Interview mit der Übersetzerin Antje Subey-Cramer

Antje Subey-Cramer arbeitet nach einem Studium der Nordistik und Musikwissenschaft als freie Lektorin und Übersetzerin. Zum ersten Mal begegnete mir ihr Name als Übersetzerin des sehr empfehlenswerten Jugendbuchs „Battle“ von Maja Lunde aus dem Norwegischen. Inzwischen schätze ich sie vor allem für ihre hervorragenden Übersetzungen der Bücher des Norwegers Edvard Hoem. Drei Titel von ihm liegen mittlerweile in ihrer Übersetzung im Verlag Urachhaus vor: „Die Hebamme“ (2021), „Der Geigenbauer“ (2022) und „Der Heumacher“ (2024).

Im Herbst 2023 habe ich Antje Subey-Cramer bei einer Lesung von Edvard Hoem in Hamburg kennengelernt. Was sie mir über ihre Arbeit erzählt hat, war so interessant, dass ich sie nun um ein Interview für meinen Blog gebeten habe.

Antje Subey-Cramer. © privat

Liebe Frau Subey-Cramer, mit „Der Heumacher“ ist im Frühjahr 2024 schon der dritte Roman von Edvard Hoem in Ihrer Übersetzung erschienen. Worin liegt für Sie die Besonderheit dieses Autors?

Edvard Hoem verfügt über eine ganz eigene, besondere Sprache – schlicht und ungekünstelt. Dadurch treten die Beschreibungen der Figuren und der Landschaft klar hervor, ohne sprachliche Überfrachtung, trotzdem atmosphärisch dicht. Das verleiht seinen Geschichten eine besondere Authentizität.

In Norwegen gibt es zwei unterschiedliche Schriftsprachen, Nynorsk und Bokmål. Edvard Hoem schreibt im seltener genutzten Nynorsk. Welche Bedeutung hat das für seine Texte?

Nynorsk, eine Schriftsprache, die im Zuge der Nationalromantik Mitte des 19. Jahrhunderts aus den vielen west- und zentralnorwegischen Dialekten gebildet wurde (als Antwort auf das als „unnorwegisch“ und feiner geltende Bokmål, das ans Dänische angelehnt ist), gilt als ungekünstelt, direkt, als „Sprache des Volkes“. Insofern kann man vielleicht sagen, dass Nynorsk die sprachliche Form ist, die Edvard Hoems literarischer Sprache am besten entspricht und mit ihr sehr gut harmoniert. Letztlich liegt Nynorsk Edvard Hoem aber auch schlicht näher als Bokmål, denn dort, wo er aufgewachsen ist, ist Nynorsk die vorherrschende Schriftsprache.

Gibt es Besonderheiten in der norwegischen Sprache, die im Deutschen anders oder gar nicht funktionieren?

Das Gute (und manchmal auch das Gefährliche …) ist, dass die beiden Sprachen sich so ähnlich sind. Oft lese ich einen Satz und habe sofort die (für mein Empfinden!) adäquateste Entsprechung im Ohr. Schwierig zu übersetzen sind endlose Schachtelsätze, die man beim Lesen des norwegischen Originals überhaupt nicht als solche empfindet. Würde man sie aber eins zu eins übersetzen (also zum Beispiel eine lange Reihung von Relativsätzen übernehmen), wird der Zieltext nicht nur unübersichtlich und schwer verständlich, sondern auch schwerfällig und holprig zu lesen. Hier muss man oft eingreifen und die Sätze trennen.

Edvard Hoem nutzt oft ein sehr spezielles, auch älteres Vokabular, ich denke beispielsweise an die Fachbegriffe zum Geigenbau oder zum Heumachen. Nutzen Sie dafür auch speziell alte Wörterbücher? Und wie gehen Sie vor, wenn Sie keine Übersetzung finden?

Ich verwende tatsächlich verschiedene Wörterbücher, und zwar nicht nur norwegisch-deutsche (bzw. Bokmål-Deutsch oder Nynorsk-Deutsch). Wichtig sind für mich auch die Wörterbücher, die die Herkunft und Bedeutung alter Begriffe erklären – sowohl im Norwegischen als auch im Deutschen. Zum Glück gibt es mittlerweile die Möglichkeit, manche dieser Wörterbücher im Internet abzurufen. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“, DWDS (der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute), ist eine große Hilfe, wenn man versucht, Entsprechungen für ein Wort zu finden, das eine Figur in einer bestimmten Zeit gebraucht haben könnte. Da ist meine Frage oft: Kann die Figur dieses Wort schon gekannt haben, oder ist es zu neu? Wenn ich nicht ganz sicher bin, was ich mir unter einem Begriff vorstellen soll (weil er so alt ist und ich keine zufriedenstellende Übersetzung finde), dann lese ich auch gerne im „Store norske leksikon“ nach. Hier findet man hilfreiche Informationen zur Etymologie und zur Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Abgesehen von den Wörterbüchern, die im Internet zur Verfügung gestellt werden, benutze ich im Übrigen auch die Möglichkeit, Bibelübersetzungen aus verschiedenen Zeiten im Internet einzusehen. Das ist besonders bei den Romanen von Edvard Hoem hilfreich, der sich häufig auf Bibelstellen bezieht oder Figuren aus der Bibel zitieren lässt. Wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielt, kann ich natürlich nicht die Revision der Lutherbibel von 1984 verwenden …

Haben Sie vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zum Autor?

