Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis

Schweigen und Grübeln ist selten eine gute Lösung

Die Kinderbücher von Silke Schlichtmann sind ein kleiner Schatz für mich, auch dieses dritte: Bluma und das Gummischlangengeheimnis. Die neue Protagonistin habe ich spontan ebenso ins Herz geschlossen wie zuvor Pernilla aus Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten und Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten. Das liegt vor allem am Einfühlungsvermögen der Autorin, an ihrem Reichtum an Ideen, an ihrem ebenso unterhaltsamen wie dezent lehrreichen Erzählstil und an ihrer Wertschätzung für ihr Publikum und ihre Figuren, die man auf jeder Seite spürt.

Die 9-jährige Bluma aus Grünendeich im Alten Land erlebt wahrlich aufregende Wochen, während derer sich ihre Probleme verhalten wie die Obstfliegen: „Hat man erst mal eins, dann werden’s immer mehr.“ Alles beginnt mit einer Fünf in Mathe, nicht der ersten, und das, obwohl Bluma eigentlich ganz gut rechnen kann. Dann wollen ihre Eltern ihr nicht erlauben, den netten Labrador Retriever Flocki zu adoptieren, der sonst vielleicht ins Tierheim muss. Zu allem Überfluss hat ihre Lieblingsnachbarin und Vertraute, die malende Rentnerin Alice, ausnahmsweise kein Ohr für sie und Mama muss für zwei Wochen beruflich nach Niederbayern. Und da macht Bluma das schlimmste, was sie jemals getan hat: Sie klaut eine von Alices magischen 60cm-Gummischlangen, eine giftgrüne. Aber weil Bluma ein ausgeprägtes Gefühl für Recht und Unrecht hat, fühlt sie sich anschließend hundeelend und es geht ihr „blumaschlecht“. Und die Pechsträhne reißt nicht ab: Ihre beste Freundin Rosa scheint sie zu hintergehen und ihre Lehrerin will wegen der Matheprobleme dringend ihre Eltern sprechen. Doch am allerschlimmsten drückt Bluma das schlechte Gewissen wegen des Vertrauensbruchs und sie kann niemandem ihr Herz ausschütten.

Trotz der ernsten Themen wie Umgang mit der Wahrheit, Freundschaft, Vertrauen, Angst, Gewissen und Geheimnisse ist der Kinderroman nie niederdrückend. Nicht nur, dass es jede Menge lustige Szenen gibt, man spürt von der ersten Seite an Blumas Stärke und ihren absoluten Willen, die auflaufenden Probleme zu lösen, und das hat mich immer an ein gutes Ende glauben lassen. Wie es dazu kommt, soll natürlich nicht verraten werden, aber es ist in typischer Silke-Schlichtmann-Manier spannend, logisch und fantasievoll gelöst.

Ulrike Möltgen hat die Bluma-Geschichte mit außergewöhnlichen schwarz-weiß-roten Zeichnungen illustriert, die sich wohltuend vom derzeit dominierenden grellbunten Comicstil abheben.

Ein wunderschöner, nachdenklicher, manchmal lustiger Kinder-, vor allem Mädchenroman, zum Vorlesen ab sechs, zum Selberlesen ab der dritten Klasse. Ich gehöre zwar weder zur einen noch zur anderen Zielgruppe, habe die Lektüre aber trotzdem außerordentlich genossen!

Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis. Hanser 2017
www.hanser-literaturverlage.de

Paolo Cognetti: Acht Berge

„Was auch immer das Schicksal für uns bereithält – es kommt von den Bergen, die über uns emporragen“

Zwei große Geschenke hat der Ich-Erzähler Pietro Guasti von seinen Eltern erhalten: die Liebe zu den Bergen und die Freundschaft zu Bruno. Ersteres wird ihm in die Wiege gelegt von seinen aus dem Veneto stammenden Eltern, die als Kinder und Jugendliche die Dolomiten geliebt haben und am Fuße der Drei Zinnen getraut wurden, und nun, da sie in Mailand leben, die Sommer regelmäßig mit dem Sohn in Grana im Aostatal verbringen. Die Freundschaft zum wenige Monate älteren Kuhhirten Bruno bahnt 1984 zunächst die Mutter an, als der zurückhaltende, einsame Pietro elf Jahre alt ist. Viele Sommer verbringen sie zusammen, doch als Pietro mit 16 rebelliert, die Wanderungen mit seinem Vater einstellt, sogar den Kontakt zu ihm weitgehend abbricht und schließlich nicht mehr nach Grana kommt, verlieren sich auch Pietro und Bruno aus den Augen. Erst als der Vater dem 31-jährigen Pietro nach seinem Tod eine verfallene Hütte auf einer Hochebene über Grana hinterlässt, die er gemeinsam mit Bruno wiederaufbauen soll, kommen die beiden Freunde sich aufs Neue ganz nah. Das Erbe wird zur zweiten Chance für die unterbrochene Freundschaft, zur Rückkehrhilfe nach Grana, und erweist sich so als wohlbedachte Gabe.

