Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Wo geht der Astronaut aufs Klo?

22 Sachgeschichten für wissbegierige Kinder ab fünf Jahren

Kinderfragen sind berüchtigt und nicht selten blamieren wir Erwachsenen uns beim spontanen Antwortversuch. Auch bei den 22 Kinderfragen in diesem Sachbuch hätte ich teilweise keine allzu gute Figur abgegeben, und selbst wenn ich sie hätte beantworten können, dann bestimmt nicht so unterhaltsam und kindgerecht wie Petra Maria Schmitt und Christian Dreller. Die beiden Autoren kombinieren die Sachinformationen mit Rahmengeschichten, die die Fragen logisch entwickeln und in eine Alltagssituation aus der Erlebniswelt der Kinder einbetten.

Anworten gibt es in diesem Band auf folgende Fragen:

  • Warum kann man sich nicht selbst kitzeln?
  • Warum hat ein Igel Stacheln?
  • Warum fallen wir nicht von der Erde?
  • Warum essen wir mit Messer und Gabel?
  • Hat ein Tausendfüßler wirklich 1000 Füße?
  • Warum tut Haareschneiden nicht weh?
  • Wer knipst das Licht im Kühlschrank an und aus?
  • Was hört man in einer Meeresschnecke rauschen?
  • Wie kommt das Küken in das Ei?
  • Warum geben wir uns die rechte Hand?
  • Warum jucken Mückenstiche?
  • Warum haben Zebras Streifen?
  • Wo geht der Astronaut aufs Klo?
  • Wie kommt der Regen in die Wolken?
  • Warum müssen wir schlafen?
  • Kann man mit den Fingern lesen?
  • Warum gibt es Berge?
  • Warum schnurren Katzen?
  • Warum ist Feuer heiß?

Jede Geschichte umfasst fünf bis acht Seiten und vermittelt spielerisch Wissen, ohne dabei belehrend zu wirken. Die bunten Bilder von Heike Vogel illustrieren altersgerecht sowohl die Rahmenhandlungen als auch die Sachinformationen.

Wo geht der Astronaut aufs Klo ist ganau das richtige Vorlesebuch für neugierige Vorschulkinder und vor allem für Grundschülerinnen und Grundschüler, die das Buch ab der vierten Klasse auch selbst lesen können. Nicht nur sie alle werden Überraschendes erfahren, auch die Erwachsenen können in diesem hochwertig hergestellten, preisgünstigen Kindersachbuch unterhaltsam dazulernen.

Petra Maria Schmitt & Christian Dreller: Wo geht der Astronaut aufs Klo? Ellermann 2015
www.ellermann.de

Juli Zeh: Leere Herzen

Eine sehr düstere Zukunftsvision

Da ich normalerweise kaum Dystopien und selten Politthriller lese oder höre, war Juli Zehs neuer Roman Leere Herzen eine Herausforderung für mich. Aufgrund der Denkanstöße hat sich das Hörbuch definitiv für mich gelohnt, auch wenn mich die Umsetzung des Themas nicht ganz überzeugen konnte und der erhobene Zeigefinger zu deutlich spürbar war.

Die Handlung versetzt Leser und Hörer ins Deutschland des Jahres 2025. Angela Merkel hat ihr Amt verloren, neue Regierungsmacht ist durch demokratische Wahl die BBB, die „Bewegung der Besorgten Bürger“. Das bedingungslose Grundeinkommen hält die Bürger ruhig, die Effizienzpläne der Regierung schaffen die Demokratie in kleinen Schritten ab, Grundrechte werden eingeschränkt, das Ende von EU und UNO scheint absehbar. Die Deutschen haben sich ins Private zurückgezogen, kritische Stimmen hört man kaum noch.

Britta, Mitte 30, hat sich in dieser Welt gnadenlos perfekt eingerichtet. Zusammen mit Babak, einem Iraner, hat sie im unauffälligen Braunschweig die „Heilpraxis für Self-Managing und Ego-Polishing“ mit dem Namen „Die Brücke“ gegründet, die offiziell potentielle Selbstmordkandidaten therapiert. In Wirklichkeit filtert das boomende Unternehmen jedoch mittels eines brutalen Auswahlmodus die untherapierbaren Hardcore-Kandidaten heraus, die dann an Terrorgruppen jedweder Couleur als Selbstmordattentäter vermittelt werden. Doch nun hat es einen Anschlag gegeben, den keiner von Brittas und Babaks Kandidaten verübt hat. Gibt es eine neue Konkurrenz auf diesem Markt, den die beiden bisher allein beherrscht haben? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für Britta, Babak und ihr Geschäftsmodell?