Ich habe meist gegen Ende der Übersetzung Kontakt zum Autor, wenn sich ein paar Fragen angesammelt haben. Die Besonderheit bei Edvard Hoem ist, dass er selbst sehr gut Deutsch spricht und meinen Text liest, bevor dieser in den Druck geht. In diesem Stadium kommen wir häufig noch einmal über den einen oder anderen Punkt ins Gespräch. Zum Beispiel fragte er mich, warum ich prest nicht mit „Pfarrer“, sondern mit „Pastor“ übersetzt habe. Dass der Begriff „Pastor“ im Deutschen ganz eindeutig auf einen evangelischen Geistlichen hinweist, der Begriff „Pfarrer“ dagegen sowohl für katholische als auch evangelische Geistliche benutzt werden kann, war ihm neu. Und ein-, zweimal sind ihm auch Übersetzungsfehler aufgefallen – dafür war ich dann sehr dankbar.

Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?

Ich lese die Bücher auf jeden Fall vorher und entdecke dabei schon die eine oder andere „Klippe“, die es eventuell zu umschiffen gilt. Dann mache ich mir Notizen am Rand, manchmal schon mit konkreten Lösungsideen. Das Interessante ist, dass ich beim Übersetzen häufig wieder zu ganz anderen Lösungen gelange, die sich erst im Fluss des Übersetzens ergeben und sich viel organischer einfügen als die erste Idee.

Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kultureller Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?

Die von Ihnen beschriebene Balance finde ich letztendlich durch das genaue Hören auf den Text. Für mich ist es immer ein langsames Herantasten an die je eigene Sprache des Buches, die je eigene Sprache des Autors. Es dauert manchmal eine Zeit, bis sich das Gefühl einstellt, dass man den Ton des Buches trifft. Das ist dann allerdings ein großartiges und sehr befriedigendes Erlebnis! Weil sich dieses Gefühl nicht immer sofort einstellt, habe ich Bücher auch schon mal in der Mitte angefangen zu übersetzen, um dann, wenn ich dort wieder angelangt war, noch einmal zu überprüfen, ob der Übergang „passte“. An die Rohübersetzung, also den ersten Durchgang, schließt sich ja dann noch ein zweiter Durchgang an, in dem ich mich sozusagen selbst lektoriere. Da fallen einem dann z.B. die Stellen auf, die sich nicht flüssig lesen lassen.

In Norwegen gibt es zahlreiche bisher noch nicht ins Deutsche übersetzte Romane von Edvard Hoem. Können wir uns auf weitere Übersetzungen von Ihnen freuen? Was plant der Verlag Urachhaus?

Zurzeit arbeite ich an der Übersetzung des Romans „Husjomfru“, also „Die Hausmamsell“. Hauptfigur ist Julie Hoem, die jüngste Tochter des Geigenbauers. Mit diesem Buch über eine seiner Ahninnen nimmt uns Edvard Hoem wieder mit in die Vergangenheit Norwegens. Wir tauchen ein in die Lebenswelt einer privilegierten Hausangestellten in Bergen Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts und lernen dabei ihre Sehnsüchte und Ziele, ihre Gedanken und Träume kennen.

Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?

Mir persönlich genügt es vollkommen, im Innenteil des Buches genannt zu werden. Für mich besteht ein großer Unterschied zwischen der Kreativität literarischen Schreibens und der des literarischen Übersetzens. Als Übersetzerin beziehe ich mich auf einen bereits vorliegenden Text, ich reagiere darauf. Anders der Autor, der vor dem leeren weißen Blatt sitzt und quasi aus dem Nichts bzw. aus sich allein schöpft. Letzteres bewundere ich zutiefst und könnte es mir für mich selbst nicht vorstellen. Trotzdem bin ich manchmal belustigt, wenn sich Leser und Leserinnen so gar keine Gedanken darüber machen, wie eine Übersetzung zustande kommt. Bei unbedarften Lesern herrscht ja nicht selten die Meinung, es gäbe nur „die eine“, sogar „richtige“ Übersetzung (und damit ist dann häufig gemeint: die wörtliche).

In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?

Nein, ich nutze KI nicht, und mir fehlt zurzeit auch die Fantasie, wie qualitativ hochwertiges literarisches Übersetzen durch KI geleistet werden könnte. Ich spreche hier natürlich nicht von qualitativ mittelmäßiges Übertragungen – die kann KI selbstverständlich generieren. Aber wenn ich an die Vielzahl von Synonymen denke, die mir zum Teil bei der Übersetzung eines Begriffs zur Verfügung stehen, und sehe, welche Überlegungen ich zugrunde lege, bevor ich mich für genau eines dieser Synonyme entscheide, weil es in meinen Augen der Sprache des Autors oder dem Lesefluss an dieser Stelle des Textes am gerechtesten wird, dann kann ich mir den Einsatz von KI tatsächlich nicht vorstellen.

Es gibt ja schon Anfragen von Verlagen, ob man als Übersetzer bzw. als Übersetzerin einen KI-generierten Text „überarbeiten“ könne – da wird dann natürlich kein Übersetzerhonorar gezahlt, sondern ein Lektoratshonorar. Ein solches Angebot finde ich unverschämt, und ich würde es in jedem Fall ablehnen.

Im August ist das Buch „Kindermärchen aus aller Welt“ erschienen, ein Vorlesebuch für Kinder ab fünf Jahren im Oetinger Verlag, das Sie herausgeben. Können Sie etwas darüber erzählen? Wie kam es zu der Idee und wie haben Sie die Auswahl getroffen?

