Otfried Preußler & Annette Swoboda: Hörbe mit dem großen Hut

Die Welt steckt voller Überraschungen

Während die meisten Kinderbuchfreunde bei den Klassikern von Otfried Preußler (1923 – 2013) nur an seine bekanntesten Titel Der kleine Wassermann (1956), Die kleine Hexe (1957), Der Räuber Hotzenplotz (1962) mit den beiden Fortsetzungsbänden (1969 und 1973) sowie Das kleine Gespenst (1966) denken, gehören für mich die zwei leider etwas weniger populären Vorlesebücher um die Abenteuer des sympathischen Hutzelmanns Hörbe zu den absoluten Favoriten. Hörbe mit dem großen Hut (1981) und Hörbe und sein Freund Zwottel (1983) sind nun in sehr liebevoll von Annette Swoboda nachkolorierten Neuausgaben erschienen und machen damit als Vorlesebücher ab fünf Jahren sogar noch mehr Spaß.

Hutzelmann Hörbe ist zwar sehr klein, aber durchaus kein Hutzelmännchen, sondern ein gestandener Korbflechter und Hutmacher, der weiß, was er will. An einem schönen Herbsttag mitten unter der Woche lässt er aus einer spontanen Laune heraus die Arbeit einfach ruhen und begibt sich auf einen Wanderausflug. Als einziger alleinwohnender unter den sonst paarweise lebenden 13 Hutzelmännern im Siebengiebelwald genießt er eine gewisse Unabhängigkeit, ist aber dafür ein wenig einsam. Frohgemut verlässt er an diesem Tag sein Hutzelmannhaus unter einem Reisighaufen nach dahin und dorthin mit dem Vorsatz, am Abend zurückzukehren. Gemäß seinem Motto „Man soll sich nicht in Gefahr begeben, wenn es nicht sein muss“ ist er fest entschlossen, die Worlitzer Wälder zu meiden, wo der gefährliche Plampatsch hausen soll. Doch dann kommt alles anders, denn zunächst attackieren ihn die gefräßigen Ameisen, dann wird er auf den Rabenteichen von einer bedrohlichen Strömung erfasst und gerät schließlich in einen Wasserfall. Ein Glück, dass er seinen genialen Doppelhut hat und Zwottel, der Zottelschratz mit dem Zottelpelz und dem Zi-Za-Zottelschwanz ihm aus der Patsche hilft…

Am Ende seines Ausflugs hat Hörbe nicht nur das Rätsel um den Plampatsch gelöst, sondern auch einen wunderbaren Freund gewonnen, mit dem das Alleinsein ein für alle Male ein Ende hat.

Mit der Figur des Hörbe hat Otfried Preußler unverkennbar ein Wesen aus seiner böhmischen Heimat zum Helden seiner spannenden Geschichte in 27 kurzen Kapiteln gemacht. Der abenteuerliche Ausflug ins Unbekannte und die Begegnung zwischen dem tatkräftigen Hutzelmann und dem unbedarften „geborenen Spaßmacher“ Zwottel sind ein Vorlesespaß, der den kleinen Zuhörern genauso wie den großen Vorlesern auch fast 40 Jahre nach seiner Entstehung immer noch größte Freude macht.

Otfried Preußler & Annette Swoboda: Hörbe mit dem großen Hut. Thienemann 2016
www.thienemann-esslinger.de/thienemann

Claire Hajaj: Der Duft von bitteren Orangen

Gebrochene Versprechen

Salim Al-Ismaeli und Judith Gold stammen aus zwei entgegengesetzten Welten und doch ist es 1967 in London Liebe auf den ersten Blick. Salim hat als Kind nach dem Abzug der Briten sein geliebtes Zuhause, das Orangenhaus mit den Plantagen in Jaffa, an die israelischen Besatzer verloren, kurz darauf hat die Mutter die Familie verlassen und nur den jüngsten Bruder mit in den Libanon genommen. Dank der Hilfe seiner Stiefschwester und seines Schwagers schaffte es Salim nach London und ist unter großen finanziellen Anstrengungen dabei, sein Wirtschaftsstudium erfolgreich abzuschließen. Judith dagegen ist Jüdin, Enkelin aus dem russischen Zarenreich vertriebener Juden, und studiert im ersten Semester Literatur. Obwohl ihre Verbindung in beiden Familien auf grundlegende Ablehnung stößt, sind Judith und Salim sich einig, dass Religion für sie keine Rolle spielen soll. Zunächst scheinen sie einander genug zu sein und die Geburt der Zwillinge Sophie und Marc schweißt sie zusammen. Doch Salims Sucht nach Anerkennung, sein Minderwertigkeitskomplexe, die zunehmenden Unstimmigkeit in Erziehungsfragen, die Radikalisierung seines Bruders, sein Neid auf Judith, die zu den „Siegern“ gehört, und die Nachrichten über kriegerische Auseinandersetzungen im arabischen Raum bringen die Beziehung immer mehr ins Wanken – bis es schließlich zum Äußersten kommt…