Nun könnte man meinen, Pietro und Bruno wären die Protagonisten des Romans, aber in Wahrheit sind es – wie man auf dem wunderschönen Cover erkennt – die Berge, zusammen mit dem Wald, den Wiesen, Tälern, Gebirgsbächen, Wasserfällen, Seen, Geröllfeldern und Gletschern, die Paolo Cognetti so eindrucksvoll beschreibt. Für Bruno sind es die Berge seiner Heimat und er opfert dem Traum vom Leben als Bergbauer alles, Pietro dagegen zieht es als Dokumentarfilmer bis zu den Bergen Nepals. Von dort bringt er eine Legende mit, die symbolisch für ihrer beider Leben steht: Sumeru, der hohe Berg und Mittelpunkt der Welt, ist umgeben von acht Bergen. Die Nepalesen stellen sich die Frage, wer mehr gelernt hat, derjenige, der die acht Berge bestiegen hat (wie Pietro), oder derjenige, der „nur“ auf dem Gipfel des Sumeru war (wie Bruno)?

Acht Berge ist eine eindrückliche Hymne an das Gebirge und die Natur ohne übertriebene Romantik, eine Freundschaftsgeschichte über nahezu 30 Jahre und eine tragische Vater-Sohn-Geschichte. Der 1978 in Mailand geborene Autor Paolo Cognetti hat mit Acht Berge nicht nur einen Bestseller in seiner Heimat gelandet, sondern auch den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, erhalten. Zurecht, denn der Roman über zwei Einzelgänger, mit dem Vater sogar drei, vor einer grandiosen Kulisse hat mich mit seiner ruhigen Erzählweise stark berührt, auch wenn er an Robert Seethalers Ein ganzes Leben, mit dem er zum Teil verglichen wird, nicht ganz heranreicht.

Paolo Cognetti: Acht Berge. DVA 2017
www.randomhouse.de

Arturo Pérez-Reverte: Der Preis, den man zahlt

Beobachte – stich zu – verschwinde

Die goldene Regel des Skorpions – ruhig beobachten, schnell zustechen, noch schneller verschwinden – ist Lorenzo Falcós Überlebensrezept. Ursprünglich aus guter andalusischer Winzerfamilie, wurde er nach einer abgebrochenen Militärlaufbahn und einer erfolgreichen Karriere als skrupelloser Waffenhändler vor sechs Jahren vom „Admiral“, dem Leiter des Geheimdienstes SNIO, dem harten Kern der franquistischen Spionage, für dessen Eliteeinheit „Grupo Lucero“ rekrutiert. Er ist der „Mann für die Drecksarbeit“, die „Müllabfuhr“ der Rechten, und kämpft keineswegs aus Überzeugung für die Sache Francos, der Nationalisten und Katholiken, sondern aus Abenteuerlust, prinipien- und leidenschaftslos, ohne Ideale und nur für sich selbst und gegen alle anderen: „Nur manche Getränke, manche Zigaretten und manche Frauen übten eine vergleichbare Wirkung aus.“

Der neueste Auftrag führt ihn 1936 aus dem franquistischen Salamanca in die rote Zone nach Alicante. Dort soll der Falange-Gründer José Antonio Primo de Rivera aus dem Gefängnis befreit werden. Der Auftrag behagt Falcó nicht, zu viele Köche sind nach Meinung des Einzelkämpfers an der heiklen Mission beteiligt, neben ihm die Falange und die Deutschen, die soeben das Franco-Regime anerkannt haben. Zu spät und bereits vor Ort erkennt Falcó, dass dieser Auftrag alles an Schändlichkeit übertrifft, was selbst er sich bisher vorstellen konnte…