Ja, das stimmt, allerdings erscheint dieses Buch bereits in zweiter Auflage – die erste ist aus dem Jahr 2019, insofern freut es mich sehr, dass der Verlag dieses Buch jetzt mit neuem Einband wieder herausbringt. Bevor ich mit dem Übersetzen angefangen habe, war ich als Lektorin tätig – zuerst festangestellt in einem Kinderbuchverlag, danach freiberuflich. Während dieser Zeit bekam ich den Auftrag, eine Märchensammlung zusammenzustellen. Das hat mich sehr gefreut, weil ich als Kind so gerne Märchen gelesen habe. Ich habe dann mithilfe vieler (zum Teil auch sehr alter) Bücher und Märchensammlungen Geschichten ausgesucht, die ich für Kinder geeignet fand und die zudem die vielfältigen Erzähltraditionen widerspiegeln, die es in verschiedenen Ländern gibt. Und meine Lieblingsmärchen sind natürlich dabei, zum Beispiel „Das Feuerzeug“ von H. C. Andersen.

Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!

 

Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Antje Subey-Cramer auf diesem Blog:

    Hoem  

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer

  Irrungen, Wirrungen

Die Verschickung von Kindern zum Schutz vor gegnerischen Bombenangriff gab es im Zweiten Weltkrieg nicht nur in Nazideutschland. Während aber deutsche Schulkinder und Mütter mit Kleinkindern ab Oktober 1940 lediglich aus den vom Luftkrieg bedrohten Städten in weniger gefährdeten Gebieten im Deutschen Reich untergebracht wurden, schickten britische Eltern bis zu einem deutschen U-Boot-Angriff auf ein Transportschiff am 18. September 1940 mit 77 toten Kindern ihre sogar nach Amerika.

Zwischen zwei Welten
Dies ist die spannende Ausgangssituation im Debütroman Und dahinter das Meer der 1959 geborenen US-Amerikanerin Laura Spence-Ash. Ab dem Sommer 1940 liegt zwischen der elfjährigen Arbeitertochter Beatrix Thompson aus London und ihren Eltern ein Ozean, weil ihr Vater es zu ihrem Schutz so will. In Boston wartet auf die zunächst wütende und verängstigte Beatrix, die künftig Bea genannt wird, ein überaus freundlicher Empfang: Mutter Nancy Gregory hat sich seit langem eine Tochter gewünscht, Vater Ethan ist ihr nach anfänglichen Zweifeln schnell zugetan und für die Söhne William und Gerald, 13 Jahre bzw. 9 Jahre alt, wird sie zur Schwester, die das Leben der Familie positiv verändert. Beatrix selbst fühlt sich im lichtdurchfluteten großen Haus der Gregorys und vor allem auf der Sommerinsel vor der Küste von Maine wie ihr Idol Prinzessin Margret. Da sowohl ihre Eltern als auch sie selbst in ihren Briefen zum Schutz des jeweils anderen nicht die Wahrheit schreiben, wird die Entfremdung schnell größer:

Dieser Ozean, in dem sie jetzt schwimmt, und der sie voneinander trennt, ist während des vergangenen Jahres breiter geworden. (S. 67)

Abendstimmung in Maine. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © mare

Umso schwerer für alle, als Beatrix pflichtbewusst im August 1945 nach einer Zeit der Ungewissheit überstürzt nach London zurückkehren muss, zumal William und sie inzwischen heimlich mehr als nur Geschwister sind. Schwierig gestaltet sich nach der Rückkehr das Verhältnis zu ihrer Mutter Millie, die nie mit ihrer Trauer über den Verlust der Tochter zurechtkam, immer Neid auf die Gregorys verspürte und nun am liebsten Beatrix‘ Erinnerungen an die fünf Jahre in der Ferne auslöschen würde.

Alles strebt Richtung Happy End
So interessant die Thematik dieses Romans ist, so hätte ich mir, vor allem in der zweiten Hälfte, eine andere Fokussierung gewünscht. Sehr schön erzählt Laura Spence-Ash von Beatrix‘ Ankommen und Auftauen bei den Gregorys und besonders von den Familiensommern auf der Insel. Allerdings verschiebt sich der Schwerpunkt zunehmend auf Nebenhandlungen und die Liebesgeschichte, bei der sich meine sehr frühe Ahnung trotz mancher Irrungen und Wirrungen genau bestätigte. Dafür bleiben in der eigentlich gekonnt mit großen Zeitsprüngen von 1940 bis 1977 konzipierten Handlung wichtige Ereignisse wie Beatrix‘ Rückkehr nach London ausgespart. In sehr kurzen, einen Lesesog erzeugenden Abschnitten wird personal aus der Sicht acht verschiedener Akteure erzählt, mit der Folge, dass ich keinem von ihnen richtig nahekam, nicht einmal Beatrix. Schade außerdem, dass Konflikte, Gefühle und Charakteränderungen mehr beschrieben als durch die Handlung gezeigt werden, was sie für mich leider oftmals nicht nachvollziehbar machte.

Auch wenn der Roman bei mir deshalb nicht wie gewünscht funktioniert hat: Für alle, die einen sommerlichen Liebesroman mit viel Wohlfühlatmosphäre suchen, dürfte Und dahinter das Meer eine passende Empfehlung sein.

Laura Spence-Ash: Und dahinter das Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann. mare 2024
www.mare.de

Daniela Krien: Mein drittes Leben

  Der schmale Grat

 

Zwischen 400 und 500 Radfahrerinnen und Radfahrer verunglücken jedes Jahr tödlich auf deutschen Straßen. An einige von ihnen erinnern inzwischen weiße, oft blumengeschmückte Gedenkräder, sogenannte Ghostbikes, am Straßenrand. Hinter jedem Opfer stehen trauernde Angehörige, manche Hinterbliebenenfamilien zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.