Der politische Hintergrund des streng chronologisch erzählten Romans Der Duft von bitteren Orangen ist überaus spannend. Die Autorin Claire Hajaj, die selbst in London geboren wurde und sowohl mit der jüdischen wie mit der palästinensischen Kultur aufwuchs, urteilt nicht über ihre Figuren. Ein Nachwort mit den wichtigsten Stationen des Konflikts wäre allerdings für mich hilfreich gewesen. Die wachsende Wut Salims, sein zunehmendes Zurückschauen und die Instrumentalisierung durch seinen Bruder sind sehr gut herausgearbeitet. Allerdings hätte ich mir gewünscht, die Handlung wäre weniger gefühlvoll und melodramatisch aufbereitet gewesen, denn die gut durchdachte Dramaturgie der Geschichte hat diese wiederholte Betonung von Tränen und Verzweiflung gar nicht nötig. Wie schon bei Kristin Hannahs Die Nachtigall hatte ich mit dieser leichten und melodramatischen Erzählweise und der einfachen Sprache meine Probleme, auch wenn mir das Setting gut gefallen hat. Trotzdem:  Wer einen spannenden, emotionalen und einfach zu lesenden Unterhaltungsroman vor dem Hintergrund des unlösbar scheinenden jüdisch-arabischen Konflikts sucht, der wird ihn hier finden.

Claire Hajaj: Der Duft von bitteren Orangen. blanvalet 2015
www.randomhouse.de

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Einmal Dörpsminsch, immer Dörpsminsch

Zweite Romane gelten als besonders schwierig, vor allem, wenn das Debüt, in diesem Falle Altes Land ein spektakulärer Bestseller war. Auch ich gehe dann mit einem gewissen Bauchgrummeln an diese Nachfolger, doch hat es sich bei Mittagsstundeder Husumerin Dörte Hansen glücklicherweise als absolut unnötig erwiesen.

Schon nach wenigen Sätzen ist klar: Es ist eindeutig Dörte Hansens Stimme, die hier so unverwechselbar erzählt, im Grundton melancholisch, aber trotzdem mit viel Humor, mit vielen plattdeutschen und damit sehr direkten, derben Dialogen, die durchaus auch in Süddeutschland zu verstehen sind. Von den 1960er-Jahren bis heute verfolgt sie das Schicksal des fiktiven nordfriesischen Dorfs Brinkebüll und seiner urigen Bewohner. Wendepunkt für das Dorf und die Menschen war die Flurbereinigung Mitte der 1960er-Jahre, als drei junge Ingenieure vom Katasteramt die Gegend neu vermaßen und das von Gletschern geschliffene und verschrammte Altmoränenland begradigt, geteert, von Findlingen befreit und neu verteilt wurde, so dass die Feldmark nicht wiederzuerkennen war. Von nun an musste weichen, wer nicht wachsen wollte. Nach und nach verschwanden alte Höfe, der Tante-Emma-Laden, die Schule, die Dorfkastanie, die Mühle und die alte Chaussee. Der Dorfkrug von Sönke und Ella Feddersen, ehemals Mittelpunkt des Dorflebens, verlor an Bedeutung. Die Zeit der „Mittagsstunde“, einst Ruhepunkt im Dorfleben und Schutzraum für Heimlichkeiten, war vorbei, nicht nur, weil nun jeden zweiten Donnerstag der Bücherbus lautstark sein Kommen verkündete. Aber es wuchs auch Neues: Städter zogen aufs Land, Künstler übernahmen verlassene Häuser.