Arturo Pérez-Reverte, der 1951 in Cartagena geborene spanische Erfolgsautor und ehemalige Kriegsreporter, hat mit Lorenzo Falcó einen durch und durch skrupellosen, unsympathischen, kalten und zynischen Anti-Helden für seine Serie geschaffen, dessen Frauenbild mir absolut zuwider ist. Der erste Band, Der Preis, den man zahlt, basiert auf einem realen historischen Ereignis, Handlung und Figuren entspringen jedoch der Phantasie des Autors. Dabei setzt Pérez-Reverte einiges an Wissen über den Beginn des Spanischen Bürgerkriegs voraus, weshalb ich mir für die deutsche Ausgabe Anmerkungen, ein Vor- oder Nachwort und eventuell eine Landkarte mit dem Verlauf der verschiedenen Zonen gewünscht hätte. Irritiert hat mich das Fehlen jeglicher Identifikationsfigur, sind doch alle Figuren des Romans, egal auf welcher Seite, böse oder zumindest sehr naiv. Außerdem hätte ich auf einige der ausführlich geschilderten Brutalitäten, vor allem die Folterszenen, gerne verzichtet. Trotz dieser Kritik konnte ich mich der Atmosphäre des Agentenromans nach einiger Zeit nicht mehr entziehen und hätte ihn auch nicht mehr aus der Hand legen wollen.

Arturo Pérez-Reverte: Der Preis, den man zahlt. Insel 2017
www.suhrkamp.de

Matthias von Bornstädt & Rolf Vogt: Die drei Magier – Das magische Labyrinth

Plötzlich Magier

Algravia, die Welt voller Magie, ist bedroht, denn der gemeine dunkle Magier Rabenhorst ist dabei, sich die mächtigsten Gegenstände zu besorgen: die drei Zauberstäbe aus dem magischen Labyrinth. Alle Zauberwesen von Algravia, die elfenhaften, leuchtenden Lunies, Kasimir, der sprechende lila Kater, die Rumpelriesen, die Hexe Fia Feu, die Mini-Drachen, die sprechenden Bäume, die Trolle und viele andere sehnen die Rettung herbei. Es braucht drei neue Magier, drei Kinder, die die Zauberstäbe aus dem magischen Labyrinth holen und die Harmonie in Algravia beschützen, nachdem die vorherigen Magier erwachsen geworden sind. Der besonnene, vorsichtige Conrad, seine draufgängerische Freundin Vicky mit der Berliner Schnauze und seine stille Schwester Mila, die sich während eines Sommernachmittags am Badesee plötzlich in Algravia wiederfinden, bezweifeln zunächst, dass sie die Richtigen sind. Aber im Angesicht der Bedrohung, nehmen sie allen Mut zusammen…

Das magische Labyrinth von Matthias von Bornstädt ist der Auftakt zur Reihe Die drei Magier für abenteuerlustige Jungs und Mädchen, die sich gerne auch ein wenig gruseln. Die zahlreichen, sehr poppigen Illustrationen von Rolf Vogt sind im Comic-Stil gehalten und aussagestark. Die Schrift ist sehr deutlich und etwas größer, allerdings ist die Textmenge pro Seite schon umfangreicher als bei Leseanfängern und der Text ist im Blocksatz gesetzt, sodass ich das Buch zum Selberlesen ab der dritten Klasse empfehle, zum Vorlesen dagegen ab sechs Jahren.

Gut gefallen hat mir das Zusammenwirken der Kinder trotz ihrer sehr unterschiedlichen Charaktere und die fantasievolle Beschreibung der zahlreichen Bewohner von Algravia. Etwas zu kurz gekommen ist mir dagegen das Labyrinth, zumal das Buch vom gleichnamigen Kinderspiel inspiriert wurde.

Matthias von Bornstädt & Rolf Vogt: Die drei Magier – Das magische Labyrinth. arsEdition 2017
www.arsedition.de

Øistein Borge: Kreuzschnitt

Die Spur führt weit in die Vergangenheit

„Du hast mein Leben zerstört. Jetzt habe ich deins zerstört.“ – Vor einigen Jahren hat Bogart Bull, Kommissar bei der Osloer Kriminalpolizei, den damals 19-jährigen Richard Torp wegen diverser Sexualdelikte hinter Gitter gebracht, nun, nach seiner Entlassung, hat Torp Bulls Frau und 12-jährige Tochter bei einem provozierten Autounfall getötet. Für Bull stellt sich die Frage, ob er aufgeben oder weitermachen will, und er beantwortet sie zunächst mit einem Absturz in die Alkoholsucht. Zur Retterin wird seine Chefin Eva Heiberg, die nicht nur für einen Therapieplatz sorgt, sondern ihm darüber hinaus ein halbes Jahr nach der Tragödie die Chance auf einen Neubeginn ermöglicht: Er soll als norwegischer Ermittler bei Europol für norwegische Verbrechensopfer im EU-Ausland zuständig sein.

