Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren

  Ein starkes Stück Norwegen

Alle drei Teile der norwegischen Insel-Saga von Roy Jacobsen hat der Verlag C.H. Beck 2019 in einem Band vereinigt: Die Unsichtbaren, Weißes Meer und Die Augen der Rigel, wobei der erste Buchtitel Namensgeber für die Gesamtausgabe wurde. Dieser erste Teil erschien im Original 2013, dann 2014 im Osburg Verlag auf Deutsch und 2015 unter dem Titel In jenen hellen Nächten im Insel Verlag, wo ich ihn 2017 für mich entdeckt habe. Teil zwei und drei, ursprünglich von 2015 und 2017, sind nun erstmals auf Deutsch erschienen.

Die Unsichtbaren
Dass die Norweger nicht immer so reich und privilegiert wie heute lebten, erfährt man im ersten Teils der Barrøy-Saga. Auf einer fiktiven Insel dieses Namens vor der nordnorwegischen Helgelandküste, kaum einen Kilometer lang und einen halben breit, lebt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Eigentümerfamilie Barrøy: Vater Hans, seine Frau Maria, deren einziges Kind Ingrid, das beim Einsetzen der Geschichte im Jahr 1913 drei Jahre alt ist, Hans‘ geistig behinderte Schwester Barbro und sein Vater Martin.

In kurzen Kapiteln ist man hautnah dabei, wenn sie dem menschenfeindlichen Klima mit Stürmen, Eis, manchmal auch Hitze und Trockenheit, trotzen. Sie leben von dem, was die karge Landschaft hergibt, Fisch, Torf, Eiderdaunen, Enteneier, Milch, Schafsfleisch, Kartoffeln und Treibgut. Alles andere tauschen sie bei ihren Ausflügen zum zwei Ruderstunden entfernten Handelskontor ein. Die Jahreszeiten bestimmen den Lebensrhythmus und die ersten Monate jedes neuen Jahres verbringt Hans beim ebenso kräftezehrenden wie gefährlichen Fischfang auf den Lofoten. Zusammenhalt ist das Zauberwort, das ein Überleben in dieser unwirtlichen Umgebung erst ermöglicht. Die Wortkargheit der Inselbewohner wird durch indirekte Rede und die monotone Wiederholung des Verbs „sagte“ hervorgehoben, nicht unbedingt schön, aber sehr eindrücklich. Nichts wird besprochen, sondern einfach nur getan, sei es, dass die Führung vom Vater auf den Sohn übergeht, die Frauen eigene Stühle bekommen oder ein Kai gebaut und die Insel an die Milchroute angeschlossen wird, wodurch die Bewohner erstmals ein Stück weit aus ihrer Unsichtbarkeit gerissen werden.

Weißes Meer
Blieben Barrøy und seine Bewohner vom Inferno des Ersten Weltkriegs noch weitgehend unberührt, so kommt der Zweite Weltkrieg in Gestalt von Flüchtlingen aus der Finnmark, angeschwemmten Ertrunkenen und des schwerverletzten russischen Kriegsgefangenen Alexander auf die Insel. Ingrid, inzwischen Eigentümerin von Barrøy und zeitweise alleine dort, rettet ihn, auch wenn dafür die Todesstrafe droht.

In diesem zweiten Teil habe ich viel über die deutsche Besatzung Norwegens erfahren, zum Teil parallel nachgelesen, um die Handlung zu verstehen. Über die Zwangsevakuierung von 50 000 Bewohnern der von der Wehrmacht in Schutt und Asche gelegten Finnmark wusste ich vorher nichts, ebenso wenig über den Untergang des von den Deutschen requirierten und zum Gefangenentransporter umfunktionierten norwegischen Frachters Rigel, den britische Bomber am 27.11.1944 versenkten. Mit etwa 2500 Toten, die meisten russische Kriegsgefangene, war es die größte norwegische Schiffskatastrophe.

Kriegsgräberstätte Tjøtta an der norwegischen Helgelandküste für die Opfer der Versenkung der MS Rigel am 27.11.1944. © B. Busch

Die Augen der Rigel
Teil drei führt Ingrid im ersten Nachkriegssommer 1946 weg von Barrøy und auf der Suche nach Alexander durch ein kaum befriedetes Nachkriegs-Norwegen. Sie begegnet ehemaligen Grenzlotsen, Partisanen, Kollaborateuren und Mitläufern, Menschen, die sich nicht erinnern möchten, die ausweichen, die sie heimschicken möchten. Zu Fuß, mit der Eisenbahn, in Bussen und Schiffen kämpft sie sich mit ihrer kleinen Tochter vor dem Bauch Hunderte von Kilometern über das „verworrene Schlachtfeld des Friedens“, sehr gut nachzuverfolgen auf den beiden Landkarten vorn und hinten im Buch, die nun plötzlich einen Sinn bekamen.

Auch hier war vieles neu und interessant für mich, beispielsweise hatte ich noch nie vom früheren deutschen Konzentrationslager Mysen gehört, nach dem Krieg ein Sonderlager für „displaced persons“ aus Osteuropa.