Ingwer Feddersen, Enkel von Sönke und Ella und unehelicher Sohn der „verdreihten“ Marret, hat einst 15 Hektar Land und einen Gasthof „liegenlassen“, um in Kiel Archäologie und Frühgeschichte zu studieren. Beruflich hat er es geschafft, ist Hochschullehrer geworden, aber sein Privatleben gleicht mit 47 Jahren einem Desaster. Er hat es nie aus der Studenten-WG herausgeschafft und führt ein Leben, das er selbst als „unsortiert“, „wage“, „schwebend“ und „schief“ empfindet. Nun möchte er sich während eines Sabbaticals um seine über neunzigjähren Großeltern kümmern, um Sönke, der noch immer hinter dem Tresen steht und vom Fest zu seiner bevorstehenden Gnadenhochzeit träumt, und um Ella mit ihrer zunehmenden Demenz. Er möchte eine Schuld begleichen und vielleicht für sich selbst einen Weg zu einem Neuanfang finden.

Es ist eine Lust, die vielen von Dörte Hansen ersonnenen Charaktere kennenzulernen, sei es der Dorflehrer Steensen, durch dessen Schule über dreieinhalb Jahrzehnte alle Brinkebüller Kinder gehen, sei es die energische Dorfladenbesitzerin Dora Koopmann, die Schokoladeneis erst nachbestellt, wenn das Erdbeereis verkauft ist, oder der Pfarrer, der fast an seinen dickschädeligen Schäfchen verzweifelt. Doch so liebevoll Dörte Hansens Blick auf das Dorfleben und den Zusammenhalt auch ist, verschweigt sie doch auch die Schattenseiten nicht: das Wegschauen, wenn Väter ihre Kinder prügeln, die soziale Kontrolle und das Unverständnis für Andersartige(s).

Ich habe eine solch souveräne, unsentimentale Darstellung der Veränderungen des Dorflebens schon einmal gelesen in einem 2016 erschienenen, leider wenig beachteten Roman von Heinrich Maurer mit dem Titel Die vier von der Schusterstaffel, im Schwäbischen spielend, nicht ganz so literarisch, aber trotzdem sehr empfehlenswert. Beide Bücher liegen mir sehr am Herzen.

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Penguin 2018
www.randomhouse.de

Irmgard Kramer & Carola Sturm: Ein Löwe unterm Tannenbaum

  Weihnachtswunder werden wahr

Unterschiedlicher könnten die beiden Vorlesebücher, die ich in diesem Advent gelesen habe, gar nicht sein, obwohl sie beide für kleine Zuhörer ab etwa sechs Jahren, zum Selberlesen ab der dritten Klasse gedacht sind. Der kleine Weihnachtsteufel und der verflixte Wunschzettel von Anna Lott ist ein schräges Weihnachtsbuch mit modernen, teils comicartigen Illustrationen von Nikolai Renger, Ein Löwe unterm Tannenbaum von Irmgard Kramer dagegen eine klassisch-gefühlvolle Weihnachtsgeschichte mit wahren Weihnachtswundern am Ende und niedlichen, konventionellen Schwarz-Weiß-Rot-Illustrationen von Carola Sturm. Beide Bücher werden ihr Publikum ganz sicher finden und beide verkürzen auf ganz unterschiedliche Weise in 24 Kapiteln das Warten auf Weihnachten.

Mit dem kleinen Stofflöwen im „Laden für eh fast alles“ hat es im Dezember eine besondere Bewandtnis. Der zottelige, kuschelige Kerl mit den flauschigen Pfoten, den honiggelben Katzenaugen, der glänzenden Schnauze, den sieben Barthaaren, dem Pinselschanz und dem roten Lederband mit Herz erwacht am ersten Dezember und muss bis zum Heiligen Abend um Mitternacht einen Käufer gefunden haben, der ihn liebgewonnen hat. Dank eines uralten magischen Vertrags darf er lebendig bleiben, wenn er bis dahin nicht zurückgegeben wurde. Nun will er das unbedingt schaffen, denn er hat keine Lust auf ein weiteres Jahr in seiner unbequemen Kiste. Mittels einer klitzekleinen Erpressung bringt er ausgerechnet den eigenbrötlerischen Griesgram und ehemaligen Rockmusiker Richie dazu, ihn zu kaufen, obwohl der absolut nichts von Kindern und Stofftieren hält. Lieber lebt er allein in seiner Kate im Wald. So sieht es zunächst nicht nach einem Happy End aus, denn Richie als Vegetarier hat nichts zu essen für den Löwen im Haus und ist auch wenig angetan von all dem Quatsch in Löwes Kopf. Doch allmählich bröckelt Richies harte Fassade, nicht zuletzt durch das beherzte Eingreifen der neunjährige Lenja aus dem Nachbarhaus und ihrem Freund Robert.