Gefangene der Todessekunde
Auch die Ehe der Mittvierzigerin und Ich-Erzählerin Linda hält der unterschiedlich gelebten Trauer nicht Stand. Waren sie und ihr Mann Richard nach dem Unfalltod ihres einzigen gemeinsamen Kindes, der 17-jährigen Sonja, zunächst gleichermaßen „Gefangene jener Todessekunde“ (S. 97), begann Richard sich allmählich zu befreien:

Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb. (S. 14)

Foto: © A. Schütz. Collage: © B. Busch. Cover: © Diogenes

Linda dagegen konnte und wollte den Schmerz nicht loslassen. Nach überstandenem Schilddrüsenkrebs ließ sie ihren fassungslosen Mann in der Leipziger Wohnung zurück und zog etwa zwei Jahre nach Sonjas Tod allein in einen halbverfallenen, 40 Autominuten entfernten Dreiseithof am Rande eines unansehnlichen Straßendorfs, wo es keine „Erinnerungsfallen“ (S. 24) gibt:

Das Niemandsland zwischen Leben und Tod, das ich bewohne, spiegelt sich in der Landschaft wider und verschmilzt mit ihr. Die Schönheit hat hier kein Recht. (S. 82)

Hier lebt die ehemals erfolgreiche Kunstkuratorin und überzeugte Städterin zu Beginn des Romans Mein drittes Leben seit zwei Jahren alleine mit einer Hündin und Hühnern. Nach Abbruch fast aller Brücken besuchen sie nur noch die neue Bekannte Natascha mit ihrer schwerbehinderten Tochter Nine und 14-tägig Richard, den sie trotz allem noch liebt. Doch nun ist dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerbrochen, seine Geduld aufgebraucht. Mit der Schriftstellerin Brida Lichtblau scheint für ihn ein Neubeginn möglich. Natascha erklärt es Linda so:

Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen. (S. 71)

© B. Busch. Cover: © Diogenes

Jedes Wort am richtigen Platz
Mein drittes Leben ist das fünfte Buch der 1975 geborenen, in Leipzig lebenden Autorin Daniela Krien. Während ich zwei ihrer früheren Romane, Die Liebe im Ernstfall und Der Brand, mit kleinen Abstrichen gerne gelesen habe, hat mir dieser neueste sensationell gut gefallen. Wie sie den Absturz ihrer Protagonistin haarscharf beobachtend begleitet, einfühlsam und doch gänzlich ohne Kitsch Worte für das Unsagbare findet, ist überragend. Ebenso gelungen sind die zaghaften Anzeichen der Wende nach überschrittenem Tiefpunkt, über die Linda selbst am meisten staunt:

Das Überraschende daran ist, dass ich überhaupt eine Zukunft sehe. (S. 279)

Mit glasklaren Formulierungen erfasst Daniela Krien alle Zwischentöne dieser vier Jahre währenden Entwicklung, spiegelt sie am Wechsel der Jahreszeiten und in der Natur und macht aus dem schwierigen Stoff ein überraschend gut lesbares Buch, akribisch recherchiert bis in medizinische Details. Viele der Nebenhandlungen haben Potential für weitere Geschichten, bisweilen lassen sich Parallelen zum Leben der Autorin ausmachen. Kein Wunder, wenn man der Schriftstellerin Brida Lichtblau, die schon in Die Liebe im Ernstfall eine tragende Rolle spielte, glaubt:

Alle Schriftsteller tun das. Wir beuten unser eigenes Leben und auch das Leben der anderen aus. (S. 246)

Mein drittes Leben von Daniela Krien war neben Lichtungen von Iris Wolff und Maifliegenzeit von Matthias Jüngler mein Favorit für den Deutschen Buchpreis 2024 und steht nun erfreulicherweise tatsächlich auf der Longlist. Ich drücke fest die Daumen!

Daniela Krien: Mein drittes Leben. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Daniela Krien auf diesem Blog:

 

Leonardo Padura: Anständige Leute

  In den Straßen von Havanna

Einmal mehr hatte sich bewahrheitet, dass Gerechtigkeit zwar nötig, deshalb aber noch lange nicht gerecht ist. (S. 391)

 

Anständige Leute ist der zehnte (Kriminal-) Roman um den Ex-Polizisten Mario Conde des 1955 geborenen kubanischen Erfolgsautors Leonardo Padura. Nach Band sechs, Die Nebel von gestern, war es für mich die zweite Begegnung mit dieser Serien, deren Bände man problemlos auch unabhängig voneinander mit Genuss lesen und verstehen kann.

Zweigeteilte Handlung
Der inzwischen 62-jährige Mario Conde war nur zehn Jahre Polizist, bevor er vor fast 30 Jahren den Dienst aus moralischen Bedenken quittierte. Trotzdem hat ihn sein kriminalistischer Spürsinn nie verlassen. Als sein ehemaliger Kollege Manuel Palacios ihn 2016 um Hilfe bei Ermittlungen im ebenso spektakulären wie grausamen Mord am ehemals gefürchteten und noch immer verhassten Kunstzensor Reynaldo Quevedo bittet, willigt er ein. Die Polizei ist derweilen mit dem historisch bedeutenden Besuch Barack Obamas und dem ebenso legendären Konzert der Rolling Stones mehr als beschäftigt. Auch Mario Conde hätte eigentlich anderes zu tun. Da sein Handel mit antiquarischen Büchern und Gebrauchtwaren nicht mehr läuft, kam das Angebot seines ehemaligen Buchhandelspartners, in dessen Luxuslokal allabendlich ein Auge auf die Kundschaft zu haben, zur rechten Zeit. Außerdem möchte Conde aus ein paar handgeschriebenen Blättern eines Polizisten namens Arturo Saborit Amargó über Ereignisse in den Jahren 1909 bis 1910 ein Buch machen. Dieser junge Mann geriet in eine gefährliche Nähe zum König der Zuhälter Alberto Yarini y Ponce de León, einer real existierenden Figur, einem Menschenfänger und „reinste[n] Teufel“ (S. 155). Diese Aufzeichnungen bilden den zweiten Handlungsstrang des Romans, dessen erste neun Kapitel jeweils zweigeteilt sind, bevor die beiden Zeitebenen im Schlusskapitel überraschend zusammenfinden.