Über 600 Seiten und keine zuviel
Alle drei Teile haben mir auf ihre Art sehr gut gefallen, Die Unsichtbaren wegen der starken Naturbeschreibungen und Charakterzeichnungen am besten. Hier spürt man, dass Roy Jacobsen die Sommer seiner Kindheit auf einer ebensolchen Insel, der Heimat seiner Mutter, verbrachte und lange in Nordnorwegen lebte. Die Liebesgeschichte in Weißes Meer ist zwar nicht Norwegen-typisch, dafür kommt aber hier der zeitgeschichtliche Hintergrund besonders gut zum Tragen. In Die Augen der Rigel haben mich Ingrids beharrliche Suche und ihre Begegnungen mit den Menschen im Nachkriegs-Norwegen sehr bewegt, über die Jacobsen sich nie zum Richter aufschwingt.

Auch die Endeckung diese unvergesslichen Leseerlebnisses verdanke ich dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019.

Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann.  C.H. Beck 2019
www.chbeck.de

Jake Williams: Darwins große Reise

  Abenteuer Naturforschung für Kinder

Die Reise mit der Beagle ist das bei weitem bedeutendste Ereignis in meinem Leben gewesen und hat meine gesamte Karriere bestimmt. Alles, worüber ich nachgedacht oder gelesen habe, wirkte sich direkt auf das aus, was ich gesehen hatte oder wahrscheinlich sehen würde; und diese Gewohnheit des Geistes setzte sich während der fünf Jahre der Reise fort. Ich bin mir sicher, dass es diese Ausbildung war, die es mir erlaubte, alles das zu tun, was ich in der Wissenschaft getan habe.

So beschrieb Charles Darwin (1809 – 1882) in seiner Autobiografie rückblickend die Bedeutung seiner Reise mit dem Vermessungsschiff Beagle in den Jahren 1831 bis 1835, die er als junger, wissensdurstiger Naturforscher im Alter von 22 Jahren antrat. Mehr als 20 Jahre nach seiner Rückkehr schrieb er sein Hauptwerk Über die Entstehung der Arten, mit dem er das Wissen über die Natur revolutionierte, die viktorianische Gesellschaft erschütterte und zu einem der wichtigsten Naturforscher aller Zeiten wurde.

Eine Forscherlaufbahn mit Hindernissen
Die Karriere als Naturforscher war Charles Darwin nicht in die Wiege gelegt. Harte Kämpfe musste er mit seinem Vater ausfechten, der ihn lieber als Arzt gesehen hätte, ehe er auf eine zunächst für zwei Jahre geplante Weltreise gehen konnte, mit dem Auftrag, exotische Pflanzen und Tiere zu untersuchen und zu sammeln. Es wurden fast fünf Jahre und nahezu 65 000 Kilometer mit Stationen auf den Kapverden, in Brasilien, Argentinien, den Falkland-Inseln, Chile, Peru, den Galapagos-Inseln, Tahiti, Neuseeland, Australien, Tasmanien und den Kokos-Inseln. Seine zahlreichen tierischen, pflanzlichen und fossilen Mitbringsel sowie seine Protokolle wurden Grundlage seines weiteren Forscherdaseins.

Evolution kindgerecht erklärt…
Das wunderschöne Kinder-Sachbuch Darwins große Reise erzählt kindgerecht davon, wie es zu dieser Reise kam, welche Ausrüstung nötig war, wie abenteuerlich und schwierig sie für den häufig seekranken Darwin verlief, welche Gefahren zu überstehen waren, was er beobachtete und wie diese Unternehmung das zeitgenössische Denken und Verstehen veränderte.

…und illustriert
Die Texte sowie die digital erstellten, großflächigen, sehr klaren und in angenehmen Farben kollorierten Illustrationen stammen von Jake Williams, einem englischen Illustrator, der 2017 vom Business Design Center London als „Designer of the Year“ ausgezeichnet wurde. Sie veranschaulichen die gut verständlichen Texte optimal und bis auf die sehr kantigen Gesichter gefallen sie mir ausnehmend gut. Besonders hilfreich sind die vielen Landkarten, die die geplante ebenso wie die tatsächliche Route und die vielen Stationen immer wieder zeigen und zum Innehalten einladen. Anhand einzelner Beobachtungen an Tieren, Pflanzen und Versteinerungen erklärt das Buch sehr gut nachvollziehbar, welche Fragen Darwin sich stellte und welche Antworten er fand. Den Finken auf den Galapagos-Insel widmet Jake Williams drei große Doppelseiten, aber auch Beobachtungen beispielsweise an Tintenfischen, Cracker-Schmetterlingen, Nandus, Glühwürmchen, Taranteln, Dampfschiffenten, Pinguinen, Kolibris, Riesenschildkröten, Echsen und Schnabeltieren werden ausführlich dargestellt.

Dieses Buch über die spannende Entdeckungsreise Darwins und seine Schlussfolgerungen, die das Prinzip der Evolution auf hervorragende Weise erlebbar machen, hat mich auf ganzer Linie begeistert. Ich empfehle es wärmstens zum gemeinsamen Lesen und Betrachten für Kinder ab sechs Jahren und Erwachsene.