Der Kampf des kleinen Weihnachtslöwen um Liebe und Zuneigung und seine tiefe Verzweiflung, als sein Vorhaben zu scheitern droht, ist herzallerliebst dargestellt, sowohl im Text als auch in den Illustrationen. Klingt kitschig? Ist auch ein bisschen kitschig, aber wann, wenn nicht in der Weihnachtszeit, darf es ein wenig rührselig sein? Daneben ist die Geschichte aber höchst spannend, abenteuerlich und manchmal sogar gruselig, wenn Lenja und der Löwe durch den dunklen Wald laufen. Lenjas kleine Schwester Mia, meine persönliche Lieblingsfigur in dieser Geschichte, die mich an meine jüngste Tochter erinnert, sorgt immer wieder für lustige Momente, ebenso wie die in bester Absicht ausgeführten Streiche des kleinen Löwen.

Und wie es sich für eine echte Weihnachtsgeschichte gehört, wartet am Schluss gleich ein mehrfaches Happy End: „In jener Nacht schliefen sie alle sehr lange nicht ein. Sie spürten dem Glück hinterher. Diesmal hatte es den Löwen nicht im Stich gelassen. Und es war zu Richie gekommen. Und irgendwie zu allen. Kein Wunder. Es war ja Weihnachten.“

Irmgard Kramer & Carola Sturm: Ein Löwe unterm Tannenbaum. Loewe 2018
www.loewe-verlag.de

Nikolai Gogol: Aufzeichnungen eines Irren

Verlust der Realität

In Tagebuchform lässt uns Nikolai Gogol (1809 – 1852) teilhaben am langsamen Abgleiten des 42-jährigen Titularrats Poprischtschin. Als kleiner, mittelloser Beamter ohne Erfüllung im Beruf, der sich erfolglos hochzudienen versucht, verliebt er sich ebenso rettungs- wie hoffnungslos in die Tochter seines Vorgesetzten. Während er zunächst nur Dinge hört und sieht, die kein anderer wahrnimmt, verliert er Stück für Stück immer mehr den Bezug zur Realität, bis er  sich schließlich für den König von Spanien hält. Auch die Daten seiner Tagebucheinträge, die zu Beginn noch korrekt zu sein scheinen, geraten immer surrealer. Er landet schließlich in der Irrrenanstalt, einem Ort, den er ebenfalls nicht mehr realistisch einordnen kann.

Die vollständige Lesung der Erzählung Aufzeichnungen eines Irren aus dem Erzählband Arabesken von 1835 umfasst einschließlich zweier kurzer Musikeinspielungen von Leoš Janáček eine Dauer von 77 Minuten. Der Sprecher Gerd Udo Feller verleiht dem Text, den er eher wie einen Bühnenmonolog vorträgt, eine ganz besondere Intensität, die ich wahrscheinlich beim Lesen nicht so tief empfunden hätte.

Nikolai Gogol: Aufzeichnungen eines Irren. Sprecher: Gerd Udo Feller. Naxos 2000
www.naxos.de

Japanese Art in a Global Context : Collection Roswitha Schulz

  Japanische Druckkunst der Gegenwart – mehr als Lampions und Samurai

Private Sammlungen sind bedauerlicherweise oft nicht zugänglich. Dies gilt auch für die Kollektion japanischer Kunst von Roswitha Schulz. Nach ihrem Studium der Sprachen und der englischen Literatur war sie in einem Automobilunternehmen tätig. Während eines mehr als siebenjährigen Aufenthalts in Japan in den Jahren 2009  bis 2016 entdeckte sie ihre Liebe zur Kunst ihres Gastlandes. Über 200 Kunstgegenstände hat sie bei ihrer Rückkehr nach Deutschland mitgebracht, Gemälde, Drucke, Seidenkimonos und andere Objekte. Grundlage ihrer Erwerbungen waren nicht finanzielle oder spekulative Überlegungen, sondern stets ihr persönlicher Geschmack, weshalb die Sammlung einen individuellen Blick auf die Kultur Japans darstellt und keinen systematischen Ansatz verfolgt. Hierin liegt für mich ihr Reiz. Ich hatte das Glück, einige ihrer Schätze persönlich gezeigt zu bekommen und freue mich deshalb besonders über den soeben erschienenen Katalog, in dem ich viele der mir bekannten Drucke entdeckt habe, fotografisch und drucktechnisch hervorragend wiedergegeben. Der wunderschöne Softcover-Band zeigt eine Auswahl von 33 Druckobjekten aus der Sammlung Roswitha Schulz und erschien anlässlich einer leider ebenfalls nicht allgemein zugänglichen Ausstellung Japanese Art in a Global Context in Berlin.

