Landleben in Yorkshire

Wieviel leichter es Kindern gelingt, Gräben zwischen unterschiedlicher Herkunft und Lebensumständen zu überbrücken, davon erzählt Jane Gardam in ihrem erstmals 1981 erschienenen kurzen Roman Bell und Harry.
Bell Teesdale ist der Sohn einer Farmerfamilie aus Yorkshire und in der ersten Episode acht Jahre alt, Harry Bateman, geringfügig jünger, ist Sohn intellektueller Londoner. Während es unter den Erwachsenen immer wieder zu Missverständnissen kommt und die Verständigung zwischen Dorfbewohnern und ruhebedürftigen Sommerfrischlern zu Beginn schwierig ist, werden die beiden Jungen schnell zu Freunden und bewahren ihre Freundschaft bis ins Erwachsenenalter. Erst allmählich fühlen sich alle Batemans in Light Trees, dem gepachteten Bauernhaus der Teesdales, so wohl, dass sie nicht nur ihre Sommer dort verbringen, sondern auch im Winter in ihr zweites Zuhause kommen. Sie lernen die manchmal äußerst schrulligen Dorfbewohner kennen und verstehen, schließen Freundschaften und hören die teils gruseligen, teils mystischen Geschichten und Legenden, die die Bewohner so gerne erzählen.
Für mich war Bell und Harry der erste Roman von Jane Gardam. Er hat mir vor allem stilistisch und wegen der ruhigen, humorvollen Erzählweise gefallen: „«Sagt mal gleich im Dorf Bescheid. » «Die wissen das anscheinend schon» sagte Harry. «Dabei hat meine Mutter es nur im Fish und Chips Shop erzählt.» «Sollte reichen», sagte Mr Teesdale.“ Jane Gardams Art, in eine Szene die Gedanken der Nicht-Anwesenden einzublenden, ist äußerst raffiniert. Während Harry und Bell verbotenerweise in einen aufgegebenen Stollen eindringen und sich großer Gefahr aussetzen, denkt die ahnungslose Mrs Bateman: „Der einzige Grund, weshalb ich es bereuen würde, hierhergekommen zu sein, wäre, wenn einer der Jungs in die Minen einsteigen würde“, und Bells Großvater warnt Harrys Bruder vor eben diesen Minen: „Wer auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde sich nie in die Nähe wagen.“ Ganz besonders mochte ich, wie Jane Gardam die neun Kapitel miteinander verwebt. Was an einer Stelle völlig nebensächlich erscheint, wird an anderer bedeutsam und bildet die Klammern, mit denen die einzelnen Episoden aus über 20 Jahren zusammengehalten werden. Die wechselnde Erzählperspektive – zu Beginn berichtet der achtjährige Bell, am Ende dessen elfjährige Tochter Anne, meist jedoch ein auktorialer Erzähler – macht die Lektüre abwechslungsreich.
Einzig den Blick ins Jahr 1999, während der Entstehungszeit des Romans ein Blick in die Zukunft, mit einer neuen Energiekrise und einer Rückkehr zu Pferd und Dampfzug, fand ich weniger gelungen. Abgesehen davon ist das auch optisch wunderschöne Buch jedoch sehr lesenswert.
Jane Gardam: Bell und Harry. Hanser Berlin 2019
www.hanser-literaturverlage.de




Passend zum Fontanejahr 2019 und während einer zweiwöchigen Fahrradtour durch seine Heimat Brandenburg wollte ich gerne eine Biografie über Theodor Fontane lesen. Ich war daher zunächst enttäuscht, dass das dafür ausgewählte Buch von Katharina Grätz Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk nur zu einem Fünftel der gut 260 Seiten Lebensbeschreibung ist. Danach geht es im zweiten Teil um „Fontanes realistische Romanpoetik“ in den Kapiteln drei bis neun um einzelne Werke, unterteilt in „Historische Romane“, „Kriminalerzählungen, Mordgeschichten“, „Eheromane“, „Standesromane“, „Zeitromane“ sowie „Lyrik und Balladen“. Gelesen habe ich die beiden ersten Kapitel, dazu die Einleitungen zu den Kapiteln drei bis neun und die Werkanalysen zu Effi Briest, meinem ehemaligen Abiturthema und mir daher wohlvertraut, zu Unwiederbringlich, einem durchaus interessanten Eheroman, dessen ausufernde Schilderung des deutsch-dänischen Konflikts mir aber viel abverlangt hat, und zum Kriminalroman Unterm Birnbaum, den ich parallel dazu gelesen habe.
Im Rahmen der Feiern zum Fontanejahr 2019 konnte ich am 23.04.2019 in der Kulturkirche Neuruppin eine großartige Lesung von Rainald Grebe und Tilla Kratochwil mit Briefen der Eheleute Fontane erleben. Alles kommt auf die Beleuchtung an hat mich darauf gut vorbereitet.




Im März 1946 kehrt die wohlhabende Witwe Mrs. Giulia Masca in das piemontesische Dorf Borgo di Dentro zurück, aus dem sie 45 Jahre zuvor schwanger und fast mittellos geflohen war. Damals hatte sie für ihre überstürzte Flucht ein Ticket dritter Klasse auf einem Überseedampfer gekauft, nun kommt sie in einer Erste-Klasse-Kabine in Genua an. Während ihr Sohn Michael angeblich in Geschäftsangelegenheiten für die familieneigenen „Groceries“ unterwegs ist, bleibt ihr Zeit für einen Besuch in ihrem Geburtsort. Doch was will sie überhaupt in Borgo di Dentro, wo sie die ersten 20 Jahre ihres Lebens bitterarm verbracht und nach drei Grundschuljahren von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für einen Hungerlohn in der Spinnerei geschuftet hat, die Hände in einer Schüssel mit gekochten Seidenraupen im siedenden Wasser? Was, wenn sie ihrer damals besten Freundin, Anita Leone, wiederbegegnet, in deren Familie sie die Geborgenheit fand, die ihre Mutter ihr nicht bieten konnte? Wegen Anitas doppeltem Verrat hat sie während des großes Streiks Borgo di Dentro im Februar 1901 verlassen. War es Feigheit oder Mut? „Die Vergangenheit gibt es nicht“ ist zu Giulia Mascas Lebensmotto geworden, doch im Dorf trifft sie auf genau diese Vergangenheit.