Jake Williams: Darwins große Reise. Übersetzung: Kathrin Lichtenberg und Claudia Koch. Midas 2019
issuu.com/midasverlag

Elena Ferrante: Tage des Verlassenwerdens

  Dramatisches Ende einer Ehe

Elena Ferrantes vierbändige neapolitanische Saga, allesamt Bestseller, habe ich ausgesprochen gern gelesen: Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes. Nun veröffentlicht der Verlag Suhrkamp das Frühwerk Ferrantes, und auch hier hat mir Frau im Dunkeln, im Original von 2006, trotz der schwierigen Protagonistin gut gefallen. Tage des Verlassenwerdens, ihr zweiter Roman von 2002, auf Deutsch 2003 weitgehend unbeachtet geblieben, hat mir weniger Freude gemacht. Zu extrem war der Absturz der Ich-Erzählerin, zu obszön die Sprache in der ersten Hälfte der Geschichte und etwas zu glatt das Ende. Trotzdem hat auch dieser Roman einen typischen Ferrante-Sog, resultierend aus der erstaunlich klarsichtigen Protokollierung eines eigenen Zusammenbruchs.

Vertreibung aus der bürgerlichen Idylle

An einem Nachmittag im April verkündete mir mein Mann kurz nach dem Mittagessen, dass er mich verlassen wolle. Wir räumten gerade den Tisch ab, die Kinder zankten wie gewohnt im Zimmer nebenan, der Hund lag vor der Heizung und knurrte im Traum. Er sagte, er sei verwirrt, er fühle sich manchmal furchtbar müde und unzufrieden, vielleicht auch gemein. Er sprach ausführlich über unsere fünfzehn Ehejahre und die Kinder und gab zu, dass er wieder ihnen noch mir das Geringste vorzuwerfen hatte.

Für die 38-jährige Olga kommt zu Beginn des Romans die Mitteilung ihres Mannes Mario vollkommen überraschend. Sie hat sich in ihrer Ehe eingerichtet, ist ihrem Mann zuliebe immer wieder umgezogen und zuletzt nach Turin gefolgt, hat die eigene Berufstätigkeit und die schriftstellerischen Ambitionen aufgegeben, war für Haushalt, Essen, den zehnjährigen Gianni, die siebenjährige Ilaria und sämtliche Unannehmlichkeiten des Alltags zuständig, währenddessen ihr Mann den Aufstieg aus ihrer beider unterprivilegierter neapolitanischer Herkunft vorantrieb. So überrumpelt ist sie, dass sie ihm zunächst gar nicht glaubt. Erst als sie nach und nach die Endgültigkeit begreift und Mario in Begleitung einer altbekannten jungen Rivalin sieht, setzen Panik, Wut und eine nicht aufzuhaltende Abwärtsspirale ein:

Ich begann mich zu verändern. Innerhalb eines Monats hörte ich auf, mich ordentlich zu schminken, ich wechselte von einer eleganten Ausdrucksweise, in der ein Bemühen um Rücksicht lag, zu einem durchgängig sarkastischen Ton, der von leicht ordinären Lachanfällen unterbrochen wurde. Obwohl ich mich dagegen wehrte, gab ich mit der Zeit auch den Obszönitäten nach.

Ein Schreckensbild aus der Kindheit
Besonders gut gefallen hat mir die Figur der „poverella“ aus Olgas Kindheit. Diese ehemals energische, fröhliche Frau war, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, wahnsinnig geworden und hatte sich schließlich das Leben genommen. Olga fürchtete deren Schicksal seit drei Jahrzehnten. Erst als sie diese Schreckensvorstellung überwindet, kann sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen.

Elena Ferrante: Tage des Verlassenwerdens. Aus dem Italienischen von Anja Nattefort. Suhrkamp 2019
www.suhrkamp.de

Meine Lese-Highlights 2019

Die allerbesten Bücher bewegen dich dazu, die Welt um dich herum zu überdenken. (Nicola Yoon)

Meine liebsten Bücher 2019 sind nicht alle in diesem Jahr erschienen, sie haben mich aber im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt, im besten Falle mein Denken und meine Sicht auf die Welt verändert und/oder mich besonders gut unterhalten. Mein Kriterium ist dabei weder, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, noch die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Titeln, die für mich im genau richtigen Augenblick kamen.

Durch das ganze Jahr begleiteten mich die ersten drei Bände aus der neuen Erstleserreihe von Silke Schlichtmann, beginnend mit Mattis und das klebende Klassenzimmer. Silke Schlichtmann schreibt aus Kindersicht vor Fantasie sprühende Geschichten voller Wortwitz, nie belehrend und nie banal.

Im Frühling waren Machandel von Regina Scheer, ein großartiger, bereits 2014 erschienener Roman über 70 Jahre deutsche und speziell DDR-Geschichte, sowie Bella Ciao von Raffaela Romagnolo über das Schicksal zweier Frauen vor dem Hintergrund Italiens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Entdeckungen für mich.