Die abgebildeten Kunstwerke aus den Jahren 1986 bis 2017 stellen eine interessante Mischung aus verschiedenen druckgrafischen Verfahren auf unterschiedlichen Materialien dar, teils farbig, teils schwarz-weiß. Als Laie auf dem Gebiet der japanischen Kunst war ich vor allem über die Vielfalt der Motive überrascht. Neben traditionellen Motiven wie Schriftzeichen, Kirschbaum, Lampion, Mädchen im Kimono und Schwert, die ich so erwartet hatte, gibt es auch Bilder, die überraschend vertraut wirken, beispielsweise Winterlandschaften mit Blockhütten und Holzstapeln oder Tulpen.

Für mich ist dieser Katalog ein spannender erster Einblick in die japanische Kunst der Gegenwart, der Lust macht, ihn immer wieder in die Hand zu nehmen und sich eingehender mit dem Land und seiner Kunst zu beschäftigen. Beim mehrfachen Betrachten waren immer wieder andere Bilder meine Favoriten, mal der Holzschnitt „Usuzumi 1500-year cherry tree“ mit seinen unzähligen kleinen Blüten von Kazue Inoue, mal „One Blade of Grass, One Blossom“ von Toko Shinoda, eine Lithografie mit abstrakter Kalligrafie, mal die leuchtend roten Tulpen auf Taika Kinoshitas Holzschnitt „Get Back-108-Y“. Für Japaner dürfte es interessant sein, einen Einblick in die Wahrnehmung ihrer Kunst und die Auswahl durch eine deutsche Sammlerin zu sehen.

Mit acht Werken ist die heute 86-jährige Künstlerin Kazue Inoue vertreten. Durch die von ihr selbst in einem sehr aufwändigen, alt-überlieferten Verfahren hergestellte Druckerschwärze erreichen ihre Objekte eine überragende Leuchtkraft. Die bereits 105-jährige Künstlerin Toko Shinoda, deren Bilder in Museen auf der ganzen Welt hängen, ist mit drei Werken vertreten.

Neben den 33 abgebildeten Kunstwerken mit Nennung des Künstlers oder der Künstlerin, des Titels, der Technik, der Nummer und der Auflagenhöhe, des Entstehungsjahres und des Formats gibt es ein englischsprachiges Vorwort des ehemaligen Chairman von Mitsubishi Keisuke Egashira und eine ebenfalls englischsprachige kurze Vita der Sammlerin. Der stilvoll gestaltete Umschlag mit den roten und goldenen Kranichen rundet den sehr empfehlenswerten Katalog ab, dem die Freude seiner Schöpferin an ihrer Sammlung deutlich anzumerken ist.

Der Katalog kann zum Preis von 40 EUR bestellt werden über: Order-Japanese-Art-Catalogue@t-online.de.

Japanese Art in a Global Context : Collection Roswitha Schulz / Editor: Roswitha Schulz-Kirchmann. Reprographics & Lithography: Günter König. 2018

Anna Lott & Nikolai Renger: Der kleine Weihnachtsteufel und der verflixte Wunschzettel

Verflixt und verteufelt – was für ein vorweihnachtliches Tohuwabohu!

Eigentlich ist alles wunderbar geregelt. In vier Leuchttürmen leben der Weihnachtsmann, die Weihnachtsengel, die Halloweenteufel und die Osterhasen mit genau geregelten Dienstzeiten. Was aber passieren kann, wenn ein flugunerfahrener kleiner Weihnachtsengel in die Scheibe des Halloweenturms kracht und einen kleinen Teufel in der Adventszeit aus seinem Schlaf reißt, erzählt dieses so ganz andere Weihnachtsbuch Der kleine Weihnachtsteufel und der verflixte Wunschzettel von Anna Lott. Otibuk, der kleine Teufel, der eigentlich nicht böse sein will, verlässt seinen Turm außerhalb seiner Dienstzeit, entdeckt das Treiben der Weihnachtsengel, lernt den Weihnachtsmann kennen und mischt sich, anstatt wie angeheißen in seinen Turm zurückzukehren, in die Wunschzettel-Einsammelaktion ein. Dass er dabei auch noch Jannikes Wunsch erfüllt und ihren Bruder Philipp mitnimmt, hätte keinesfalls passieren dürfen, denn Wegwünsch-Wünsche sind böse Wünsche und werden niemals erfüllt! Als Jannike ihren Bruder unbedingt zurückhaben will, ist das Chaos perfekt. Es braucht zwischendurch sogar die Unterstützung der Osterhasen und am Ende das Vergesslichkeitspulver des Weihnachtsmanns, damit es in diesem Jahr ein richtiges Weihnachtsfest geben kann.