Gemeinsam sind beiden Zeitebenen Ereignisse, die in Havanna „eine allgemeine Lockerung der Sitten“ (S. 244) bewirken: 1909 die Erwartung des Weltuntergangs durch den Halley’sche Kometen, 2016 die Aussicht auf politischen Veränderung kurz vor dem Tod Fidel Castros durch die prominenten Besucher aus den USA, die der eingefleischte Pessimist Conde jedoch nicht teilt. 1909 wie 2016 ist die Schere zwischen Arm und Reich riesengroß und muss ein grausamer Mordfall aufgeklärt werden, bei dem es im Laufe der Geschichte nicht bleibt. Wie eine Klammer hält zudem ein Thema den Roman in all seinen Haupt- und Nebenhandlungen zusammen: die Frage nach Anstand und Moral in einem durch und durch korrupten Land wie Kuba.

© B. Busch. Cover: © Unionsverlag

Mehr politischer Kuba-Roman als Krimi
Trotz mehrerer Mordfälle ist Anständige Leute kein Krimi im klassischen Sinn, auch wenn Leonardo Padura im Nachwort schreibt, dass er mit diesem Band „dem Genre einmal so richtig auf den Grund gehen“ wollte. Mehr als um die Ermittlungen und die fast nebenbei erfolgenden Auflösungen steht Kuba im Zentrum, tiefgreifende politische und gesellschaftliche Konflikte früher und heute, aber auch überbordende Lebensfreude. Obwohl der Roman bisweilen in seinen Haupt- und Nebenhandlungen etwas zu sehr ausufert, bin ich Mario Conde sehr gerne durch die Straßen Havannas gefolgt, diesem ungewöhnlichen Ermittler und trotz gelegentlich machohafter Züge liebenswerten Philosophen und Zyniker, der so schwer an seiner innigen Zuneigung zu seinem problembehafteten Heimatland leidet, Bücher, Geschichte, Baseball, die Beatles, seine Freunde und seine Partnerin liebt und vor allem stets anständig bleibt.

Eine Empfehlung für alle, die auf unterhaltsame Weise mehr über Kuba früher und heute erfahren möchten.

Leonardo Padura: Anständige Leute. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2024
www.unionsverlag.com

 

Weitere Rezenion zu einem Mario-Conde-Krimi von Leonardo Padura auf diesem Blog:

Bd. 6

Javier Zamora: Solito

  La tercera es la vencida – Aller guten Dinge sind drei

Dieses Buch ist […] für alle, die die Grenze überquert haben, die es versucht haben, die es jetzt im Augenblick tun und weiter versuchen werden. (Schlusssatz S. 472)

Als kleinstes Land Zentralamerikas stellt El Salvador trotzdem die zahlenmäßig zweitgrößte Gruppe nach Mexiko bei der jährlichen illegalen Einwanderung in die USA. Auch die Eltern des 1990 in El Salvador geborenen Autors Javier Zamora flohen vor dem Bürgerkrieg und dessen Folgen: der Vater vor dem zweiten, die Mutter kurz nach dem fünften Geburtstag ihres Sohnes. Javier wuchs arm, aber liebevoll behütet von den Großeltern und einer Tante als Klassenbester einer Nonnenschule auf. Ohne Chance auf eine legale Familienzusammenführung sparten die Eltern für einen Schleuser, der Javier schließlich im Alter von neun Jahren 1999 innerhalb von zwei Wochen zu ihnen nach Kalifornien bringen sollte. Die „Reise“, die am 6. April 1999 begann, dauerte jedoch bis zum 11. Juni 1999 und führte über etwa 3500 Meilen (ca. 5650 Kilometer) durch Guatemala und Mexiko nach „La USA“. Sieben Wochen lang wusste die Familie nichts über Javiers Verbleib, bis der erlösende Anruf kam und die Eltern ihn abholten:

Mein Name dröhnt durch den Raum. Zwei Schatten erscheinen. Endlich. (S. 459)

Danach wurde über die traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Erst eine notwendig gewordene Therapie holte die Erinnerungen zurück, die sich im Debütroman Solito des Lyrikers niederschlagen, einer wahren Geschichte, einem Memoir über die Odyssee eines unbegleiteten Flüchtlings.

© B. Busch. Cover: © Kiepenheuer & Witsch

Abschied und Aufbruch
Am Beginn steht der Abschiedsschmerz, abgemildert durch Vorfreude auf die Eltern und die Verlockungen von „Gringolandia“:

Das Land der Filme, das Land von Popcorn, von Pizza in Schulcafeterien, von Schneeballschlachten, von Swimmingpools, von Toys „R“ Us und McDonald’s. (S. 252)

Familie auf Zeit
Bis Guatemala begleitet ihn der Großvater, dem er in diesen Tagen so nah wie nie zuvor kommt, dann ist Javier allein in seiner kleinen Flüchtlingsgruppe. Schon die Reise zur Grenze zwischen Mexiko und den USA mit Bussen, Lastwagen, Bicitaxis und einem kaum seetauglichen Boot ist lebensgefährlich, immer wieder gibt es Verzögerungen, Planänderungen und Razzien. Wie in einer Perlenkette werden die Flüchtlinge in Gruppen wechselnder Größe von einem „Kojoten“ (Schleuser) zum nächsten und von Versteck zu Versteck weitergereicht. Das alles ist jedoch ein Kinderspiel im Vergleich zum Höllentrip durch die Sonora-Wüste, den Javier dreimal erleidet. Seine Rettung ist die Fürsorge und Menschlichkeit seiner Mitflüchtlinge, dem 19-jährigen Chino und Patricia mit ihrer zwölfjährigen Tochter Carla:

Unsere Schatten sind ganz klein, aber sie berühren einander. Wir sind ein einziger großer Schatten. Unsere eigene Familie. (S. 451)

Perspektive und Stilmittel
Solito ist ein ebenso anrührender wie aufwühlender Roman, der durch die strikte Perspektive des tapferen Neunjährigen komplett auf politische Erklärungen verzichtet und stattdessen von Menschlichkeit unter unmenschlichen Bedingungen erzählt. Was allerdings zur Verarbeitung seiner Erlebnisse für den Autor wichtig, für mich als Leserin jedoch zumindest in der ersten Hälfte ermüdend war, ist die Detailgenauigkeit, die ein Originalzeitgefühl vermittelt. Diese repetitiven Längen sind ebenso Stilmittel wie die permanenten spanischen Einschübe, deren Nachschlagen in einem kapitelweise geordneten Anhang den Lesefluss ohne Mehrgewinn bremst. Schmerzlich vermisst habe ich außerdem eine Landkarte.

Trotz dieser Kritikpunkte empfehle ich den eindrücklichen Roman als horizonterweiternden Beitrag zur anhaltenden Flüchtlingsdebatte weltweit. Sollte es eine Fortsetzung aus Erwachsenenperspektive ähnlich dem kurzen Nachklapp aus dem April 2021 geben, ich wäre garantiert dabei.

Javier Zamora: Solito. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund

  Wer einmal mit dem Morden anfängt…

Drei lange Jahre musste ich auf die Fortsetzung der Clara-Lofthus-Trilogie der preisgekrönten norwegischen Lyrikerin und Kinderbuchautorin Ruth Lillegraven warten, nun endlich liegt der heiß ersehnte zweite Band Dunkler Abgrund vor. Gewechselt hat der Übersetzer: von Hinrich Schmidt-Henkel zu Günther Frauenlob. Obwohl man Band eins, Tiefer Fjord, nicht unbedingt kennen muss, empfehle ich es trotzdem dringend, denn zahlreiche interessante Details aus Claras Vergangenheit erschließen sich nur durch den Vorgängerband.

Viele Erzählstimmen
Der Aufbau der beiden Bände ist nahezu identisch: ein kurzer Prolog, 75 Kapitel aus verschiedenen Ich-Perspektiven und in Teil zwei zusätzlich ein Epilog.

Dunkler Abgrund beginnt dort, wo Tiefer Fjord endete: kurz nach dem Tod von Clara Lofthus‘ Ehemann, dem Kinderarzt Haavard Fougner, den die trainierte Schwimmerin in die gefährliche Strömung eines Bergsees lockte. Wenig später wird sie zur Justizministerin Norwegens berufen, zeitgleich entdecken Taucher in ihrem tiefen Heimatfjord den Unfallwagen, mit dem die damals Zwölfjährige und Magne, der Partner ihrer Mutter, 1988 verunglückten.

Mehr Ministerin als Mutter
Ohne ihren Mann ist Clara, nach eigenem Bekunden „kein Naturtalent als Mutter“ (S. 102), plötzlich allein verantwortlich für die etwa zehnjährigen Zwillinge Andreas und Nikolai. Die beiden Papakinder leiden sehr unter dem Tod ihres Vaters, den die kühle, zudem meist abwesende Mutter nicht ersetzen kann:

Papa war immer fröhlich und leicht wie ein Sommertag. Mama versucht, Sommer zu sein, ist aber eigentlich Winter. (Andreas, S. 272)

Clara sieht, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihre Prioritäten im Ministerium. Traumatisiert vom Tod ihres eigenen kleinen Bruders, dem sie als Kind nicht helfen konnte, hat sie sich dem Kampf gegen Kindesmisshandlung verschrieben:

Ich habe eingewilligt, Staatssekretärin und schließlich Ministerin zu werden, um etwas zu erreichen und dafür zu sorgen, dass das, was mit Lars passiert ist, keinem anderen Kind passiert. (Clara, S. 118)

Für dieses Ziel schreckt die intelligente, kontrolliert-distanzierte Frau mit der komplizierten Persönlichkeitsstruktur, in deren früherem und jetzigem Leben es vor Todesfällen und Tragödien nur so wimmelt, vor nichts zurück.

Foto des norwegischen Parlaments in Oslo: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © List

Alles gerät aus den Fugen
Daran gewöhnt, alles selbst zu regeln, lehnt Clara Personenschutz, häusliche Überwachung und professionelle Kinderbetreuung ab. Doch dann geschehen seltsame Dinge, die Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und schließlich sind sogar ihre Kinder verschwunden. Die Spur führt nach Westnorwegen ins Dorf ihrer Kindheit. Obwohl sie nur schlecht Hilfe annehmen kann, ist sie nun auf die Unterstützung ihres neuen Chauffeurs Stian angewiesen, der sich als heimlich platzierter Leibwächter und ebenso bedingungsloser wie unkonventioneller Unterstützer entpuppt:

Man muss tun, was richtig ist, auch wenn das Richtige nicht unbedingt den Regeln entspricht. (Stian, S. 252)

Wie Tiefer Fjord hat auch Dunkler Abgrund viel Dynamik, vor allem durch die kurzen Kapitel aus wechselnden Perspektiven. Mit seinen unvorhersehbaren Wendungen und der perfekt konstruierten Handlung, realistisch oder nicht, hat mich der zweite Teil fast ebenso gut unterhalten wie der erste. Die Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den die Autorin aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer westnorwegischen Heimat sind für mich die Besonderheiten dieser Mischung aus Psychothriller und Familiendrama, auf deren Abschlussband ich ungeduldig warte.