Noch bevor Saša Stanišić für Herkunft völlig zu Recht im Oktober auf der Buchmesse mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, war ich im September von der Lektüre, später auch vom Hörbuch völlig begeistert. Inhalt, Sprache, Ernst und Humor machen dieses berührende, kluge, hochaktuelle und zugleich so unglaublich positive und unterhaltsame Buch zu einem Highlight für mich.

Noch nie hat mich ein Gastland-Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse so inspiriert wie in diesem Jahr. Seit Oktober habe ich deshalb viele Bücher aus Norwegen gelesen und das bleibt auch noch eine Weile so. Åsne Seierstads Biografie des rechtsextremen norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik und einiger seiner Opfer, Einer von uns, hat mir schlaflose Nächte bereitet. Die Frage, wann ein Mensch zum Monster wird, beschäftigt mich immer noch. Dieselbe Überlegung liegt Simon Strangers hervorragendem Roman Vergesst unsere Namen nicht zugrunde, in dem es um die jüdische Familiengeschichte seiner Frau und den norwegischen Nazikollaborateur Henry Otto Rinnan geht. Als Kontrastprogramm dazu habe ich zuletzt mit großem Vergnügen Nina Lykkes ebenso bissige wie unterhaltsame Ehe- und Gesellschaftssatire Aufruhr in mittleren Jahren gelesen.

Vier der genannten Autorinnen und Autoren bin ich zu meiner großen Freude im Jahr 2019 persönlich begegnet: Regina Scheer hat am 10. April 2019 im Botnanger Buchladen aus ihrem ebenfalls empfehlenswerten Roman Gott wohnt im Wedding gelesen, Saša Stanišić habe ich am 16. Oktober im ARD-Forum auf der Frankfurter Buchmesse erlebt und Åsne Seierstad und Simon Stranger beim Kaffeslabberas zwei Tage später im Gastland-Pavillon getroffen. Mein persönlicher Höhepunkt war jedoch die Organisation einer unvergesslichen Veranstaltung am 23. Oktober in der Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule Stuttgart mit Simon Stranger vor weit über hundert begeisterten Gästen.

Simon Stranger: Barsakh

  Festung Europa

Die 15-jährige Emilie aus einem Osloer Nobelvorort macht mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Urlaub auf Gran Canaria. Die Magersucht hält sie fest im Griff, seit der unbedacht gewählte Kosename des Vaters und die kränkende Bemerkung eines Schulkameraden ihre Kindheit schlagartig beendet haben.

Beim Joggen entdeckt Emilie an einem einsamen Strand ein Flüchtlingsboot und rettet den 18-jährigen Samuel aus Ghana und seine halbtoten westafrikanischen Mitflüchtlinge. Auf der Flucht vor der Perspektivlosigkeit ihrer Heimat, angezogen von Verheißungen westlicher Fernsehserien, haben sie sich mit den Ersparnissen ihrer Familien auf den Weg nach Europa gemacht, sich Menschenschmugglern anvertraut und mit dem Aufbruch an der Küste Senegals ihr Leben riskiert:

An der Mauer stand ein Mann und malte: ein rotes Boot, darin Silhouetten von Menschen. Einige waren über Bord gefallen und versanken im Wasser. Auf der anderen Seite hing die spanische Flagge. BARSAKH stand mit großen Buchstaben über dem Boot. Samuel ging zu dem Maler, blieb stehen und sah ihm zu […]. Sie grüßten sich kurz. Samuel zeigte auf die Buchstaben. Barsakh. „Was bedeutet das?“, fragte er leise. Der Mann sah ihn an. Schien sich über das Interesse zu freuen. […] „Im Islam ist Barsakh eine Art Zwischenstadium, in das man nach dem Tod eingeht“, erläuterte der Maler. „Ein Ort, an dem man auf das Jüngste Gericht wartet.“

Wer rettet wen?
Für Emilie, die sich bisher nicht für das Thema interessiert hat, verändert die Begegnung alles. Auf den ersten Blick ist sie es, die Samuel rettet, doch das Zusammentreffen mit den Flüchtlingen wird auch für sie zum rettenden Wendepunkt:

In den letzten Tagen hatte sich alles, aber auch alles verändert. Emilie hatte viel geschlafen. An Samuel gedacht. Und geweint. Sie hatte versucht, mehr zu essen. Erst zwei Wochen war es her, dass sie in die Ferien geflogen waren, doch es fühlte sich an wie ein anderes Leben, wie eine andere Emilie.

© B. Busch

Zwei Jugendbücher, ein Thema
Simon Stranger thematisiert in seinem auf Norwegisch 2009, auf Deutsch 2011 erschienenen Jugendroman Barsakh, der den Beginn einer Trilogie bildet, die Migration aus Westafrika, Fluchtursachen, gefährliche Routen und geringe Erfolgsaussichten. Der Roman hat mich an das 2011 erschienene Jugendbuch Der Schrei des Löwen von Ortwin Ramadan erinnert, in dem der 16-jähriger Nigerianer Yoba sich ebenfalls nach Europa aufmacht und es in ein Flüchtlingsboot nach Lampedusa schafft, während der wohlstandsverwöhnte deutsche Schulabbrecher Julian gezwungenermaßen mit seinen Eltern den Urlaub auf Sizilien verbringt. In beiden Romanen sind die Handlungsstränge durch unterschiedliche Schrifttypen voneinander abgesetzt, beide richten sich an Jugendliche ab 13, sind äußerst berührend, zielgruppengenau geschrieben, moralisieren nicht und verzichten auf Schwarz-Weiß-Malerei. Yobas Fluchtweg nimmt mehr Raum ein als Samuels, dafür fand ich Emilie interessanter als Julian.