Mit ihren 24, zwischen vier und acht Seiten umfassenden Kapiteln ist dieses Vorlesebuch der ideale Begleiter durch den Advent, wenn man etwas schräge, außergewöhnliche und garantiert kitschfreie Geschichten liebt. Da muss ein Sarg mal als Schlitten, mal als Schiff herhalten, die bösen Teufel treiben ihr Unwesen mit der Weihnachtsdekoration und ein kleiner Weihnachtsengel lernt, dass man manchmal besser seinen Verstand gebrauchen sollte, als stur alle Regeln einzuhalten. Entsprechend sind die Illustrationen von Nicolai Renger witzig-schräg und richtige Hingucker, lediglich die Engel sind mir teilweise zu comicartig geraten. Hübsch verziert sind die 24 Kapitelüberschriften mit einer entsprechenden Anzahl von Sternen und die Seitenzahlen, die mit Weihnachtsbäumen unterlegt sind. Nicht so gelungen finde ich allerdings den Namen des kleinen Protagonisten, denn Otibuk geht mir beim Vorlesen einfach nicht von der Zunge und ich kann ihn mir leider auch nicht merken.

Mit der Altersempfehlung von sechs bis acht Jahren liegt der Verlag im unteren Bereich aufgrund der Komplexität der Geschichte richtig, nach oben sehe ich aber keine Begrenzung und bin überzeugt, dass auch ältere Kinder und die erwachsenen Vorleser diese Geschichte gebannt verfolgen werden. Am Ende war ich traurig, als ich das Buch ausgelesen hatte, und rege hiermit eine Oster-Fortsetzung an, da die Osterhasen dieses Mal nur am Rande auftauchen durften.

Anna Lott & Nikolai Renger: Der kleine Weihnachtsteufel und der verflixte Wunschzettel. dtv junior 2018
www.dtv.de

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele

  Tatsachenroman über einen Kriegsverbrecher auf der Flucht

Wie konnte es geschehen, dass der berüchtigte Lagerarzt von Auschwitz, der die Gefangenen an der Rampe selektierte, Hunderttausende in den Tod schickte oder als „verwendungsfähiges Menschenmaterial“ für seine medizinischen Experimente auswählte, bis zu seinem natürlichen Tod am 7. Februar 1979 verhältnismäßig unbehelligt in Südamerika lebte? Der französische Journalist, Buch- und Drehbuchautor Olivier Duez spürt in seinem Roman, und nur als solchen konnte und wollte er dem „makaberen Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen“, seinem Schicksal des Dr. Josef Mengele ab 1949 nach. Akribisch zeichnet er alle Stationen auf und nennt die Helfer. Kein anderer Nazi auf der Flucht genoss eine solche Unterstützung, die Günzburger Familie, der Kindheitsfreund und Familienvertraute Hans Sedlmeier und ein weitverzweigtes Netz von Nazi-Seilschaften vor Ort hielten ihm lebenslang die Treue und Informanten in der deutschen Polizei schützten die Helfer in der Heimat.

Obwohl er auf der amerikanischen Kriegsverbrecherliste stand, gelang es Mengele, nach 1945 zunächst auf einem Bauernhof in Bayern unterzutauchen und 1949 nach Argentinien zu fliehen, wo Perón sein Land Abertausenden von Nazis, Faschisten und Kollaborateuren öffnete. Während dieser ersten Jahre auf der Flucht war, wie Guez Teil eins des Romans überschreibt, Mengele „Der Pascha“, er hatte Freiheit, Geld und Erfolg. Kaum zu glauben ist, dass er 1956 unter falschem Namen in Günzburg zu Besuch war und kurz darauf sogar im westdeutschen Konsulat in Buenos Aires einen Pass mit seinem richtigen Namen erhielt. Nach einer schmerzhaften Scheidung konnte er auf Wunsch des Vaters, eines angesehenen Günzburger Bürgers und Besitzers einer weltweit operierenden Agrartechnikfabrik, eine Ehe mit der Frau seines verstorbenen Bruders eingehen. Erst mit Peróns Sturz, den Aktivitäten des deutschen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer sowie der Entführung Eichmanns durch den Mossad nach Israel mit Verurteilung und Hinrichtung beginnt im zweiten Teil des Romans, „Die Ratten“, Mengeles „Höllenfahrt“, ein Katz- und Maus-Spiel zunächst in General Stroessners Paraguay, dann ab 1960 in Brasilien. Von Angst zerfressen, ein gehetztes Tier, verbrachte der Unbelehrbare, der „exzentrische Manipulant“, diese letzten Jahre. Im dritten Teil, „Das Phantom“, geht es um die stückweise Entdeckung der Wahrheit in den letzten 35 Jahren.