Ruth Lillegraven: Dunkler Abgrund. Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob. List 2024
www.ullstein.de/verlage/list

 

Weitere Rezension zu einem Thriller von Ruth Lillegraven auf diesem Blog:

Bd. 1

Joseph O’Neill: Godwin

  Intrigen

Zwei ungleiche Romanfiguren teilen sich in Godwin von Joseph O’Neill die Erzählerrolle, keine davon ist das titelgebende afrikanische Fußballtalent, das nicht Subjekt, sondern nur Objekt des Buches ist. Insgesamt dreimal kommt Lakesha Williams zu Wort, die es als schwarze Frau aus prekären Verhältnissen in Milwaukee mittels Studium zur Gründerin und Co-Leiterin einer Genossenschaft für freiberuflich tätige technische Redakteure in Pittsburgh gebracht hat. Ihr Problemfall im Einstiegskapitel ist ein langjähriges Mitglied mit neu aufgetretenen Verhaltensauffälligkeiten, Mark Wolfe, um die 40 und Ich-Erzähler der dazwischenliegenden beiden Abschnitte. Trotz seiner Beteuerungen über seine glückliche Ehe und Vaterschaft zeigt er depressive Züge, die neuerdings gelegentlich in Aggression umschlagen. Eine wissenschaftliche Karriere hat er verpasst und schreibt stattdessen als technischer Redakteur Förderanträge und Texte für medizinisch-pharmazeutische Unternehmen. Insgeheim ist er der Überzeugung, dass er damit sein  Potential nicht ausschöpft und mehr Erfolg verdient hätte.

Brüder in Schwierigkeiten
Während einer unfreiwilligen Auszeit erreicht ihn ein Anruf seines jüngeren Halbbruders Geoffrey aus London, eines windigen Möchtegern-Fußballagenten, der dringend Marks Hilfe einfordert. Ermutigt von seiner Frau Sushila lässt Mark sich zunächst widerwillig auf diese Reise ins Ungewisse ein:

Dann mache ich mich auf meine Reise über den Atlantik. Schließlich und endlich ist mir der Gedanke gekommen, dass der Bruder in Schwierigkeiten vielleicht gar nicht Geoff ist. (S. 48)

In London angekommen, findet Mark sich in einer ihm fremden Welt wieder, in der es um viel Geld, Ruhm, Macht und das Austricksen undurchsichtiger Konkurrenten geht. Dabei hat Geoffrey zunächst nicht mehr als das Video eines afrikanischen Fußball-Wunderkinds, das sich irgendwo auf diesem Kontinent befindet. Die Herausforderung weckt Marks Lebensgeister:

Meine Zeit ist gekommen. Mir ist Gerechtigkeit widerfahren. (S. 157)

Die Zeiten, in denen ich herumgeschubst worden bin, sind vorbei. (S. 164)

Hintergrund: Designed by Freepik. Collage: © B. Busch. Cover: © Rowohlt

Ein Themenpotpourri
Joseph O’Neill, 1964 als Kind einer türkisch-irischen Verbindung in Cork geboren, in den Niederlanden aufgewachsen, lebt heute nach Stationen in Cambridge und London in New York. 2009 erzielte er mit seinem preisgekrönten Roman Niederland seinen bisher größten internationalen Erfolg. Er engagiert sich für die Demokraten und gegen die Wiederwahl von Donald Trump als Präsident, dessen erste Wahl in Godwin kurz bevorstand. Der Roman kombiniert auf intellligente Weise die Jagd nach einem westafrikanischen Fußballgenie mit den Spannungen in einer US-amerikanischen Bürogenossenschaft und greift dazu das Thema Familie in all ihren Facetten auf: biologische Familie, Adoption, glückliche, toxische, zerbrochene und wiedergefundene Familienbande. Daneben gibt es jede Menge Anekdoten zu berühmten Fußballern, Trainern und Spielen, detailliert porträtierte Nebenfiguren, Überlegungen zu Gesellschaft und Politik, Globalisierung, modernem Kolonialismus und vielem mehr, leider teilweise in Monologform. Beim gut 100 Seiten währenden Erzählmarathon eines alten französischen Fußballagenten mit oft ebenso antiquierten Ansichten über Afrika, Frauen, Rassen und postkoloniales Erbe dämmerte nicht nur Sushila gähnend weg, sondern vorübergehend fast auch ich.

Überraschende Wendungen
Davon abgesehen hat mich der Roman in großen Teilen gut unterhalten und viele Denkanstöße geliefert. Als Nicht-Mehr-Fußballfan fand ich die Intrigen um Macht, Ruhm und Geld in der kleinen Welt der Bürogenossenschaft sogar noch spannender als die im großen, absurd anmutenden Fußballgeschäft. Mit seinen zwar völlig unerwarteten, jedoch keineswegs unmöglichen Wendungen im letzten Abschnitt wird mir der Roman nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Joseph O’Neill: Godwin. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt 2024
www.rowohlt.de

Verena Keßler: Eva

  Kipppunkte

 

Es gibt Fragen, die frau nur mit einem klaren Ja oder Nein beantworten muss, darunter die nach eigenen Kindern. Vier Frauen mit gänzlich unterschiedlichen Positionen stellt die 1988 in Hamburg geborene Autorin Verena Keßler in ihrem Roman Eva vor: von radikaler Ablehnung über Zweifel bis zu hadernder Mutterschaft und Verlusterfahrung.

