Trügerische Erinnerungen
John Banville war nach Donal Ryan der zweite bedeutende zeitgenössische irische Autor, den ich während meines Irland-Urlaubs gelesen habe. Sein Stil ist bedeutend literarischer, dafür gibt es weniger Lokalkolorit als bei seinem Kollegen Ryan.
Im Lichte der Vergangenheit lässt Figuren aus Banvilles früheren Romanen Sonnenfinsternis und Caliban wiederaufleben, doch kann man es, wie ich es getan habe, auch unabhängig lesen. Erzählt werden drei Geschichten aus dem Leben des ehemaligen Bühnenschauspielers Alex Cleave. Die erste ist die Erinnerung an seine erste Liebe und liegt 50 Jahre zurück, die zweite kreist um den Selbstmord seiner Tochter Cass vor zehn Jahren und die dritte spielt in der Gegenwart, als der bereits von der Bühne abgetretene Mittsechziger seine erste Filmrolle übernimmt.
Alex‘ erste Liebe im Alter von 15 Jahren galt der Mutter seines besten Freundes, Mrs Celia Gray. Die Erinnerungen, die der Ich-Erzähler an die knapp fünf Monate währende Affäre hat, sind zugleich präzise und mit unmöglichen Einzelheiten versehen, ein Umstand, den er nicht verschweigt: „Biografien sind zwangsläufig, wenn auch nicht absichtlich, immer voller Lügen“ und „Das habe ich doch sicher wieder frei erfunden, wie so vieles.“ Trotzdem – oder vielleicht gerade weil alles zweifelhaft ist – hat mir dieser Erzählstrang am besten gefallen. Die Seelenlage des pubertierenden Jungen zwischen erotischer Verzückung und dem Zurücksehnen nach „alter, unbeschwerter Normalität der Dinge“ schildert John Banville einfühlsam und glaubhaft, die Beziehung selbst trotz vieler Einzelheiten niemals geschmacklos oder gar peinlich. Dass am Ende vieles anders war, kann nicht wirklich überraschen.
Auch der zweite Erzählstrang um den Selbstmord der psychisch kranken Tochter Cass in Ligurien ist gut gelungen. Die Ehe von Alex leidet unter der Belastung und die Trauer ist eine „anhaltende Flut, die mich ausdörrt“. Dabei quält ihn weniger die Tatsache des Selbstmords, der ein „unausweichliches Ende“ war, als die gänzlich ungeklärten Umstände.
Am wenigsten überzeugt hat mich die Rahmenhandlung. Alex soll in einem Film mit dem beziehungsreichen Titel „Erfindung der Vergangenheit“ den Journalisten und Kritiker Axel Vander spielen, der viel mehr mit ihm zu tun hat, als er zunächst ahnt. Hier waren mir die Anspielungen und Zufälle zu konstruiert.
Ein sprachlich überzeugender, feinsinniger Roman, im kunstvollen Plauderton erzählt, in dem die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion gekonnt verschwimmen, der aber durch seine Rahmenhandlung unnötig kompliziert wird.
John Banville: Im Lichte der Vergangenheit. Kiepenheuer & Witsch 2014
www.kiwi-verlag.de
Als im Januar 2016 der schlimmste Schneesturm seit Menschengedenken mit den tiefsten Temperaturen seit 1869 in New York tobt, verweben sich während dreier Tage die Leben von Lucía, Richard und Evelyn unwiderruflich miteinander. Ihr gemeinsames Anliegen ist es, eine Leiche und einen Lexus verschwinden zu lassen, obwohl sie mit beiden nicht zu tun haben – ein bei diesen Wetterbedingungen schwieriges Unterfangen für bislang unbescholtene Zeitgenossen ohne einschlägige Erfahrungen. An den kalten Abenden erzählen sie sich ihr Leben, so ehrlich, wie sie es bisher nie getan haben.