Bei der Schilderung von Mengeles Angstzuständen, seinem Verfolgungswahn und seinen immer armseligeren Lebensbedingungen stellte sich bei mir eine  Genugtuung ein, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass für die Überlebenden seiner Verbrechen und die Hinterbliebenen der Opfer ein Prozess mit einer Verurteilung elementar wichtig gewesen wären. Dass es nie dazu kam, ist sowohl einer Verkettung unglücklicher Umstände und einer Verschiebung von Prioritäten innerhalb des israelischen Geheimdienstes als auch dem unentschuldbaren Willen zur Reintegration von Führungskräften und Handlangern des Nationalsozialismus in der BRD geschuldet. Mengeles Mentoren Eugen Fischer und Otmar Freiherr von Verschuer verhalf das wie vielen anderen zu Ansehen.

Guez‘ Roman liest sich flüssig und präsentiert die Ergebnisse seiner Recherchearbeit, deren Umfang man anhand der langen Literaturliste erahnen kann, gekonnt. Lediglich eine deutlichere Kennzeichnung der fiktionalen Anteile dieses in Frankreich mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Tatsachenromans und Bestsellers hätte ich mir gewünscht.

Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat von Czesław Miłosz: „Ihr, die ihr Leid über den einfachen Mann brachtet, ihr, die ihr über sein Leid lachtet, fühlt euch nicht sicher. Der Dichter erinnert sich.“ Gut so!

Olivier Guez: Das Verschwinden des Josef Mengele. Aufbau 2018
www.aufbau-verlag.de

John Galsworthy: Die Forsyte Saga

Sagenhafte 2443 Minuten allerbeste Unterhaltung

Ein wenig Respekt hatte ich zugegebenermaßen vor dem Umfang dieses ungekürzten Hörbuchs des englischen Klassikers Die Forsyte Saga schon, denn 32 CDs mit insgesamt 2443 Minuten, umgerechnet mehr als 40 Stunden, waren für mich ein absoluter Hörrekord! Aber dann: keine Minute Langeweile, kein Überdruss und im Gegenteil Trauer, als es schließlich zu Ende war.

Zwischen 1906 und 1921 erschien dieser Romanzyklus, ein Gesellschafts- und Familienporträt, der 1886 beginnt und 1920 endet. Seinem Verfasser John Galsworthy (1867 – 1933) bescherte er einen Bestsellererfolg und 1932 den Literaturnobelpreis.

Im Mittelpunkt der Geschichte aus der Zeit der Blüte und des Niedergangs der viktorianischen Epoche steht die fiktive Familie Forsyte, Vertreter der oberen Mittelschicht, die fast alle einen ausgeprägten Sinn für Besitz aufweisen. Vor dem Hintergrund von Kriegen, wechselnden Hut-, Kleider- und Einrichtungsmoden, bahnbrechenden Erfindungen und Umwälzungen in der Politik, der Moral und der Kunst erzählt John Galsworthy von den Hochzeiten, Scheidungen, Geburten und Todesfällen in vier Generationen genauso wie von ihren Konflikten, Tragödien und Intrigen, ihrem Sinn für Schönheit, ihren Leidenschaften, Triumphen und Niederlagen. All dies wird auf köstliche Art beobachtet und kommentiert an der Forsyte-Börse im Wohnzimmer der Tanten Juley und Hester in der Bayswater Road. Diese fein-ironischen Szenen gehören für mich zu den Höhepunkten der Saga.

