügliche Lektüre über eine ungewöhnliche Befreiung, bei der es die Ich-Erzählerin mühelos schaffte, mich auf ihre moralisch mehr als fragwürdige Seite zu ziehen.

Sara Paborn: Blybröllop. Brombergs 2018
www.brombergs.se

Kirsten Boie: Das Lesen und ich

  „Für mich war Lesen wie Magie“

 

Keine Schriftstellerin und keinen Schriftsteller habe ich so häufig live erlebt wie die von mir hochgeschätzte Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie – bei Lesungen für ihre Hauptzielgruppe, beim Interview oder bei einer Veranstaltung für pädagogische Fachkräfte – und immer mit großem Gewinn.


Vorkämpferin für das Lesen

Anlässlich ihres 70. Geburtstages am 19. März 2020 veröffentlichte der Oetinger Verlag Kirsten Boies Streitschrift zum Thema Lesen. Für ihr großes Engagement wurde die ehemalige Lehrerin im Juni 2019 auf den Buchtagen in Berlin hochverdient mit der Plakette „Förderin des Buches“ geehrt. Aufgeschreckt durch Studien, nach denen fast ein Fünftel der deutschen Zehnjährigen nicht sinnentnehmend lesen kann, aber auch durch eigene Erfahrungen bei Lesungen in Grundschulen, startete Kirsten Boie im Sommer 2018 mit vielen prominenten Erstunterzeichnern die „Hamburger Erklärung“ mit Forderungen an die Politik zur Förderung der Lesekompetenz.

Sachtext und Autobiografie
Eingerahmt werden die 17 kurzen Kapitel von einem exzellenten Vorwort der ehemaligen Oetinger-Verlegerin Silke Weitendorf und Kirsten Boies Rede anlässlich der Preisverleihung. Dazwischen geht es um ihren eigenen Weg zum Lesen, der als Kind von Eltern ohne höhere Schulbildung und einem Haushalt fast ohne Bücher nicht unbedingt vorgezeichnet war. Um so mehr setzt sie sich heute für Kinder aus benachteiligten Familien ein, um ihnen das Lesen als „Nadelöhr hinein in die Gesellschaft“ zu ermöglichen und so zur Gerechtigkeit beizutragen. Neben den vielen rationalen Gründen für gute Lesekompetenz wie Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, bessere Rechtschreibung, Anregung der Fantasie und Steigerung von Empathievermögen und Intelligenz ist es aber vor allem die Freude am Lesen, die sie vermitteln möchte. Auch wenn heute nicht mehr gilt, „wer etwas anderes erleben wollte als das eigene bescheidene Nachkriegs-Kinderleben, der musste Bücher lesen“, so erschließen Bücher noch immer fremde Welten, produzieren innere Bilder und fördern die Auseinandersetzung mit sich selbst. Wie Kirsten Boie kann ich mir kein Leben ohne Bücher vorstellen, auch ich wäre ohne die Bücher meiner Kindheit und Jugend heute ein anderer, sehr viel ärmerer Mensch. Dass ich Langeweile nur vom Hörensagen kenne, verdanke ich meinen Büchern.

Trotz ihres leidenschaftlichen Plädoyers ignoriert oder verurteilt Kirsten Boie jedoch keineswegs die heutigen Lebensumstände. Filmen, Computerspielen oder YouTube & Co. billigt sie selbstverständlich einen Platz im Kinderalltag zu, allerdings können sie Bücher nicht ersetzen. Und auch bezüglich der Buchauswahl ist sie sympathisch entspannt, geht es ihr doch viel mehr um das Lesen an sich als um die Art der Lektüre.

Ehrlich und authentisch
Dass ich das kleine Büchlein so gerne gelesen habe, liegt einerseits daran, dass Kirsten Boie mir aus dem Herzen spricht und ihre Stimme so authentisch klingt. Es liegt aber auch daran, dass ich mich in vielem wiedererkannt habe, genau wie es beim Lesen sein soll. Während Kirsten Boie in der Nacht vor ihrem mündlichen Abitur zur Beruhigung Bullerbü-Geschichten las, waren es bei mir nach dem Abitur sämtliche Bände meiner geliebten Hanni-und-Nanni-Reihe, die ich nach den Sternchenthemen Fontane, Kleist, Voltaire und Anouilh unbedingt noch einmal brauchte.

