Auf Bewährung
Der Genfer See – für viele ein Traumziel. Nicht so für Edith Hope, Verfasserin leichter Liebesromane mit „bescheidenem, aber sicherem Verkaufserfolg“. Das Hotel du Lac ist für sie Ort der Verbannung nach einem gesellschaftlichem Fauxpas. Passend zu ihrer Stimmung hüllen sich See und Garten bei ihrer Ankunft in düsteres Grau, der Gipfel der Dent d’Oche ist kaum zu erahnen, ihr kleines Einzelzimmer am Ende des Flurs ist „in der Farbe von zu lange gekochtem Kalbfleisch gehalten“ und das Hotel auch sonst nicht anheimelnd:
Was es zu bieten hatte, war eine milde Form von Asyl, garantierte Stille und der Schutz und die Diskretion, die mit Untadeligkeit einhergehen. Da diese Qualität einer überraschenden Zahl von Leuten ganz und gar nicht anziehend erscheint, war das Hotel du Lac gewöhnlich halbleer und beherbergte zu dieser Jahreszeit am Ende der Saison nur noch eine Handvoll Gäste, bevor es den Winter über schloss. (S. 25)
Eine illustre Gesellschaft
Edith Hope möchte die Zeit des erzwungenen Exils zur Fertigstellung von „Unter dem aufgehenden Mond“ nutzen, ihrem neuesten Manuskript, in dem wie immer „das bescheidene Mädchen, die graue Maus, den Helden bekommt“. Doch wider Erwarten muss sie das Schreiben immer wieder aufschieben, bieten doch die anderen Bewohnerinnen des Hotels, allesamt aus unterschiedlichen Gründen Verbannte, nicht nur jede Menge Anlass zu Betrachtungen und Überlegungen, sie ziehen Edith auch in ihre glücklos verlaufenen Schicksale und bedienen sich ihrer als Zuhörerin und Verbündete. Hier wie in London spürt man instinktiv Ediths Unsicherheit und das fehlende Selbstbewusstsein, versucht sie zu beeinflussen und benutzt sie für eigene Interessen. Spitzzüngig schildert Edith in nie abgeschickten Briefen an ihren verheirateten Geliebten ihre detaillierten Beobachtungen, weiß aber zugleich um ihre lausige Menschkenntnis. Nicht ungefährlich, vor allem im Hinblick auf den undurchsichtigen Engländer Philip Neville, der sich wie alle bemüht, die blasse, unscheinbare Edith auf seine Seite zu ziehen…
Innenleben geht vor Handlung
Weniger das Geheimnis um Ediths Skandal, das Anita Brookner erst im neunten von zwölf Kapiteln lüftet, sorgte bei mir für Spannung, vielmehr hat mich die Frage nach ihrer zaghaften Entwicklung und ihrer Zukunft interessiert. Überraschend altmodisch mutet das Ambiente an, die beschriebenen Kleider ebenso wie antiquierte Moralvorstellungen und Benimmregeln sowie die Bedeutung der Ehe, selbst für wirtschaftlich unabhängige Frauen. Allerdings hat eben dies den Charme der Geschichte für mich ausgemacht.
Die Wiederentdeckung wert
Anita Brookner (1928 – 2016) erhielt für ihren vierten Roman Hotel du Lac 1984 überraschend und nicht unumstritten den Booker Price. Ohne die stärker favorisierten Titel zu kennen, erscheint mir die Auszeichnung wegen der Eleganz der Sprache, der leisen Ironie, des Wortwitzes, der feinen Figurenzeichnung, der Dialoge und der stimmigen Atmosphäre berechtigt. Nach den Neuauflagen von Tarjei Vesaas Das Eis-Schloss und Vicky Baums Vor Rehen wird gewarnt war Hotel du Lac in diesem Jahr bereits meine dritte lohnende Neuentdeckung eines modernen Klassikers.
Elke Heidenreichs interpretierendes Vorwort zieht interessante Parallelen zu anderen Werken von Anita Brookner. Lesen sollte man es, genau wie den Klappentext, erst nach der Lektüre des Buches.
Anita Brookner: Hotel du Lac. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Aus dem Englischen von Dora Winkler. Eisele 2020
eisele-verlag.de
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