Dreh- und Angelpunkt des Romans sind eine missglückte Ehe und ein Unglückshaus. Soames Forsyte, Vertreter der dritten Generation und behaftet mit dem „echt forsyteschen Mangel an Herzlichkeit“, ein reicher Anwalt, der sich komplett über seinen Besitz definiert, hat der schönen Irene zwar durch seine Beharrlichkeit die Einwilligung in eine Ehe abgetrotzt, doch Irene begreift schnell, welchen Fehler sie begangen hat. Die unglückselige Verbindung und der Bau ihres Hauses sind Ursache vieler Turbulenzen in der weitverzweigten Familie, beschleunigen ihre Auflösung und haben Auswirkungen bis in die nachfolgende Generation.

An den Hörbüchern des Freiburger Audiobuch Verlags schätze ich besonders die hervorragenden Interpreten und die sorgfältig konzeptierten Booklets. Vor der Leistung des Sprechers Thomas Dehler habe ich größten Respekt, denn ich konnte ihm ohne Ermüdungserscheinungen über diese lange Zeit zuhören. Er bringt den oft ironischen Ton des Buches fantastisch zur Geltung und verleiht mit nur minimalen Stimmmodulationen jeder Person eigene Nuancen. Im Begleitheft wiederum war der Stammbaum eine große Hilfe, denn ohne ihn wäre ich bei der ersten CD an der Vielzahl der Familienmitglieder verzweifelt. Interessant ist außerdem John Galsworthys Vorwort zum Buch, das man nach dem Hören noch besser versteht. Es schließt mit den Worten: „Wenn der bessere Mittelstand mit anderen Klassen dazu bestimmt ist, in Amorphie überzugehen, liegt er hier, in diesen Seiten konserviert unter Glas zur Schau für alle, die in dem weiten, schlecht angelegten Museum der Literatur umherstreifen. Hier ruht er in seiner eigenen Atmosphäre: dem Streben nach Besitz.“ Großartig und ein Muss, nicht nur für Fans von Downton Abbey!

John Galsworthy: Die Forsyte Saga. Gelesen von Thomas Dehler. Audiobuch 2017
www.audiobuch.com

Alex Rühle & Axel Scheffler: Zippel, das wirklich wahre Schlossgespenst

„Wenn du mal nicht weiterweißt, hilft dir oft ein guter Geist“ (gar nicht so altes Geistersprichwort)

Gespenster in alten Burgen und Schlössern kennen wir spätestens seit Otfried Preußlers kleinem Gespenst sehr genau, aber dass Gespenster auch in alten Türschlössern hausen können, wenn sie nur ölig, rußig und staubig genug sind, war mir ebenso neu wie dem etwa achtjährigen Paul. Der findet eines Tages bei der Rückkehr von der Schule Zippel, das Gespenst aus dem Türschloss. Schlagartig wird sein Leben interessanter, denn Zippel ist ein unternehmungslustiger Geist voller Quatsch und lustiger Ideen im Kopf, nimmt alles wörtlich und versteht dadurch vieles falsch, reimt gerne lustige Verse, imitiert täuschend ähnlich Stimmen und befreit Paul von den lästigen Quälereien seiner furchteinflößenden Klassenkameraden Tim und Tom. Doch als das alte Türschloss von Pauls Wohnung ausgetauscht werden soll, ist guter Rat teuer, denn neue Schlösser haben nur Schlitze und Zippel ist schließlich kein Schlitz-, sondern ein Schlossgespenst! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die etwas unheimliche alte Nachbarin Frau Wilhelm Paul und Zippel als Einzige versteht und ihnen aus der Patsche hilft?

Kinderbuchfiguren, die schüchternen oder gemobbten Kindern oder Erwachsenen helfend unter die Arme greifen, gibt es jede Menge, genannt seinen hier Paul Maars unvergleichliches Sams, Kirsten Boies Nix oder Anna Böhms Einschwein. An sie alle erinnert Zippel und doch hat Alex Rühle eine eigenständige Geschichte geschaffen, die einerseits den Humor des Zielpublikums trifft, andererseits aber auch schwierige Themen wie beispielsweise Mobbing oder Vorurteile anspricht. Axel Scheffler hat in seinem unverwechselbaren Stil witzige, wunderbar passende, teils ganzseitige Illustrationen, teils kleine Verzierungen beigesteuert, die genau den Ton des Textes treffen.

Ein sehr empfehlenswertes, humorvolles, gar nicht gruseliges Vorlesebuch für Jungs und Mädchen ab fünf Jahren oder zum Selberlesen ab der dritten Klasse.

Alex Rühle & Axel Scheffler: Das wirklich wahre Schlossgespenst. dtv junior 2018
www.dtv.de