Eine Lektüre für alle, die in irgendeiner Form mit Kindern zu tun haben, und die Kirsten Boie genauso schätzen wie ich.

Kirsten Boie: Das Lesen und ich. Oetinger 2020
www.oetinger.de

Mein Fenster zur Welt in Coronazeiten

© B. Busch

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hat in der Corona-Krise Schriftstellerinnen und Schriftsteller überall in der Welt aufgefordert, Blicke aus ihrem Fenster zu werfen und darüber zu schreiben. In loser Folge erscheinen zur Zeit im Feuilleton ausgesprochen lesenswerte Beiträge in der Reihe Mein Fenster zur Welt. So unterschiedlich die Texte auch sind, zeigen sie doch alle eindrücklich, dass wir in der Isolation nicht alleine sind.

Sehr empfehlenswert ist auch die Vertonung der Beiträge durch Mitglieder des Berliner Ensembles.

Die einzelnen Beiträge mit dem Datum der Veröffentlichung auf der Homepage der FAZ:

Simon Strauss: Ausblick über den Krisenrand, 17.03.2020 (einleitender Beitrag)

Josua Cohen: New York City – Hosen anziehen nicht vergessen, 21.03.2020

Leïla Slimani: Ich habe keine Angst, weil mir all das sehr unwirklich erscheint, 23.03.2020 (Normandie)

Antonio Scurati: Mailand – Ein Zeitalter geht hier zu Ende, 24.03.2020

Aris Fioretos: Stockholm – Mein Schreibtisch ist ein fliegender Teppich, 25.03.2020

Richard Ford: Auf dem Rad nach nirgendwo, 28.03.2020 (East Boothbay, Maine)

Etgar Keret: Der Preis der Oliven, 30.03.2020 (Tel Aviv)

Olga Tokarczuk: Jetzt kommen neue Zeiten!, 01.04.2020 (Breslau)

Han Dong: Zwei Süchte wurden von mir ferngehalten, 02.04.2020 (Hubei)

Thomas Hürlimann: Diesen Posten werde ich halten bis zuletzt, 04.04.2020 (Walchwil)

Sarah Stricker: Lasst eure Handys am Schabbat an, 05.04.2020 (Tel Aviv)

Angela Bubba: Ein Möwenflügel in der Dunkelheit des Sturms, 06.04.2020 (Kalabrien)

Ilma Rakusa: Zerbrechlich wie eine Eierschale, 08.04.2020 (Zürich)

Amir Hassan Cheheltan: Gott der Müllhalde, 11.04.2020 (Teheran)

Siri Hustved: Auch Worte können ansteckend sein, 14.04.2020 (Brooklyn)

Javier Cercas: Nur darauf kommt es jetzt an!, 15.04.2020 (Barcelona)

Simon Stranger: Ein pochender Schmerz, ein brennendes Mal, 17.04.2020 (Oslo)

Aleš Šteger: Wie weiterleben nach dem Ende, 20.04.2020 (Ljubljana)

Eva Sichelschmidt: Nachts werden die Züge zu Pfeilen, 22.04.2020 (Berlin)

Valerie Fritsch: Kuckucksuhren in einer vakuumkranken Welt, 23.04.2020 (Graz)

John Banville: Mensch im Kellerloch, 27.04.2020 (Dublin)

Andrzej Stasiuk: Sehen, wie der Tag aufsteht, 07.05.2020 (Wołowiec)

Amalie Langballe: Es will uns nichts lehren, 08.05.2020 (Fünen)

Alawiya Sobh: Die Menschen vergiften ihre Hunde, 09.05.2020 (Beirut)

Serhij Zhadan: Schutzmasken trägt nur die Facebook-Schicht, 13.05.2020 (Ukraine)

Fernando Vallejo: Es wird weniger gemordet, 14.05.2020 (Medillín)

Adam Zagajewski: Güte und Mut frisch vereint, 16.05.2020 (Krakau)

Jean-Philippe Toussaint: Jetzt nicht über Projekte sprechen!, 18.05.2020 (Brüssel)

Franz Schuh: Wenn man die Stille dröhnen hört, 19.05.2020 (Wien)

Marius Ivaškevičius: Alles bleibt gleich, nur anders, 20.05.2020 (Vilnius)

Jan Wilm: Die Verlorenen sind die Interessantesten, 23.05.2020

Daniel Kehlmann: Wer ohne Maske ist, wählt Trump, 01.06.2020 (New York)

Danke an die FAZ für die tolle Idee!