Simon Stranger bei „Literatur am Vormittag“ in der Cotta-Schule in Stuttgart am 23.10.2019. © M. Nickel

Bei einer Veranstaltung in der Cotta-Schule am 23.10.2019 in Stuttgart zu seinem Buch Vergesst unsere Namen nicht war deutlich zu spüren, welch große Ausstrahlung Simon Stranger auf Jugendliche und junge Erwachsene hat und wie er für seine Themen begeistert. Ich finde es daher ausgesprochen schade, dass mit Barsakh nur eines seiner topaktuellen Jugendbücher ins Deutsche übersetzt wurde und selbst dieses nur noch antiquarisch erhältlich ist.

 

Simon Stranger: Barsakh. Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. bloomsbury 2011

Nina Lykke: Aufruhr in mittleren Jahren

  „Glück kommt, Glück geht“

Ein eingefahrenes Paar Anfang 50 und eine junge Frau mit einsetzender Torschlusspanik sind die Protagonisten im Debütroman der 1965 geborenen Norwegerin Nina Lykke. Stünde das gestickte Haus auf dem ins Auge fallenden Cover nicht in Flammen, man könnte an eine Idylle denken – so idyllisch, wie das Leben der 50-jährigen Ingrid auf den ersten Blick: Studienrätin mit attraktivem Arbeitsplatz, gutverdienender Ehemann, zwei erwachsene Söhne ohne offensichtliche Probleme, bürgerliche Existenz, schönes Haus in einem Osloer Vorort, Mitgliedschaft im Lesekreis. Nichtsdestotrotz steht Ingrid vor dem Burnout. Zuhause ist sie nicht mehr als die Putzfrau ihrer verwöhnten Söhne, die sich im Hotel Mama bequem eingenistet haben, ihre Ehe ist bis ins Detail durchorganisiert und vorhersehbar, ihr Einfühlungsvermögen und Mitleid für Schüler und Kollegen aufgebraucht, Müdigkeit und Wut haben Besitz von ihr ergriffen und jeder Tag fühlt sich wie ein Hindernislauf an:

Nichts in ihrem Leben war mehr eine Frage der Lust, dennoch tat sie, was verlangt wurde, weil es zu unangenehm wäre, es zu unterlassen. […] Man beißt die Zähne zusammen. Schläft regelmäßig mit seinem Mann, hält sich und seine Umgebung in Ordnung, geht zu Konferenzen und Terminen, spricht freundlich mit seinen Kindern, benimmt sich anständig, pinkelt nicht in die Hose und schlägt nicht leck.

Die Bombe explodiert
Für Ingrid, die ihr Leben lang mit Katastrophen gerechnet hat, kommt der große Schlag völlig überraschend: Ihr Mann Jan, gerade erst zum Referatsleiter im Ministerium befördert, beichtet ein 18 Monate währendes Verhältnis mit einer seiner Referentinnen und verlangt eine Auszeit. Entscheiden zwischen der Bequemlichkeit seiner Ehe, in der er nie unzufrieden war, und dem Reiz des Neuen mag er sich nicht sofort, manchmal sehnt er sogar eine plötzliche Erkrankung herbei, die ihm die Entscheidung abnimmt und ihn zurück an den heimischen Herd katapultiert. Bei der leicht neurotischen 35-jährige Hanne mit der immer lauter tickenden biologischen Uhr, die in den letzten Jahren neunmal ihre Wohnung und wesentlich öfter ihre Partner gewechselt hat, fühlt er sich wieder jung und potent. Er weiß, dass sie ihn auf Haus und Kind festnageln wird, doch als sie ihm die Pistole auf die Brust setzt, zieht er trotz Bedenken bei ihr ein:

Seine Gier kannte keine Grenzen, er wollte haben, was er sich wünschte, ohne dafür zu bezahlen. Er wollte schlicht und einfach alles haben.

Eine bissige Ehe- und Gesellschaftssatire
Auch wenn die Ausgangslage in diesem Roman keineswegs neu ist, die Erzählweise, die messerscharfe Beobachtungsgabe und die bissige Ironie Nina Lykkes haben diesen intelligenten Roman zu einer äußerst vergnüglichen, spannenden Lektüre für mich gemacht. Die Handlung wird in zehn Kapitel nicht streng chronologisch, dafür abwechselnd aus der recht unterschiedlichen Sicht der drei Protagonisten erzählt – mit großem Unterhaltungswert. Obwohl die Figuren nie bloßgestellt werden, machte die Schadenfreude für mich einen nicht unerheblichen Teil des Lesevergnügens aus.

Wie so viele wunderbare Bücher in diesem Jahr habe ich auch Aufruhr in mittleren Jahren beim großartigen Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse entdeckt.