Die Idee hinter diesem Roman ist ebenso schräg wie bedrückend, weil das geschilderte Szenario beim genaueren Nachdenken gar nicht so völlig ausgeschlossen ist, wie es zu Beginn scheint. Allerdings fiel es mir schwer, einen Bezug zu den Personen aufzubauen, dazu schildert Juli Zeh sie zu schablonenhaft. Bei Britta, der perfekten Geschäftsfrau, Ehefrau und Mutter, nüchtern, berechnend, mit Hygienefimmel und einem völlig übersteigerten Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstoptimierung, deutet allenfalls die beständige Übelkeit auf einen Rest von Gewissen hin. Sie hat sich bequem in ihrem Doppelleben eingerichtet, kann aber mit der unerwarteten Bedrohung nicht umgehen. Babak dagegen, der schwule, eher gutmütige Iraner, der den Algorithmus für die Auswahl der Kandidaten der „Brücke“ entwickelt hat, ist der ruhende Pol des Unternehmens, überlegter, entspannter, aber ohne Durchsetzungskraft. Julietta, eine neue Kandidatin der „Brücke“, ist in ihrer absoluten Klischeehaftigkeit die schwächste Figur des Romans.

Ulrike C. Tscharre liest das leider gekürzte Hörbuch auf sechs CDs in knapp sieben Stunden mit genau der passenden kühlen und lakonischen Artikulation. Das Zuhören hätte mir allerdings mit mehr erzählenden Passagen und weniger Dialogen besser gefallen.

Wer Lust hat, sich über die möglichen Folgen von Politikverdrossenheit und Rückzug in Form eines teils sehr spannenden Romans mit Zügen eines Politikthrillers Gedanken zu machen, sollte Juli Zehs Leere Herzen lesen oder hören.

Juli Zeh: Leere Herzen. Gelesen von Ulrike C. Tscharre. Der Hörverlag 2017
www.randomhouse.de

Hisham Matar: Die Rückkehr

Protokoll einer Suche nach dem verschwundenen Vater

Von Hisham Matar, dem in New York und London lebenden Autor libyscher Herkunft, sind mit Im Land der Männer (2007) und  Geschichte eines Verschwindens (2011) bereits zwei Romane erschienen, doch ist Die Rückkehr das erste Buch, das ich von ihm gelesen habe. Immer geht es um seinen Vater, Jaballa Matar, der in den Fängen der libyschen Diktatur von Muammar al-Gaddafi verschollen ist, dieses Mal ganz direkt und in Form einer Biografie, die zugleich Autobiografie des Verfassers ist.

Ausgangspunkt für Die Rückkehr ist die erste Reise Hisham Matars in die Heimat nach 33 Jahren Exil im März 2012, nicht lange nach Gaddafis Tod im Herbst 2011, als Demokratie und Gesetzlichkeit vorübergehend in greifbarer Nähe schienen. Der Aufenthalt diente vor allem dazu, das ungewisse Schicksal seines Vaters zu klären, was letztlich nicht gelang: „Seit einem Vierteljahrhundert schwindet meine Hoffnung kontinuierlich, und so kann ich heute sagen, dass ich so gut wie frei davon bin. Es bleiben nur noch ein paar vereinzelte Fünkchen.“

Jabbala Matar wurde 1939 geboren, als Libyen während der kolonialen Unterdrückung durch Mussolini einen Genozid erlebte. Sein Vater Hamed, Hishams Großvater, kämpfte gegen die seit 1911 bestehende italienische Besatzung, bis er 1919 mit seiner Familie für 20 Jahre nach Alexandria floh. Jabbala Matar liebte Gedichte, wurde mit dem Import von japanischen und westlichen Waren in den Nahen Osten sehr reich und diente nach der Unabhängigkeit Libyens 1951 unter König Idris als Offizier. Mit dem Putsch Gaddafis verband er zunächst Hoffnungen auf eine neue, republikanische Zeit, erkannt jedoch bald die wahre Natur des neuen Machthabers, der die Schulen militarisierte, Bücher, Musik und Filme verbot, Theater und Kinos schließen ließ, Fußball zur ungesetzlichen Tätigkeit erklärte und Gegner massenhaft hinrichten ließ. 1979 floh Jaballa Matar mit seiner Frau und den beiden Söhnen und organisierte von Kairo aus den militärischen Widerstand. 1990 wurde er mit Wissen des ägyptischen Geheimdienstes und Hosni Mubaraks entführt und nach Tripolis ins berüchtigte Gefängnis Abu Salim gebracht. Drei Briefe konnte er heimlich an seine Familie schicken, nach den Massenhinrichtungen 1996 verliert sich seine Spur.