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Rezensionen zu Büchern und Veranstaltungen dieser Autorinnen und Autoren auf diesem Blog:

             

Graham Swift: Da sind wir

  Von der Zauberei zur Magie

Eine Dreiecksgeschichte steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Graham Swift, jenem britischen Autor, der spätestens mit Ein Festtag auch international bekannt wurde. Aber nicht was er erzählt, macht Da sind wir zu einem ganz besonderen Roman, vielmehr ist es das Wie, sein Spiel mit Zeitebenen, der komprimierter Stil, die wiederkehrenden Motive und die verschiedenen Blickwinkel in einem Text, der völlig ohne Kapiteleinteilung auskommt. Einzig der Titel vermag nicht die Mehrdeutigkeit des englischen Originaltitels Here We Are wiederzugeben.

Der Varieté-Sommer 1959
Der Hauptteil der Handlung spielt im Jahr 1959 und vor allem in einem Varieté für die Sommergäste im englischen Seebad Brighton. Dort ist Jack Robbins, der „Flinke Jack“, bereits zum zweiten Mal als Conférencier engagiert und führt durch eine schillernde Show. In diesem Jahr hat er seinem Freund aus dem gemeinsamen Militärdienst, Robbie Deane, ein Engagement als Zauberer verschafft. Der hat sich extra dafür eine Assistentin gesucht, Evie White, eine ehemalige Revuetänzerin, und gemeinsam treten die beiden Verlobten als „Pablo und Eve“ auf. Im Laufe der Saison verfeinert Robbie sein Programm, lässt die gewöhnlichen Zaubertricks immer mehr hinter sich zugunsten wahrer Magie, erarbeitet sich den begehrten Platz als letzte Nummer der Show und ganz oben auf den Plakaten, bis er schließlich zum „Großen Pablo“ avanciert, aber gleichzeitig Evie verliert.

Vor und nach dem Varieté-Sommer
Am meisten erfahren wir über Ronnies Vergangenheit und seine zwei Kindheiten: der ersten vor dem Krieg bei seiner Mutter unter ärmlichen Verhältnissen im Londoner Stadtteil Bethnal Green mit einem kaum anwesenden Vater, die zweite während seiner Kinderlandverschickung nach Oxfordshire zwischen 1939 und 1945. Wäre der Loyalitätskonflikt nicht gewesen, der Junge hätte das Leben dort in bescheidenem Luxus, in Sicherheit und liebevoll umsorgt uneingeschränkt genießen können:

Genau betrachtet hatte er zwei Kindheiten gehabt – fast schon zwei Leben -, und die zweite hatte die erste verdrängt. Er war von einem Ehepaar, den Lawrences, aufgenommen und wie ihr eigener Sohn aufgezogen worden. Und nicht nur das – Mr Lawrence, Eric Lawrence, war zudem Zauberer, dem es in Kriegszeiten an Gelegenheiten mangelte, seinen Beruf auszuüben.
Doch dann war der Krieg vorbei, und dieses – wie sollte man es nennen? – verzauberte Leben musste nicht nur ein Ende haben, es lief sogar wieder in die Gegenrichtung.

In einer weiteren Zeitebene treffen wir Evie 50 Jahre nach dem Varieté-Sommer, die auf ihr erfülltes Leben zurückblickt, auf Höhen und Tiefen, aber auch auf Geheimnisse.

So viel Magie
Geheimnisvoll wie so vieles andere in der Geschichte ist der prächtige Papagei vom Cover, den der Vater einst von einer Seereise mitbrachte, von Ronnie geliebt, von der Mutter kurzerhand verkaufte. Er taucht bei der Abschiedsvorstellung in Brighton wie aus dem Nichts anstatt der Taube auf. Illusion? Magie?

Es ist kaum zu glauben, wieviel Graham Swift auf nur knapp 160 Seiten zu erzählen vermag. Auch das grenzt an Magie.