Auf Reisen lese ich gerne Literatur aus meinem Reiseland und in Irland ist meine Wahl inzwischen schon zum zweiten Mal auf Donal Ryan gefallen. Vor zwei Jahren war es Die Gesichter der Wahrheit, ein Potpourri irischer Stimmen zur Zeit der Finanzkrise 2008, nun, während einer Hausbootfahrt auf dem Shannon, Die Sache mit dem Dezember. Beide Bücher spielen im County Tipperary und somit auf unserer Bootsroute, vermitteln aber ein sehr viel derbes irisches Flair, als wir es erlebt haben.
Seit Juni 2018 verlost die EU im Rahmen ihres Jugend-Programms „DiscoverEU“ kostenlose Interrail-Tickets für 18-Jährige. Das Interesse an Europa soll mit dieser großartigen Aktion geweckt, Toleranz gefördert, Vielfalt und kultureller Reichtum vermittelt und dem Auseinanderfallen Europas entgegengewirkt werden.
Am letzten Tag der Grundschule erhalten alle Littelkinder die Zuweisung zu einer Talentklasse in der Littelschmiede nach den Ferien, nur Flohling nicht, denn bei ihm hat sich bisher kein Talent gezeigt. Eigentlich macht ihm das nichts aus, denn er ist ein zufriedenes, kluges, aufmerksames Littelkind, das alle zum Lachen bringt und immer fröhlich ist. Traurig macht ihn nur die Sorge, die er bei seinen Eltern spürt: „Eigentlich ist es mir egal… Aber irgendwie sind alle ganz besessen davon. Und langsam glaube ich auch, dass mir etwas fehlt.“ Ist es möglich, dass er für keine Tätigkeit besonders begabt ist und überall nur Chaos stiftet? Flohling beschließt, Lilvis, die Weise des Nordens, aufzusuchen, um Rat bei ihr zu finden. Zusammen mit dem Familienspatz Pilfink, seiner Freundin Lisbet und der Kröte Krotte macht er sich auf den beschwerlichen, gefährlichen Weg durch die Littelwälder, das Winterdorf, das Hügeldorf, zum Nordfluss und die Silbernen Berge hinauf. Viele spannende Abenteuer erleben die vier, begegnen Tieren, Muskis, Gnormen, Risser, Scharren und sogar einem Riesen, bis sie schließlich zu Lilvis gelangen. Doch am Ende muss Flohling sein Talent ganz alleine finden…
Die meisten Buchkäufer haben es inzwischen hautnah erlebt: Größere wie kleinere inhabergeführte Sortimente, die meist mit viel Herzblut, Kreativität, Leidenschaft, literarischem Sachverstand geführt wurden, schließen oder werden von Ketten geschluckt. Übrig bleiben der Onlinehandel, Wühltische in Lebensmittel- oder Drogerieketten und die immer mehr oder weniger gleichen Filialisten, in denen ich weder gerne einkaufen noch arbeiten möchte. Erschwerend kommen der erneute Rückgang der Umsätze auf dem Buchmarkt 2017, der Anstieg der E-Book-Quote und die abnehmende Kundenfrequenz in vielen Städten hinzu. In Großbritannien, wo die Autorin Sarah Henshaw mit ihrem Bücherboot unterwegs war, fehlt darüber hinaus die Buchpreisbindung, die in Deutschland zum Schutz des Kulturguts Buch glücklicherweise weiterhin besteht.
Als der Chefchirurg des University College Hospital London, Robert Liston, am 21. Dezember 1846 einen Patienten bei einer Operation mit der neuen Äther-Narkose aus den USA betäubte, neigte sich das Zeitalter der unvorstellbaren Qualen auch in Großbritannien dem Ende zu. Eines der beiden großen Hindernisse der Chirurgie war damit beseitigt, wohingegen sich das andere durch die nun vermehrt durchgeführten Eingriffe noch verschlimmerte: die enorme postoperative Mortalitätsrate durch Infektionen aller Art. Einer von Listons Zuschauern bei der legendären Operation sollte sich dieses Problems lebenslang beharrlich widmen und es schließlich lösen: der Medizinstudent Joseph Lister.