Hisham Matar, besessen von dem Wunsch, das Schicksal seines Vaters aufzuklären, mobilisierte führende Mitglieder des britischen Oberhauses und den Außenminister David Miliband, den Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu, Menschenrechtsgruppen und NGOs und erstaunte mit diesem „Lärm“ selbst den Gaddafi-Sohn Said al-Islam, doch kamen lediglich vier andere Familienmitglieder nach 21 Jahren Haft frei.

Die Rückkehr wurde 2017 mit dem Pulitzer-Preis für Biografie oder Autobiografie und mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Mir haben Hisham Matars bewegendes Zeugnis der Liebe zu seinem Vater und seiner Heimat gut gefallen, genauso wie das gezeigte Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Wahrheit und der Angst davor, alles in klarem Stil verfasst und ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Allerdings hätte ich mir neben den sehr persönlichen Aspekten mehr Information zur Geschichte des Landes gewünscht. Aber vielleicht schreibt Hisham Matar darüber ja noch ein weiteres Sachbuch, ich würde es auf jeden Fall gerne lesen.

Hisham Matar: Die Rückkehr. Luchterhand 2017
www.randomhouse.de

Antonia Michaelis & Cornelia Haas: Detektivgeschichten

Spannend und manchmal ein bisschen gruselig

Die Detektivgeschichten von Antonia Michaelis stammen aus der Zeit, als die Erstlesereihe des Loewe Verlags noch vier Stufen umfasste. Die Lesepiraten, zu denen dieser Band gehört, waren die dritte Lesestufe und richtete sich an fortgeschrittene Leserinnen und Leser ab ca. sieben Jahren.

Die sieben unabhängig zu lesenden Geschichten passen für Jungs und Mädchen gleichermaßen, sind spannend und manchmal ein bisschen gruselig. Sie umfassen jeweils sechs bis sieben Seiten, die jeweils etwa zur Hälfte aus Text und Bild bestehen, wobei die Illustrationen von Cornelia Haas das Textverständnis gut unterstützen. Nur in der letzten Geschichte gibt es eine ganze Seite Text als Vorübung zur nächsten Lesestufe, als Lohn winkt eine ganzseitige Illustration. Die große Fibelschrift, die kurzen Zeilen im Flattersatz, die einfache Wortwahl und die sehr knappen Sätze sind gut auf das Lesevermögen von Zweitklässlern und Zweitklässlerinnen abgestimmt. Die Lösungen der kleinen Rätsel am Ende jeder Geschichte können in ein Kreuzworträtsel hinten im Buch eingetragen werden, das wiederum zum Lösungswort der „Leserallye“ führt.

In den kniffligen Fällen der Kinderdetektive geht es um Max, der beunruhigende Telefonanrufe erhält, Lena und Lina, die an einem Detektiv-Wettbewerb teilnehmen, Paul bei der Enttarnung eines geheimnisvollen Schokoladendiebs, Britta und Karl auf der Suche nach einem Ziegenentführer, die Spurenleserin Anni bei der Ermittlung eines tierischen Keksdiebs, Steffen, Jochen und die falsche Leiche und Toni, der das Geheimnis seines Vaters lüftet.

Besonders gut gefallen dürfte buchstabenbegeisterten Kindern Lenas Geheimschrift, die zur Nachahmung anregt.

Antonia Michaelis & Cornelia Haas: Detektivgeschichten. Loewe 2011
www.loewe-verlag.de

Kent Haruf: Lied der Weite

Weite der Prärie – Weite der Herzen

Lied der Weite, im Original 1999 erschienen unter dem Titel Plainsong, ist der dritte von sechs Romanen des US-Amerikaners Kent Haruf (1943 – 2014). Da ich 2017 seinen letzten, Unsere Seelen bei Nacht, gelesen und sehr geliebt habe, waren meine Erwartungen hoch – und wurden erfüllt. Noch mehr als die Handlung haben mich die Charaktere und die Atmosphäre bezaubert. Die unaufgeregte Erzählweise, das genaue Beobachten, das bedächtige Erzähltempo und die atmosphärische Schilderung des Lebens in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, in der alle Romane Harufs angesiedelt sind, machen auch dieses Buch für mich zu einem literarischen Kleinod.