Nachdem Bull die Stelle trotz vielfältiger Bedenken akzeptiert, hat er sofort den ersten Fall auf dem Tisch: An der Côte d’Azur wurde der norwegische Immobilieninvestor und Multimillionär in seinem Haus ermordet und der Leiche posthum ein Kreuzzeichen in den Rücken geschnitten. Gestohlen wurde lediglich ein scheinbar unbedeutendes kleines Ölgemälde, die wertvolle Kunstsammlung dagegen nicht angetastet.

Zusammen mit Kommissar Jean Moulin von der Kriminalpolizei Marseille beginnt Bogart Bull mit den Ermittlungen, die ihn erstmals seit den tragischen Ereignissen wieder aus seiner „heiligen Dreieinigkeit Haus, Grab, Büro“ hinausführen. Um den Fall zu lösen, werden die beiden Ermittler tief in die Vergangenheit blicken müssen, zu einem Künstlertreffen in Cotignac an der Côte d‘Azur im Jahr 1906 mit Henri Matisse, Edvard Munk und fünf anderen Malern des Fauvismus, darunter der junge Santiago Gaillard, zu Gaillards Neubeginn nach dem Tod seiner Frau in der Nähe von Limoges 1918 und zu einem Massaker an einer Gruppe von „Maquisards“, Kämpfern der Résistance, auf dem Gaillard-Hof 1943. Und es wird weitere Tote geben, wieder mit einem Kreuz auf dem Rücken…

Mit Bogart Bull hat der 1958 geborene norwegische Krimiautor Øistein Borge einen sehr sympathischen, vielschichtigen Protagonisten geschaffen. Auch seine verständnisvolle, kluge Chefin hebt sich wohltuend von den sonst oft dümmlichen Vorgesetzten der Ermittler ab. Außerdem hat mir die Idee, den Hauptakteur zukünftig an verschiedenen europäischen Orten einzusetzen, sehr gut gefallen, ebenso wie die nicht selbstverständliche vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Europol-Abgesandten und der französischen Polizei. Allerdings waren mir die Teile in der Vergangenheit etwas zu ausufernd geschildert, obwohl ich mich eigentlich sowohl für die Résistance, als auch für Malerei interessiere.

Øistein Borge: Kreuzschnitt. Droemer 2017
www.droemer-knaur.de

Colson Whitehead: Underground Railroad

Das richtige Buch zur richtigen Zeit

Die Underground Railroad war ein aus Gegnern der Sklaverei, Farbigen wie Weißen, bestehendes informelles Netzwerk, das zwischen 1780 und 1862 etwa 100 000 Sklaven bei der Flucht aus den Südstaaten der USA in den Norden unterstützte. Man bediente sich dabei des Vokabulars der Eisenbahn, aber erst Colson Whitehead machte in seinem 2016 in den USA erschienenen, 2017 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Bestseller Underground Railroad aus der Metapher eine wirkliche Eisenbahn mit unterirdischen Gleisen, Dampflokomotiven, Wagen und Bahnhöfen. Diese Drehung ins Phantastische ist eine geniale Idee und hat mich, obwohl ich gewöhnlich keine Fantasy lese, absolut begeistert.