Graham Swift: Da sind wir. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. dtv 2020
www.dtv.de

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

  Jäger und Gejagte

Der abendliche Besuch des Eismanns mit seinem Wagen in der Siebzigerjahre-Fertighaussiedlung am Wald ist ein wiederkehrender Höhepunkt im ansonsten bedrückenden Alltag der namenlosen Ich-Erzählerin und ihres jüngeren Bruders Gilles. Doch der Traum vom Eis mit Sahne wird zum Alptraum, als an einem Sommerabend die Sahnemaschine explodiert und das Gesicht des freundlichen Verkäufers zerfetzt. Ein Ereignis, das alles verändert, und nicht das letzte Gesicht, das in dieser Geschichte zerstört wird.

Ein Trauma und seine Folgen
Vielleicht hätte das traumatische Erlebnis in einer funktionierenden Familie aufgefangen werden können, der sechsjährige Gilles wäre nicht versteinert und hätte sein Milchzahnlächeln behalten. So aber fühlt sich die zehnjährige Schwester verpflichtet, den geliebten Bruder zu retten und ihm sein Lächeln zurückzugeben. Stattdessen nimmt die Leere in seinen Augen beständig zu:

Da begriff ich, dass die Druckwelle der Explosion einen Zugang zu Gilles‘ Kopf freigelegt und das Monster, das unter unserm Dach hauste, diesen Zugang genutzt hatte, um sich in meinem kleinen Bruder einzunisten.

„Das Monster“ ist die ausgestopfte Hyäne im Trophäenzimmer des Vaters, eines passionierten Großwildjägers, der die ängstliche Mutter vor den Augen der Kinder brutal misshandelt. Ist er nicht auf Jagdreise, ist sie seine Beute.

Die Zeit zurückdrehen
In der Ich-Erzählerin reift ein fantasievoller Plan zu Gilles‘ Rettung vor seinen Dämonen. Eine Zeitmaschine könnte nicht nur den Tod des Eismanns, sondern auch die Gewaltexzesse des Vaters ungeschehen machen:

Da rief ich mir ins Gedächtnis, dass das, was ich da sah, letztlich nicht von Bedeutung war – weil ich schon bald mit meiner Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würde. In meiner neuen Zukunft, in meinem wirklichen Leben würde all das nicht geschehen.

Während der Bruder mit zunehmendem Alter seine Aggressionen an wehrlosen Tieren austobt und zusehens unter den Einfluss des Vaters gerät, muss die Ich-Erzählerin sich von der unmittelbaren Umsetzung ihres Planes verabschieden. Sie wendet sich stattdessen der Physik zu, die ihre große Leidenschaft wird. Aber auch hier lauert Gefahr:

… denn allmählich begriff ich, dass das kleinste bisschen Ambition meinerseits ihn [den Vater] feindselig stimmte. Er erwartete von mir, dass ich wie meine Mutter wurde. Eine schlaffe, leere Hülle ohne eigene Ziele und Wünsche.

Zunehmend wird auch sie zur Beute des Vaters und zum Ziel seiner sadistischen Einfälle. Anders als die Mutter ist sie jedoch nicht bereit, die Opferrolle widerspruchslos anzunehmen:

Tief in meinem Innern wuchs etwas heran, das größer, das gewaltiger war als ich. […] Dieses Tier wollte meinen Vater verschlingen. Und all die, die mir Böses tun wollten. Und es brüllte so laut, dass es die Finsternis zerriss. Ich war keine Beute mehr. Damit war Schluss. Und auch kein Raubtier. Ich war ich und dieses Ich war durch nichts totzukriegen.

Gewalt und innere Stärke
Das Romandebüt der 1982 geborenen belgischen Dramaturgin und Theaterschauspielerin Adeline Dieudonné, ein Verkaufserfolg in Frankreich, wartet mit schockierend brutalen, für mich teilweise kaum erträglichen Gewaltszenen auf. Andererseits haben mich die innere Stärke der Protagonistin, ihr unbändiges Streben nach einem besseren Leben und der ungeschminkt-sachlich wirkende Bericht über fünf Horrorjahre aber auch beeindruckt.

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. dtv 2020
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