Zwei Schicksale stehen im Mittelpunkt: Da sind einmal die Brüder Bobby und Ike Guthrie, neun und zehn Jahre alt, deren an Depression erkrankte Mutter die Familie verlässt und zu ihrer Schwester nach Denver zieht. Bobby und Ike sind mit ihrer Trauer und Sehnsucht weitgehend auf sich allein gestellt, da ihr Vater Tom mit eigenen Problemen zu kämpfen hat. Auch die 17-jährige Schülerin Victoria Roubideaux ist ganz allein: Wegen ihrer Schwangerschaft hat ihre Mutter sie vor die Tür gesetzt, sie steht vor dem Nichts.

Es sind jedoch nicht diese drei Protagonisten, die den Roman so besonders machen, es sind die Nebencharaktere, die soviel Hoffnung und Zugewandtheit ausstrahlen an diesem ansonsten tristen Ort. Einer von ihnen ist die kluge, engagierte und verständnisvolle Lehrerin Maggie Jones, die sich Toms annimmt. Sie ist es auch, die Victoria ohne zu zögern vorübergehend bei sich aufnimmt und die ebenso unglaubliche wie geniale Idee hat, sie bei den McPheron-Brüdern auf deren Rinderfarm 17 Meilen außerhalb von Holt unterzubringen. Diese beiden alten Farmer, schroffe, ungehobelte, raubeinige alte Männer, die ein halbes Jahrhundert dort alleine gehaust haben, nicht wissen, wie man redet, aber zutiefst gutherzig und rührend sind, waren meine absoluten Lieblingsfiguren. Aber auch der alte Arzt Dr. Martin, der Victoria respektvoll, einfühlsam und herzlich betreut, und die kranke, etwas verwahrloste alte Mrs. Stearns, die sich so liebevoll der beiden mutterlosen Buben Bobby und Ike annimmt, zeigen, was wahre Güte ist. Sie haben mich immer wieder vergessen lassen, wie trostlos und karg das Prairiestädtchen Holt eigentlich ist, wie unsympathisch manche seiner Bewohner und welch schwere Last viele mit sich herumschleppen.

Lied der Weite habe ich zunächst nur auf die Weite der Prärielandschaft bezogen, doch nach der beglückenden Lektüre denke ich mehr an die Weite der Herzen einiger seiner Bewohner. Ihre Menschlichkeit schenkt Hoffnung, nicht nur Bobby, Ike und Victoria, sondern auch mir als Leserin. Deshalb wünsche ich diesem kleinen, unspektakulären Roman im deutschsprachigen Raum genauso viel Beachtung wie bei seinem Erscheinen 1999 in den USA, als er auf der Shortlist des National Book Award for Fiction stand und ein Bestseller wurde.

Kent Haruf: Lied der Weite. Diogenes 2018
www.diogenes.ch

Bernhard Schlink: Olga

Mit Bismarck beginnt und endet es

Viel Stoff hat Bernhard Schlink in diesen Roman gepackt: einen Parforceritt durch die deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis 1971, Reisen in ferne Länder, eine unvollendete Liebesgeschichte und die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau.

Olga ist von Beginn an anders. Sie steht still und schaut lieber zu, sie lernt begierig und begreift früh Bildung als ihre einzige Chance aus der Armut und weg von der ungeliebten Großmutter, sie träumt von einem Klavier, einem Füllfederhalter von Soennecken und neuen Kleidern. Der Eintritt ins Lehrerinnenseminar in Posen und die erste Stelle als Lehrerin sind die Belohnung für ihre Zielstrebigkeit, ihre Dickköpfigkeit und ihren Fleiß.

Ganz anders Herbert. Als Sohn des örtlichen Guts- und Fabrikbesitzers fehlt es ihm nicht an materiellen Gütern. Seine Passion sind das Rennen, das Schießen, das Reiten und Rudern und nur mit Mühe schafft er sein Abitur und den Eintritt ins Garderegiment. Doch seine Träume sind andere, er will mehr als „Gut, Dorf, Königsberg, Berlin oder die Garde“. Er möchte Deutschland groß machen, fantasiert von der Stärke und Schönheit reiner Rassen, alles Dinge, die für Olga hohl klingen. Und doch sind die beiden Außenseiter befreundet seit Kindertagen, werden sogar trotz aller Widerstände ein heimliches Paar. Olga akzeptiert ein Leben im Wartestand, während Herbert am Krieg gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika teilnimmt, durch die Welt reist und ihr ein Leben im Wartestand zumutet, nicht unähnlich dem der heimlichen Geliebten eines verheirateten Mannes. Seine Suche nach Weite ist ihr fremd, sie steht den Ideen der Sozialdemokraten nahe und lehnt die seit Bismarck grassierenden großen Gedanken der Deutschen ab. Herberts schlecht vorbereitete Arktisexedition kann sie nicht verhindern. Er wird nie zurückkehren.