Erzählt wird die Geschichte von Cora, einer jungen, starken Sklavin, deren Großmutter Ajarry aus Afrika verschleppt, mehrfach verkauft, missbraucht und entwürdigt wurde, bevor sie schließlich auf die Randall-Plantage in Georgia kam: „Es gab eine Ordnung von Elend, ein in anderem Elend steckendes Elend, und man musste den Überblick behalten.“ Coras Mutter Mabel gelang als einziger Sklavin der Farm die Flucht, ein Stachel im Fleisch des sadistischen Plantagenbesitzers und des berüchtigten Sklavenfängers Ridgeway. Cora leidet unter dem Verlassenwerden durch die Mutter, hasst sie, wird zur Einzelgängerin. Als auch sie um 1850 flieht, wird eine beispiellose Belohnung ausgesetzt und jeder verfügbare Mann aus der Umgebung schließt sich der Suche an, allen voran Ridgeway. Doch Cora ist auf ihrer Odyssee durch South und North Carolina, Tennessee, Indiana und Richtung Norden nicht alleine, immer wieder kann sie auf die Unterstützung der Underground Railroad zurückgreifen, ein mehr als gefährliches Unterfangen für alle Beteiligten: „So viele von denen, die ihr geholfen hatten, hatten ein schreckliches Schicksal erfahren.“ Immer wieder begegnet sie Ridgeway, der besessen von ihrer Ergreifung ist und seine Schmach im Falle Mabels tilgen möchte. Sie lernt den ganz unterschiedlichen Umgang der Bundesstaaten mit den Farbigen kennen, erlebt in South Carolina, wo die Farbigen „gehütet und domestiziert“ werden, eine relative Freiheit, die keine ist, muss sich in North Carolina monatelang vor der Lynchjustiz auf einem Spitzboden verstecken und findet in Indiana vorübergehend ein Paradies auf einer Farm für Geflüchtete, bis auch dieses Symbol des Aufstiegs der Farbigen zur Zielscheibe wird. Zwischen den Kapiteln mit den Überschriften der Bundesstaaten gibt es kürzere Abschnitte über einzelne Personen, unter anderem Coras Großmutter Ajarry, ihre Mutter Mabel und den mit ihr geflohenen Caesar.

Kein Elend und keine Grausamkeit der Sklaverei erspart uns Colson Whitehead, der sich zum Teil an den in den 1930er-Jahren von der US-Regierung aufgezeichneten Slave narratives orientiert hat. Weit weg von Vom Winde verweht zeigt er die Entmenschlichung und was es heißt, Ware und Eigentum zu sein, sprachlich brilliant und mit differenzierten Charakteren. Doch bleibt seine Darstellung nicht auf die Sklaverei beschränkt, auch die zweite Urschuld der USA, die Enteignung der Indianer, wird thematisiert, und vieles lässt sich problemlos auf andere Unrechtsregime übertragen.

Ganz ohne Zweifel ist Underground Railroad angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den USA und einem in Teilen wieder salonfähig gewordenen Rassismus und Nationalismus eine der wichtigsten Neuerscheinungen 2016 in den USA und 2017 in Deutschland. Das heißt für mich allerdings nicht, dass der Roman über alle Kritik erhoben ist. Mich hat vor allem gestört, dass Colson Whitehead immer wieder Begleitumstände der Sklaverei schildert, die es so nicht gab, was in meinen Augen angesichts der belegbaren Gräuel nicht nur völlig überflüssig ist, sondern sogar das tatsächlich stattgefundene Unrecht schmälert. Natürlich handelt es sich bei Underground Railroad nicht um ein Sachbuch, sondern um einen Roman, doch erwarte ich auch hier eine saubere Darstellung der historischen Tatsachen, selbst wenn sich alles, wie der Autor es ausdrückt, „so hätte abspielen können“.

Trotz dieser Kritik empfehle ich Underground Railroad unbedingt zur Lektüre, denn es ist das richtige Buch zur richtigen Zeit.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Hanser 2017
www.hanser.de

Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben

Schuld kann man nicht abstreifen

Frankreich als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist für mich in den vergangenen Monaten ein wirklicher Gewinn, denn Isabelle Autissiers Herz auf Eis (mare), Leïla Slimanis Dann schlaf auch du (Luchterhand) und nun Pierre Lemaitres Drei Tage und ein Leben sind absolute Höhepunkte des Literaturjahres 2017.