Nina Lykke: Aufruhr in mittleren Jahren. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger und Sylvia Kall. btb 2019
www.randomhouse.de

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

  Swim!

Jedes Jahr versuchen über 100 Personen, den Ärmelkanal zwischen Dover und Calais bzw. Cap Griz-Nez unter Wettbewerbsbedingungen zu durchqueren, erlaubt sind nur konventionelle Badebekleidung, Schwimmbrille und das Auftragen einer Fettschicht. Nahrung wird vom Beiboot an einer Stange gereicht, die jedoch nicht berührt werden darf. Wind, Wetter, Strömungen, Tide, eine Wassertemperatur von maximal 17 Grad im August, Unrat und Schiffsverkehr gefährden die Extremsportler auf ihrem Weg durch die befahrendste Wasserstraße der Welt. Was bewegt Menschen zu diesem Wagnis?

Charles, 62, Biochemiker an der Universität Oxford und in einer Lebenskrise, möchte sich durch den sportlichen Gewaltakt über seine Vergangenheit, aber auch über seine Zukunft Klarheit verschaffen. Seine Vision von einem müßigen Ruhestand ist geplatzt, seit ihm seine Frau Maude eine Ménage-à-trois mit seinem ehemals besten Freund Silas, der zugleich sein Vorgänger war, vorgeschlagen hat. Damals, vor etwa 40 Jahren, waren sie zu viert, eigentlich sogar zu fünft, ein kompliziertes Beziehungsgeflecht während dreier gemeinsamer Sommer, das Charles während des Schwimmens noch einmal Revue passieren lässt. Seit er vor 13 Monaten aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist und nach 37 Jahren Ehe eine Auszeit vereinbart hat, trainiert er für die Kanalüberquerung:

Seit er allein lebte, empfand er, wie begrenzt die ihm verbliebene Lebenszeit war, er spürte seine Sterblichkeit. Aber auch Maudes. Regelmäßig schalt er sich dafür: De facto war nichts daran vor seinem Auszug anders gewesen, doch dieser vernünftige Ist-gleich-Gedanke besserte sein Elend nicht, er vertiefte es. […] Sie fragte nicht, wie er seine Tage verbrachte. Garantiert nahm sie an, dass er sich in seinem Labor verkroch. Charles, einfallslos. Dank seiner Schwimmpläne konnte er ihr ins Gesicht blicken. Wie sie sich täuschte!

Minutiös schildert Ulrike Draesner in ihrem nur 176 Seiten umfassenden Roman die Kanalüberquerung mit allen technischen Details, äußeren Bedrohungen und inneren Kämpfen. Dieser Handlungsstrang hat mich viel mehr gefesselt als der Rückblick auf das Beziehungsdrama eines Helden, dem ich nicht so recht nahekam. Ob so viel Kopfkino während einer derartigen körperlichen und psychischen Grenzerfahrung überhaupt möglich ist, sei dahingestellt.

Gehadert habe ich mit der sehr lyrischen Sprache, die für mich mit zu vielen Metaphern überfrachtet war. Auch den Sinn der kurzen englischen Einsprengsel habe ich nicht verstanden. Sehr gelungen fand ich dagegen die kunstvolle Verschränkung der beiden Handlungsstränge und die durchgängig hohe Spannung, die sich aus zwei Fragen speist: Wird Charles die Kanaldurchquerung schaffen und wird sie ihm dabei helfen, mit sich ins Reine zu kommen?

Absolut herausragend ist die Ausstattung des Buches mit einem sehr feinen blauen Leineneinband, Lesebändchen und genial passender Covergestaltung.

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer. mare 2019
www.mare.de

Rudolf Borchardt: Krippenspiel

  Bibliophil und hinreißend illustriert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterhielten die verwitwete Julie von Degenfeld und ihre Schwägerin und Gesellschaftsdame Ottonie Gräfin von Degenfeld-Schonburg auf Schloss Neubeuern im bayerischen Inntal einen Freundeskreis aus Künstlern verschiedener Richtungen, zu dem unter anderem Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Eugen Roth, Franz von Lenbach und Henry van de Velde gehörten. Vom Schriftsteller und Lyriker Rudolf Borchardt (1877 – 1945) erbat sich die Gräfin 1920 ein Krippenspiel, das von den Kindern bei der Weihnachtsfeier im Schloss aufgeführt werden sollte. In der Nacht vom 18. zum 19. Dezember 1920 verfasste Borchardt deshalb diese Auftragsarbeit, die der Claudius Verlag nun in einer entzückenden bibliophilen Ausgabe mit wunderbaren Scherenschnitten neu aufgelegt hat. Das sehr informative Nachwort über die Entstehungs-, Druck- und Aufführungsgeschichte, den Werkkontext, Figurencharakteristik und regiepraktische Hinweise sowie die Textgestaltung stammt von Gunilla Eschenbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Literaturarchiv Marbach, das den Nachlass Borchardts beherbergt, und Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart.