Bernhard Schlink gliedert seinen Roman in drei völlig unterschiedliche Teile. Der erste erzählt Olgas Leben bis zu ihrer Vertreibung aus Schlesien 1945 und wird in kurzen Kapiteln mit oft großen Zeitsprüngen schlaglichtartig, sehr spannend, aber auch sehr sachlich und distanziert erzählt. Warum dies so ist, erklärt erst der letzte Abschnitt dieses Teils, der die Erzählperspektive offenlegt – ein sehr überraschender Kunstgriff des Autors, der mir gut gefallen hat. Hier hat meine Bewunderung für Olga die Zuneigung zu ihr überwogen.

Im zweiten und in meinen Augen nicht so starken Teil des Romans wird das Leben Olgas ab den Fünfzigerjahren im Westen erzählt, als sie ertaubt als Näherin in einer Pfarrersfamilie arbeitete und dem jüngsten Sohn zur großmütterlichen Vertrauten voller Liebe, Verständnis und Nachsicht wurde. Dieser Ferdinand ist der Gegenpol zu Olga und Herbert und führt ein Leben in Beständigkeit, das außer einem Wechsel des Studienfachs keine Brüche kennt. Bis zu ihrem Tod infolge eines Anschlags Unbekannter auf das Bismarckdenkmal bleibt er an ihrer Seite. In seiner Zuneigung zu ihr konnte ich eine tiefere Beziehung zu Olga aufbauen als im ersten Teil.

Ferdinand haben wir es zu verdanken, dass wir im dritten, unglaublich berührenden Teil Briefe Olgas an den verschollenen Herbert zu lesen bekommen, in denen wir endlich ihre Stimme hören, eine überraschend andere Olga erleben und Unvermutetes erfahren.

Ich halte Bernhard Schlinks Roman Olga für einen absolut lesenswerten Roman über eine starke Frau und ein interessantes Zeitdokument.

Bernhard Schlink: Olga. Diogenes 2018
www.diogenes.ch

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

  Das Allgemeinste persönlich darstellen

„Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen“, ein Zitat des japanischen Malers Katsushika Hokusai (1760 – 1849), stellt Arno Geiger dem Buch über das Leben und die Demenzerkrankung seines Vaters voran. Die Umsetzung dieses Mottos ist dem österreichischen Autor gelungen, die Krankheit erhält durch das Schicksal des Vaters August Geiger ein Gesicht. Aber nicht nur das: Arno Geiger dokumentiert ein über 80 Jahre währendes Leben, würdigt, was er seit der Entfremdung vom Vater während der Pubertät nicht mehr wertschätzte, und beschreibt den Strukturwandel in der Vorarlberger Heimat von der bäuerlichen Dorfwelt zur Wohn- und Industriegemeinde.

August Geiger, geboren 1926, war ein Kleinbauernsohn aus Wolfurt bei Bregenz. Nach der Kriegsmatura im Februar 1944 wurde er eingezogen und im Februar 1945 an die Ostfront versetzt. Seiner Weigerung nach dem Krieg, die Heimat noch einmal zu verlassen, noch nicht einmal für Urlaubsreisen, war auf das Trauma von Krieg, Gefangenschaft und Lazarett zurückzuführen. Eine glückliche Ehe mit seiner so ganz anderen Frau war nicht möglich, sie verließ ihn nach 30 Ehejahren.

Anlass für das Schreiben des Buches war für seinen Sohn Arno die Demenzerkrankung des Vaters, die sehr schleichend begann und deren erste Anfänge wohl bereits spätestens in der Mitte der 1990er-Jahren liegen. Hier spricht der Sohn von einem gemeinschaftlichen Versagen, denn viel zu viel Zeit und Kraft wurde vergeudet: „Wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit“. Vergesslichkeit, Motivationsprobleme, ein Verlust von alltagspraktischen Fähigkeiten und vor allem der quälende Eindruck des Vaters, nicht zu Hause zu sein, wurden von der Familie zunächst fehlinterpretiert, was bei Arno Geiger rückblickend Zorn hervorruft.

Erst mit der Diagnosestellung trat eine gewisse Erleichterung ein, wie übrigens der ganze Krankheitsverlauf immer wieder durch Phasen des Durchatmens und Tiefs geprägt war. Die sich bei der Pflege abwechselnden Kinder, Geschwister, die getrenntlebende Ehefrau und später slowakische Pflegerinnen sahen sich ständig neuen Überraschungen und Herausforderungen gegenüber, bis im März 2009 als letzte Möglichkeit nur noch das Heim blieb, wieder ein Eingeständnis einer Niederlage und doch eine überraschend positive Wende für alle Beteiligten.