„Ende Dezember 1999 ging eine überraschende Reihe tragischer Ereignisse auf Beauval nieder…“, ein packender Romanbeginn, mit dem ich sofort mitten im Geschehen war. Am 23. Dezember 1999 verschwindet der sechsjährige Rémi Desmedt spurlos. Das Dorf steht Kopf, allen voran natürlich die verzweifelten Eltern. Offenbar ahnt keiner, dass der zwölfjährige Antoine Courtin, ein stiller, sympathischer, zu leichter Depression neigender Einzelgänger, der nie durch Gewalt aufgefallen ist, den Nachbarsjungen, den er eigentlich sehr gern hatte, in einem Anfall blinder Raserei wegen eines von Rémis Vater erschossenen Hundes mit einem Stockschlag im Wald getötet und die Leiche dort versteckt hat: „Von einem unüberwindlichen Gefühl der Ungerechtigkeit erfüllt, war Antoine plötzlich nicht mehr er selbst. Der Effekt der Erstarrung, den Odysseus‘ Tod ausgelöst hatte, verwandelte sich in diesem Moment in Raserei. Blind vor Zorn packte er den Stock…“.

Doch nicht genug, bevor die Suchtrupps ihre Arbeit beenden können, gehen der Sturm Lothar, sintflutartiger Regen und der Sturm Martin über die Region hinweg und hinterlassen nicht nur ein Dorf wie nach einem Bombenangriff, sondern machen auch den Wald unpassierbar. Die Betroffenheit über Rémis Verschwinden verliert schlagartig an Bedeutung: „Nicht nur die Unmöglichkeit, Monsieur Desmedt zu helfen, war bedrückend, sondern auch der Eindruck, dass das Verschwinden seines kleinen Jungen, so tragisch es auch sein mochte, von nun an in den Hintergrund gedrängt würde und es angesichts des Übels, von dem jeder betroffen war, nie wieder eine kollektive Angelegenheit werden würde.“

Über 250 Seiten geht Pierre Lemaitre der Frage nach, wie ein Kind, später ein junger Mann, mit der Schuld leben kann, wie die Angst vor der Entdeckung ihn verfolgt, welche Fluchtphantasien er hegt und wie er sich einige Male fast offenbart.

Der Aufbau des Romans ist strikt chronologisch mit den drei Teilen „1999“, „2011“ und „2015“, die Erzählweise personal aus der Sicht Antoines, also nicht in der Ich-Form. Zu gerne wüsste man mehr über die Gedanken seiner Mutter Blanche, die etwas zu ahnen scheint, des Hausarztes oder den Stand der polizeilichen Ermittlungen, bleibt jedoch auf Mutmaßungen aufgrund von Indizien angewiesen.

Drei Tage und ein Leben ist nicht nur unglaublich packend und voller unerwarteter Wendungen, sondern auch ein meisterhaft erzähltes Psychodrama. Die Szene vor und während des Weihnachtsgottesdienstes, als das ganze Dorf sich in der in der Kirche versammelt, was Lemaitre mit den Worten „Der religiöse Eifer war eine recht saisonale Angelegenheit“ einleitet, ist für sich alleine genommen bereits die Lektüre wert, genauso wie die Beschreibung der Mutter-Sohn-Beziehung und das Verhalten von Blanche im Angesicht der Verstörtheit ihres Sohnes: „Madame Courtin jedoch hatte ihre eigene Methode. Zwischen Tatsachen, die sie störten, und ihrer Vorstellungskraft errichtete sie eine hohe und stabile Mauer, durch die nur eine vage Furcht hindurchdrang, welche sie mittels einer unerhörten Menge an Gewohnheitsgesten und unerschütterlichen Ritualen in Schach hielt.“

Ein absolut empfehlenswerter Roman des 1951 geborenen französischen Autors Pierre Lemaitre, der 2013 für Wir sehen uns dort oben mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, hervorragend übersetzt von Tobias Scheffel.

Pierre Lemaitre: Drei Tage und ein Leben. Klett-Cotta 2017
www.klett-cotta.de

Michaela Hanauer & Silke Voigt: Prinzessinnengeschichten

Bekannte Märchen anders erzählt

Vier Lesestufen umfasst die Loewe-Erstlesereihe Leselöwen: Bildermaus ab fünf Jahren mit Bildern zum Lesenlernen, Ich für dich, du für mich zum gemeinsamen Lesen ab sechs, Lesetiger für das erste Selberlesen ebenfalls ab sechs und Lesepiraten für fortgeschrittene Leser ab sieben Jahren.

Prinzessinnengeschichten gehört zur dritten Lesestufe, zum Lesetiger. In großer Fibelschrift gedruckt und im Flattersatz gesetzt, sehr reich bebildert mit vier Illustrationen pro Doppelseite, mit kurzen, einfachen Wörtern und Sätzen und in kurze Leseabschnitte mit maximal vier Zeilen zwischen den Bildern gegliedert, können bereits Erstklässler diese vier Geschichten bewältigen.