Kennt man die Entstehungsgeschichte und die ursprüngliche Bestimmung des Stücks, so verwundert nicht, dass Borchardt das gesamte Spiel der Einfachkeit halber im Stall ansiedelte und mit Maria, Josef, drei Hirten, drei Königen und Engeln in beliebiger Zahl und ohne eigenen Text auch nur wenige Mitspieler vorsah. Das Erlernen der Texte dürfte für die kleinen Darstellerinnen und Darsteller aufgrund der Kürze der Zeit trotzdem eine Herausforderung gewesen sein.

Maria steht im Zentrum
Borchardts Krippenspiel mischt die verschiedenen Evangelienberichte und rückt Maria mit dem größten Redeanteil klar in den Mittelpunkt. Während Josef zu Beginn ängstlich ist und fürchtet, seine Familie nicht angemessen versorgen zu können, strahlt sie Ruhe, Zuversicht, Erhabenheit und Freude aus, der er sich schließlich nicht entziehen kann. Beim Auftritt der Hirten finden sich bereits Hinweise auf das Kreuz und die Nägel, dem dritten König muss Maria die Angst vor ihrem Kind nehmen:

Ach Tor, ach reicher Tor, hör an,
Ach König, armer reicher Mann,
Ich sage dir fürwahr, mein Kind
Sitzt nie, wo deine Kinder sind…

Eine beglückende Weihnachtslektüre
Mir hat diese Bearbeitung des alten Stoffes mit den erstaunlich modern wirkenden Figuren sehr gut gefallen, allen voran Maria, die sowohl die Bedenken von Josef als auch die des dritten Königs zu zerstreuen vermag. Der in Reimpaaren verfasste Text liest sich gut, ob er allerdings mit seiner altertümlichen Sprache für die heutige Aufführung durch Kinder im Grundschulalter geeignet ist, bezweifle ich. Falls man sich doch dafür entscheidet, gibt Gunilla Eschenbach hilfreiche Hinweise zur praktischen Umsetzung. Anderenfalls macht das fadengeheftete kleine Hardcover-Bändchen aber auch bei der Lektüre und beim Betrachten der Scherenschnitte große Freude.

Rudolf Borchardt: Krippenspiel. Herausgegeben von Gunilla Eschenbach. Claudius 2019
www.claudius.de

Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum

  Eine Nation am Abgrund

Lange reizte es mich, die Biografie von Lea Deutsch zu schreiben. Sie war eine gefeierte Schauspielerin und wurde im Alter von sechzehn Jahren ermordet. Bei meinen Recherchen fand ich wenig über ihr Leben, dafür aber viele Gründe, warum man in Zagreb ungern über sie spricht…

So begründet Miljenko Jergović im Anhang zu seinem im kroatischen Original 2006, auf Deutsch 2019 erschienenen Roman Ruth Tannenbaum seine Entscheidung für eine fiktive Titelfigur. Sie steht auch weniger im Mittelpunkt des Buches, als ich es nach Titel und Klappentext vermutet hätte. Vielmehr sind es ihre Eltern, Nachbarn, der Großvater, Theaterleute, die gewöhnlichen Bewohner Zagrebs in den Jahren 1920 bis 1943, Angehörige verschiedener Nationalitäten und Religionen. Leider wusste ich bisher so gut wie nichts über diese finstere Periode und Miljenko Jergović setzt viel Wissen über die politische Situation auf dem Balkan beim Leser voraus, weshalb ich ein erklärendes Vor- oder Nachwort begrüßt hätte. So habe ich mir die Informationen über das Schicksal Kroatiens nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs aus dem Internet geholt, dabei von der Vereinigung Kroatiens und Sloweniens mit Serbien im Jahr 1918 erfahren, von der Königsdiktatur im Königreich Jugoslawien unter Aleksandar I., der 1921 das Parlament auflöste, und vom aufkommenden Nationalismus, der schließlich im Faschismus mündete.

Einer, der immer zwischen allen Stühlen saß, war der Unglücksrabe Salomon Tannenbaum, genannt Moni, der unbedingt dazugehören und nichts weniger sein wollte als Jude. 1928 heiratete er Ivka, die Tochter des Lebensmittelhändlers Abraham Singer, ohne jedoch von dessen Reputation zu profitieren. Ivkas riesige „Kinderschreck-und-Männerfänger-Augen“ erbte die gemeinsame Tochter Ruth, die damit zum Kinderstar am kroatischen Nationaltheater aufstieg. Die Karriere der Tochter weckte bei Salomon Träume:

Noch hatten sich die Veränderungen im Leben der Familie Tannenbaum nicht herumgesprochen, aber wenn, würde Salomon nicht mehr ängstlich den Bürgersteig räumen, um andere vorbeizulassen, vielmehr würden die anderen zur Seite treten und ihn vorbeilassen. Dann war er kein Waschlappen mehr, Schlappschwanz ade, seht nur, der Herr Papa unserer kroatischen Shirley Temple…

Doch auch wenn Ruth für das Gastspiel im Nationaltheater in Wien den Namen Christine Horvath annahm, das Publikum ihr zujubelte und die Eltern Singers weitsichtiges Angebot von Schiffspassagen nach Amerika blind zurückwiesen, war der Untergang des Judentums in Zagreb nicht mehr aufzuhalten:

Selbst Menschen, die nie hässlich von anderen gedacht hatten, waren nun schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Juden Jesum Christum verraten und gekreuzigt haben. Das bekommen sie in der Kirche erzählt, das lernten die Kinder in der Schule, keiner konnte es sich anders vorstellen, keiner zweifelte an dem, was die Pfaffen über die Juden erzählten.