Der alte König in seinem Exil könnte wegen der dargestellten Problematik ein sehr dunkles Buch sein, ist es aber nicht, weil Arno Geiger der Krankheit bei aller Verzweiflung und Ausweglosigkeit auch helle Seiten abgewinnen kann. Die Annäherung an den Vater, der nach der Diagnosestellung wieder engere Zusammenhalt der Familie, die lichten Momente und vor allem das neue, überraschend kreative Sprachvermögen des Vaters, das Arno Geiger in Dialogen festgehalten hat, sind solche positiven Aspekte.

Kritiker haben Arno Geiger vorgeworfen, die Krankheit und Defizite des Vaters für seine Zwecke auszuschlachten. Ich kann dem nicht zustimmen, weil der Autor das Thema mit größter Demut, liebevoller Dankbarkeit und höchster Achtung vor dem Vater angeht. Außerdem hat es mir sehr gut gefallen, wie bescheiden Arno Geiger, dessen Durchbruch als Schriftsteller in die beschriebene Zeit fiel, im Hintergrund bleibt. Lediglich bei der Interpretation der Krankheit als Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft konnte ich ihm nicht ganz folgen.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. dtv 2012
www.dtv.de

Graham Swift: Ein Festtag

Eine, die doch zum Ball geht

Das hätte es unter den strengen Augen von Mr Carson, Butler auf Downton Abbey, nicht gegeben: ein sieben Jahre währendes Verhältnis zwischen einem jungen Dienstmädchen und dem Erben des Nachbarguts. Doch erstens sind wir bei Ein Festtag, dem Roman oder besser der Novelle von Graham Swift, in der Grafschaft Berkshire und nicht in Yorkshire, und zweitens sind nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Regeln der englischen Klassengesellschaft tief erschüttert. Auf drei benachbarten Gütern sind die meisten Söhne im Krieg geblieben und das Personal in Upleigh bzw. Beechwood House ist auf je eine Köchin und ein Dienstmädchen zusammengeschrumpft. So kann das Dienstmädchen Jane Fairchild von Beechwood, wo Mr und Mrs Niven seit dem Tod ihrer Söhne alleine leben, sich jahrelang heimlich mit dem einzig verbliebenen Erben von Upleigh, Paul Sheringham, an verschwiegenen Orten treffen, zunächst für Geld, doch als es „ernst“ wird nur noch als Freundin und Geliebte.

Der 30. März 1924 soll der krönende Höhe- und Schlusspunkt werden. Traditionell haben an diesem Muttertag alle Dienstboten einige Stunden frei, um sie mit ihren Müttern zu verbringen. Ihre Herrschaft trifft sich derweil in der Stadt, um die bevorstehende arrangierte Ehe Pauls zu bereden. Upleigh steht daher leer und Paul kann Jane, die als Findelkind keine familiären Verpflichtungen hat, zu sich einladen, um sich anschließend mit seiner Verlobten zu treffen. Zum ersten Mal kann Jane ihr Rad vor dem Haus abstellen und durch das Hauptportal eintreten, das Paul ihr wie ein Butler öffnet. Und nicht nur das: Als Paul schließlich das Haus nach dem erotischen Spiel verlässt, kann sie nackt durch die Räume streifen und eine Freiheit genießen, die sie nie hatte, nun aber auch nicht so leicht wieder aufgeben wird.

Jane Fairchild, geboren 1901, wird am Ende fast 100 Jahre alt werden, wird 19 Bücher schreiben, darunter unverblümt sexuelle, eine gefeierte Schriftstellerin werden, aber sie wird sich von den fragenden Reportern nie entlocken lassen, was wir Leser erfahren: wann genau sie zur Schriftstellerin wurde. Als Findelkind im Waisenhaus aufgewachsen, hat sie nur eine elementare Schulbildung genossen und mit 14 ihre erste Stelle als Dienstmädchen angetreten. Doch ihr Interesse für Bücher, vor allem Abenteuerromane für Jungen, darf sie dank der Großzügigkeit ihres Dienstherrn in der Bibliothek des Herrenhauses stillen und Bücher werden ihr zur „Grundfeste ihres Lebens“. Der ebenso furiose wie tragische Tag im März 1924 wird zum Wendepunkt ihres Lebens.