Das pinkfarbene Cover macht bereits die Zielgruppe klar: Mädchen, die vom Prinzessinnendasein träumen. Zum Glück entsprechen die vier Prinzessinnen in den Geschichten „Das Rosenschloss“, „Eine Erbse für Fiona“, „Die Froschprinzessin“ und „Kein Aschenputtel“ dann aber gar nicht dem üblichen Klischee. Vielmehr greifen sie beherzt zum Schwert, kochen nachts Erbsensuppe, verschenken ihre Krone oder schleichen sich heimlich auf den verbotenen Ball. Auch die Illustrationen sind eher frech-witzig als rosa-süß, was mir gut gefallen hat.

Für alle, die die Märchen „Dornröschen“, „Die Prinzessin auf der Erbse“, „Der Froschkönig“ und „Aschenputtel“ nicht kennen, sind diese abgewandelten Versionen bestimmt sehr nett und unterhaltsam. Meine Töchter, die an den Originalversionen im Wortlaut hingen, hätten sich mit diesen Geschichten aber schwergetan.

Michaela Hanauer & Silke Voigt: Prinzessinnengeschichten. Loewe 2013
www.loewe-verlag.de

Friedrich Ani: Ermordung des Glücks

Noch lange nicht pensioniert genug

So, wie die Katze das Mausen nicht lassen kann, kann Jakob Franck, ehemaliger Hauptkommissar im Münchner Morddezernat, nach seiner Pensionierung nicht aufhören zu ermitteln. Er nimmt eine „inoffizielle Rolle als polizeilicher Hilfsdienstleister und Zuhörer in Notzeiten“ ein, überbringt wie zu seiner aktiven Zeit zur Erleichterung seiner ehemaligen Kollegen Todesnachrichten an Hinterbliebene und längst hat sein Nachfolger André Block begriffen und akzeptiert, „dass sein ehemaliger Chef noch lange nicht pensioniert genug war“.

Im aktuellen Fall Ermordung des Glücks, dem zweiten der Reihe nach dem 2016 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Start Der namenlose Tag, informiert Jakob Franck die Eltern des elfjährigen Lennard Grabbe über den Tod ihres vermissten Sohnes. 34 Tage nach seinem Verschwinden an einem Novemberabend bei strömendem Regen hat man die Leiche in einem Waldstück gefunden. Lennard wurde noch am Abend seines Verschwindens durch einen massiven Schlag auf den Kopf getötet, aber nicht missbraucht. Hoffnung auf Spuren gibt es nach so langer Zeit und angesichts der Witterung kaum, doch nicht nur die Soko, sondern auch Franck verbeißt sich in die Auflösung des Falles: „Vier Todesfälle blieben bei seinem Abschied aus dem Dezernat ungeklärt zurück. Er würde nicht zulassen, dass ein fünftes Verbrechen, in dessen Sog er geraten war – oder in den er sich aus freien Stücken begeben hatte -, in einer Akte bei den kalten Fällen endete.“ Außerdem möchte er den Eltern nach der Todesnachricht auch die Mitteilung von der Lösung des Falles überbringen. Eine Zufallsbegegnung? Ein Bekannter des Jungen, der bereits als Exhibitionist und Spanner aktenkundig wurde? Ein familiärer Hintergrund? Fünf verhaftete Crack-Dealer, zwei illegal in einer Brauerei beschäftigte Somalier und ein weiterer Spanner sind das Nebenprodukt der Ermittlungen, aber weit und breit ist kein Motiv und kein Täter im Falle Lennard Grabbe zu finden…

Neben der offiziellen Ermittlungsarbeit von Seiten der Polizei und dem ebenso ungewöhnlichen wie beharrlichen Vorgehen Francks besticht auch in diesem zweiten Fall wieder der Blick in die Abgründe der Gesellschaft und in die bis zu diesem Unglück scheinbar intakte Familienwelt der Grabbes. Die Unvereinbarkeit ihrer Trauer und ihre Sprachlosigkeit sind ständig fühlbar, und die düstere Stimmung wurde nur durch mein unbedingtes Vertrauen in Francks Fähigkeiten nicht übermächtig. Lennard, das einzige, spät geborene Kind, war der Lebensmittelpunkt vor allem der Mutter, die nun in ihren Schmerz versinkt, sich „vor aller Augen in einen Schatten“ verwandelt, jede Hilfe, auch die ihres Mannes und ihres sehr nahestehenden Bruders, ablehnt, und nachdem sie mit ihrem alten Leben abgeschlossen hat nicht weiß, ob sie ein neues beginnen soll.