Ruth Tannenbaum war für mich eine fordernde, düster-bedrohliche Lektüre. Bedauert habe ich, dass es keine wirklich sympathische Figur im Roman gab, die verwöhnte, oft boshafte Ruth eingeschlossen. Selbst der nette Weichensteller aus dem Kellergeschoss wird zum mordenden Ustascha und die Tannenbaums gehen verbal und handgreiflich gegen schwächere Juden vor. Die Verbindung zwischen dem Schicksal der Familie Tannenbaum und dem der ganzen Nation ist Miljenko Jergović dagegen hervorragend gelungen und der von Brigitte Döbert in ein wunderbares Deutsch übertragene Roman ist packend bis zur letzten Seite.

Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum.  Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co. 2019
www.schoeffling.de

Madeline Miller: Ich bin Circe

  Die Hexe von Aiaia

Obwohl ich als Jugendliche Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums mit großer Freude gelesen habe, waren die griechischen Götter seitdem weitgehend aus meinem Blickfeld verschwunden. Mit Ich bin Circe, der fiktiven Autobiografie der Zaubergöttin aus der Hand der US-amerikanischen Altphilologin Madeline Miller, hat sich das glücklicherweise geändert. Die Begegnungen ihrer Circe mit den Figuren der griechischen Mythologie hat mir Zeus & Co., die Welt der Olympier und Titanen, die Geschichten von Prometheus, Glaukos, Skylla, Daidalos, Minotaurus, Ariadne, Ikarus, Achilles, Odysseus, Athene, Hermes und vieler anderer wieder sehr nahe gebracht. Doch so interessant diese Charaktere auch sind, so reichen sie doch nicht an Millers Circe heran, der mit ihrer Entwicklung von der unterdrückten, ängstlichen Tochter zur selbstbestimmten, selbstbewussten Frau eindeutig meine Sympathien gehören.

Verbannung als Chance
Als Tochter des Sonnengottes Helios und der schönen Perse wächst Circe einsam im Schatten ihrer angeseheneren, glanzvolleren Geschwister auf. Früh fühlt sie, die von der eigenen Familie verachtet wird, sich zu Sterblichen hingezogen, zeigt Empathie, wo sie Leid spürt, und experimentiert mit Kräutern, eine von den Göttern gefürchtete Gabe. Ihre Verbannung auf die einsame Insel Aiaia, verhängt von Zeus und ihrem Vater Helios und gedacht als Strafe, wird für sie zum Schritt in die Freiheit. Hier kann Circe endlich leben, singen, wilde Tiere zähmen, den eigenen Garten anlegen und ihre Zauberkräfte ausbilden. Mit ihren wachsenden Fähigkeiten steigt auch ihr Selbstbewusstsein, sie setzt sich gegen ungebetene Besucher mit List, notfalls mit Brutalität, aber nie unreflektiert zur Wehr. Gleichzeitig bleibt sie aber auch eine Frau, die sich in Liebe völlig hingibt oder sich – wie im Fall von Hermes – berechnend nimmt, was sie haben möchte.

Ein Besucher, der alles ändert
Mit der Ankunft von Odysseus auf Aiaia ändert sich Circes Leben noch einmal von Grund auf. Nicht nur, dass sie mit diesem Sterblichen unvergessliche Monate verbringt und den gemeinsamen Sohn Telegonos zur Welt bringt, erschien mir die besorgte, ängstliche alleinerziehende Circe menschlicher denn je.

Ann Vielhaben liest
Mit gut 12 Stunden bietet das Hörbuch mit dem wunderschönen, klassisch gestalteten Cover nur eine gekürzte Version des Romans, und obwohl ich sonst vollständige Lesungen vorziehe, habe ich nichts vermisst. In der ersten Hälfte schien mir die Zahl der Figuren aus der griechischen Mythologie mit ihren Kurzauftritten sogar etwas zu hoch und der Überblick fiel mir nicht immer leicht. Mit der Ankunft von Odysseus wurde das Geschehen dann übersichtlicher und ich habe mich über die erneuten Begegnungen mit nunmehr „alten Bekannten“ gefreut.
Die Hörbuchstimme von Ann Vielhaben war für mich neu. Gut gefallen hat mir ihr weicher Klang und insgesamt habe ich ihr nach kurzer Eingewöhnung gerne zugehört. Allerdings wäre mir weniger Schauspielerei lieber gewesen und die gedehnten Silben am Satzende empfand ich im Laufe der langen Hörzeit als zu gleichförmig. Trotzdem werde ich Ich bin Circe ganz bestimmt noch öfter anhören, denn es steckt viel mehr in diesem Roman, als man beim ersten Hören erfassen kann.

Madeline Miller: Ich bin Circe. Aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd. Gelesen von Ann Vielhaben. Random House Audio 2019
www.randomhouse.de