Das Aschenputtel-Motiv „Und du sollst doch zum Ball gehen“ hat Graham Swift, einer der großen zeitgenössischen englischen Autoren, seinem kleinen Roman, den ich weniger als Liebes-, denn als Emanzipations- und Bildungsgeschichte gelesen habe, als Motto vorangestellt. Die Episode am Muttertag 1924 ist der Dreh- und Angelpunkt, in Wiederholungen erzählt, darum herum wird in kurzen Sequenzen das komplette Leben Janes und der Wandel der englischen Gesellschaft in den 1920er-Jahren zusammengefasst. Obwohl ich mir letzteres noch etwas ausführlicher gewünscht hätte, kann ich das elegant geschriebene Buch mit der wunderschönen Ausstattung und dem passenden Cover sehr empfehlen.

Graham Swift: Ein Festtag. dtv 2017
www.dtv.de

Volker Weidermann & Kat Menschik: Ma.Lu.Lu.Ka.

Zu einseitiger Kinderkrimi

Wenn bekannte Autoren aus dem Erwachsenenbereich ein Kinderbuch schreiben, ist das ein spannendes Experiment, das grundsätzlich meine Neugier weckt. Im Falle von Ma.Lu.Lu.Ka., einem Kinderratekrimi von Volker Weidermann, konnte mich das Resultat allerdings leider überhaupt nicht überzeugen.

Bei einer Schulexkursion in das Tunnelsystem unter dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof findet Karim, Mitglied der Viererbande Ma(rlene).Lu.Lu(dwig).Ka(rim). ein altes Tonband. Darauf sind aufgeregtes Elefantengeschrei und ein panischer, russischsprechender Mann zu hören. Die Kinder beginnen mit ihren Nachforschungen im Berliner Zoo, verfolgen die Spur des ehemaligen russischen Elefantenpflegers Pavel auf einer rasanten Fahrrad-Verfolgungstour durch das Berliner Zentrum und stoßen schließlich auf die missglückte Elefantenbefreiungsaktion eines PETA-Aktivisten.

Die Vorstellung der vier Protagonisten zu Beginn des Buches fällt extrem kurz aus. Über Karim erfährt man beispielsweise nur, dass er gut Fußball spielt und in der Schule verbotenerweise immer mit Dosen kickt. Zusammen mit den Illustrationen im Comicstil, die meinen Geschmack leider überhaupt nicht treffen, reicht das nicht aus, um sich ein Bild zu machen, zumal ohne Altersangabe.

Bereits der Einstieg mit dem Tonband und die Faszination der Kinder dafür klangen für mich nicht besonders überzeugend. Dass die Ermittlung der Umstände der Aufzeichnung dann von einem Zufall in den nächsten stolpert, ist aber relativ typisch für einen Kinderkrimi und soll hier nicht kritisiert werden. Ganz und gar nicht akzeptieren kann ich die dagegen die vollkommen einseitige Darstellung der Haltung von Elefanten in Zoos, die nur die Sichtweise von PETA berücksichtigt. Gerne dürfen auch solch kritische Themen in Kinderbüchern angesprochen werden und in einem Kindersachbuch über Zoos oder Elefanten würde ich das sogar erwarten, aber bitte nicht so pauschal und undifferenziert!

Die Herstellung des Buches ist hochwertig, das sehr stabile Hardcover hat sogar ein Lesebändchen. Sprachlich und in der Schriftgröße ist der Text an die Zielgruppe gut angepasst, die Sätze sind kurz, das Vokabular einfach und die viele wörtliche Rede nicht schwer zu lesen. Die Textmenge ist allerdings groß und die Bilder unterstützen das Textverständnis kaum, sodass ich das Buch frühestens ab Ende der dritten Klasse empfehlen würde. Ein Satz wie „Die anderen so ˂aha˃, …“ hat allerdings für mich nichts in einem (Kinder-)Buch verloren.

Die Rätselfragen an den Kapitelenden tragen nicht zur Lösung des Falls bei, motivieren aber eventuell zum genaueren Lesen des nächsten Abschnitts. Als störend empfand ich die in den Text eingestreuten Bilderrätsel, die den Lesefluss unterbrechen und im Anhang besser aufgehoben wären. Hilfreicher wären textunterstützende Illustrationen, zum Beispiel für alle Nicht-Berliner ein Stadtplan zur detailliert beschriebenen Verfolgungsjagd.

Ein Wort noch zu den Illustrationen von Kat Menschik: Der Comicstil mag Geschmacksache sein, aber dass die mit ihren Fahrrädern durch Berlin brausenden Kinder keine Helme tragen, ist in meinen Augen fahrlässig.