Ein düsterer Krimi, der sich vom Gros seines Genres abhebt, nicht ganz realistisch, da ein pensionierter Polizist sich mit Sicherheit nicht so in die laufende Ermittlungsarbeit einmischen darf, aber ausgesprochen atmosphärisch, psychologisch interessant und von einer guten sprachlichen wie literarischen Qualität.

Friedrich Ani: Ermordung des Glücks. Suhrkamp 2017
www.suhrkamp.de

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Die Bedrohung von innen

Frankreich ist im Oktober 2017 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse und aus diesem Grund liegt derzeit ein besonderer Fokus auf der Literatur unseres Nachbarlands. Vor allem eine Neuerscheinung hat dabei mein Interesse geweckt: Dann schlaf auch du, 2016 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, das zweite Buch der 1981 in Rabat geborenen, mit 17 Jahren zum Studium nach Paris übersiedelten Autorin Leïla Slimani. Der Roman stand monatelang auf der französischen Bestsellerliste, was nicht immer selbstverständlich mit der Auszeichnung einhergeht.

Bereits mit dem ersten Satz schlägt Leïla Slimani zu: „Das Baby ist tot.“ Und zwei Seiten später heißt es am Schluss des ersten Kapitels: „Adam ist tot. Mila wird ihren Verletzungen erliegen.“  Zwei tote Kinder, erstochen von der vermeintlich perfekten Nanny – wie konnte es zu dieser Tragödie kommen?

Etwas mehr als 200 Seiten lang berichtet die Autorin nüchtern und ohne zu (ver-)urteilen über die Vorgeschichte des Doppelmords. Sie erzählt von den Eltern, der arabischstämmigen Myriam, der nach der Geburt ihrer Kinder zuhause die Decke auf den Kopf fällt, und die wieder in ihren geliebten Beruf als Anwältin einsteigt, und Paul, dem Musikproduzenten. Als Louise sich bei Ihnen vorstellt, ist es Liebe auf den ersten Blick von Seiten der Eltern und der Kinder. Louise ist die gute Fee, die nicht nur Adam und Mila betreut und letztere bändigt, sie verwandelt die Wohnung in einen hellen, ruhigen, aufgeräumten Ort, kocht für die Familie und deren Gäste und bleibt abends so lange, bis Myriam spät aus dem Büro kommt: „Louise ist da und hält diese fragile Konstruktion aufrecht. Myriam lässt sich bereitwillig bemuttern. Jeden Tag überlässt sie einer dankbaren Louise weitere Aufgaben.“ Und: „Sie ist die Wölfin mit der Zitze, an der sie alle trinken, die verlässliche Quelle ihres Familienglücks.“ Alle beneiden die Familie Massé um diese „Nounou“, doch schlich sich bei mir relativ früh auch ein latentes Gefühl der Bedrohung ein. Und auch Myriam und Paul spüren sie. Louise kommt immer früher und geht immer später, „baut sich beharrlich ihr Nest inmitten der Wohnung“ und übernimmt immer mehr die Kontrolle. Sie ist unverzichtbar und doch träumt Paul schließlich davon, „sich von Louises Herrschaft zu emanzipieren“ und Myriam „würde sie gerne aus ihrem Leben verschwinden lassen“, aber viel zu tief sind bereits die Abhängigkeiten. Dabei wissen die Massés eigentlich kaum etwas über Louise, über ihre finanziellen und familiären Schwierigkeiten, ihre Vergangenheit, ihr Außenseiterdasein als Weiße unter den meist farbigen Nannys und ihre Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, wenn Adam in den Kindergarten kommt.

Herausragend an Leïla Slimanis Roman waren für mich die Milieu-schilderungen der bürgerlichen Mittelschicht, der Generation Y  und des Prekariats, die fast protokollmäßig wirkende, knappe Erzählweise, bei der es meist nicht einmal Kapitelüberschriften gibt, und das schrittweise einsetzende Gänsehautgefühl, das sich schnell bei mir einstellte und bis zum Ende nicht mehr verschwand.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Luchterhand 2017
www.randomhouse.de