Fazit: Wer seinen Kindern diesen Krimi in die Hand gegen will, sollte ihn vorher unbedingt selbst lesen und für Diskussionen bereitstehen. In die Klassenzimmerbibliothek einer Grundschule, für die das Buch vorgesehen war, werde ich es nicht stellen.

Volker Weidermann & Kat Menschik: Ma.Lu.Lu.Ka. Fischer KJB 2015
www.fischerverlage.de

Matteo Righetto: Das Fell des Bären

Das Wunder einer Blume nach langem Schnee

Was für ein Protagonist! Domenico ist mir sofort ans Herz gewachsen. Der Zwölfjährige aus einem Dolomitendorf ist klein und dünn für sein Alter, sommersprossig und mit wachem, offenem Blick, doch es fehlt ihm an Zuneigung. Seit dem Tod der Mutter vor zwei Jahren hat sich sein Vater, der mittellose Tischler Pietro Sieff, verändert, ist hart geworden, verschlossen und ungesellig. Für seinen Sohn hat er kein aufmunterndes Wort, nur Zornausbrüche und Ohrfeigen. Die schulischen Erfolge des intelligenten Jungen interessieren ihn nicht, auch nicht Domenicos Träume, der weiter zur Schule gehen möchte,  Abenteuer bestehen und Heldentaten vollbringen will.

Doch eines Tages erhalten Vater und Sohn die Chance zum Heldentum: Ein Bär treibt seit einigen Montaten sein Unwesen und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken. Kein gewöhnlicher Dolomitenbär, deren letzter 1931 erlegt wurde, soll er sein, sondern eine rotäugige Bestie mit infernalischem Brüllen und pestartigem Gestank, genannt El Diàol, der Teufel. Einen solchen Bären gab es 1882 schon einmal, Vorbote einer katastrophalen Überschwemmung. Keiner traut sich die Jagd zu, bis Pietro, der verachtete Trinker, mit dem Lebensmittelhändler eine Wette eingeht: eine Million Lire für das Fell des Bären. Pietro weiß, dass er damit für immer ausgesorgt hätte, aber nicht nur das Geld, auch der Wunsch nach Anerkennung treibt ihn, den Zugezogenen an. Und so marschieren Vater und Sohn im Oktober 1963 mit zwei alten Gewehren los, Pietro entschlossen und mit neuer Kraft, Domenico mit der Hoffnung auf Ruhm und darauf, die Achtung seines Vaters wiederherzustellen. Die vier Tage, die sie gemeinsam in der Wildnis verbringen, wird ihre Beziehung verändern, denn kaum aufgebrochen, wird der Vater ein anderer Mensch, umgänglich wie noch nie. Er erzählt Domenico von früher und von seiner Trauer um die Mutter, seit deren Tod er das Gefühl hat, „vom Himmel nur noch die Hälfte zu sehen“,  verbindet ihm die wunden Füße, ruft ihn mit seinem Kosenamen Menego und bringt ihm das Schießen bei. „Es war als wären sie beide noch einmal zur Welt gekommen, als habe dieses gemeinsame Abenteuer ein kleines Wunder geschehen lassen. Das Wunder einer Blume nach langem Schnee. Ja, genauso fühlte und sah sich Domenico: wie ein zarter Blütenkelch, der sich nach monatelangen Schneefällen den Sonnenstrahlen öffnet. Und wie wärmten diese väterlichen Strahlen sein Herz.“

Jederzeit jedoch sind Vater und Sohn sich der Gefahr ihrer Unternehmung bewusst: „Sieg oder Untergang, alles oder nichts“, denn El Diàol verzeiht keinen Fehler und das Fell des Bären muss teuer erkauft werden.

Matteo Righetto, geboren 1972 und Dozent für Literatur, war mit seinem Debüt Das Fell des Bären in seiner Heimat Italien sehr erfolgreich. Der kurze, nur 160 Seiten umfassende Roman, ist eine eindringliche, bildreiche, klar und einfach erzählte Vater-Sohn-Geschichte, ein Bergroman mit sehr eindrücklichen Naturschilderungen und darüber hinaus eine ungeheuer spannende, überraschende und bisweilen gruselige Geschichte, die mich bei der Schilderung von Gerüchen und Geräuschen immer wieder hat erschauern lassen. Nach Paolo Cognettis Acht Berge ist es bereits mein  zweiter beeindruckender italienischer Bergroman in diesem Jahr, hat mir aber literarisch noch besser gefallen.

Matteo Righetto: Das Fell des Bären. Blessing 2017
www.randomhouse.de