Eva will ihre Ahnenreihe schließen
Eva Lohaus
, Lehrerin, ist die einzige Figur mit einem Nachnamen. Nur ihr Schicksal wird nicht aus der Ich-Perspektive erzählt. Sie wollte nie Kinder, einerseits, um mit jedem nicht-geborenen Kind 58,6 Tonnen CO2 einzusparen, andererseits, um sie nicht dem Leid durch Klimawandel und Ressourcenkriege auszusetzen. Da sie ihre provokativen Thesen offensiv kundtut, erntet sie Häme, Hass und schließlich die Suspendierung vom Schuldienst. Das Interview, das für sie das Fass zum Überlaufen bringt, erscheint mit einem Hinweis auf ihre nicht klimaneutrale Golden-Retriever-Hündin.

Unerfüllter Kinderwunsch
Sina
, die als Journalistin das Interview verantwortet, befindet sich in einer Kinderwunschbehandlung und wird von Zweifeln geplagt. Ist es tatsächlich ihr Kinderwunsch oder nicht vielmehr der ihres Partners Milo, der sich ein kinderloses Leben schlicht nicht vorstellen kann? Die Begegnung mit Eva stürzt Sina in ein noch tieferes Dilemma:

Wer quält sich seit zwei Jahren, um noch ein unschuldiges Leben auf diese kaputte Welt zu zerren? Milo und ich. (S. 39)

Foto: © B. Busch. Cover: © Hanser Berlin

Überforderung
Für Mona, Sinas ein Jahr ältere Schwester, hat das Schicksal die Entscheidung gefällt. Sie war, kurz nachdem sie Roman kennengelernt hatte, schwanger mit Benni. Die Zwillingstöchter wenige Jahre später wurden eher aus einem Wunsch nach Abhilfe gegen die soziale Auffälligkeit des Sohnes als aus echter Begeisterung geboren. Mona fühlt sich permanent überfordert, hadert mit ihrem Leben und leidet noch stärker als die drei anderen Frauen unter Schlafstörungen.

Trauer
Die namenlose vierte Frau war Schulsekretärin an Evas ehemaliger Schule und verlor kurz vor deren Suspendierung ihr Kind. Sechs Jahre später lebt sie im gleichen Haus wie Mona und hat den siebten Job. Sie hat damals besonders unter Evas Thesen gelitten, die ihr eine Mitschuld gaben:

Ich hatte dich zur Welt gebracht. Alles, was dir geschah, war letztendlich meine Schuld. (S. 172)

Eva Lohaus, für die es ein reales Vorbild gibt, hält als Klammer die zeitlich auseinanderliegenden Episoden zusammen. Mit ihrem erzählenden Sachbuch Kipppunkte untermauert sie ihre Ansichten.

Keine Antwort
Eva
ist der zweite Roman von Verena Keßler nach ihrem glänzenden Debüt Die Gespenster von Demmin 2020 und steht auf der Shortlist des Literaturpreises „Der zweite Roman“, der erstmals im November 2024 von der Christian & Ursula Voß Stiftung und dem Literaturhaus Hamburg verliehen wird. Eine Antwort auf die Ausgangsfrage gibt das genau durchdachte Buch nicht, lässt vielmehr jeden Lebensentwurf gleichermaßen gelten. Auch wenn für mich Eva und Sina die eindrücklicheren Figuren waren und der Roman in der zweiten Hälfte mit den Zeitsprüngen etwas an Schwung verlor, haben mir doch die Vielstimmigkeit, die souveräne Konstruktion, die klare, präzise Sprache und die besonders die lebendigen Dialoge gut gefallen.

À propos Vielstimmigkeit: Selbst wenn ein Roman keineswegs alle Aspekte einer Thematik abdecken muss, hätte ich mir doch auch ein Beispiel für gelingende Mutterschaft gewünscht. Es hätte die Aussage des Buches nicht abgeschwächt, sondern lediglich um eine Facette ergänzt.

Verena Keßler: Eva. Hanser Berlin 2023
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Verena Keßler auf diesem Blog:

Alex Schulman: Att vara med henne är som att springa uppför en sommaräng utan att bli det minsta trött

  Protokoll einer Richtungsänderung

Vor der Veröffentlichung seines Debütromans Skynda att älska war Alex Schulman Schwedens bekanntester und berüchtigtster Blogger, Journalist und Fernsehmoderator, gefürchtet für seine provokante Medienkritik und seine oft bösartige Tonlage. Umso erstaunter und positiv überrascht waren seine Landsleute über die liebevolle, ungeschminkt ehrliche und gut geschriebene Hommage an seinen Vater, den berühmten TV-Produzenten Allan Schulman, und über seine eigene Unfähigkeit im Umgang mit dessen Tod.

Reise ins Ungewisse
Att vara med henne är som att springa uppför en sommaräng utan att bli det minsta trött
– der sperrige Titel ist einem Gedicht des schwedischen Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer (1931 – 2015) entliehen und bedeutet auf Deutsch so viel wie „Mit ihr zusammen zu sein, ist wie auf einer Sommerwiese zu laufen, ohne auch nur im mindesten müde zu werden“ – ist sein zweites Buch, ebenfalls autobiografisch und bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Es beginnt am 4. Juli 2008, an einem Tiefpunkt seines Lebens. Soeben hat er sich von der Frau getrennt, mit der er sechs Jahre lang zusammen war. Wurzel- und ziellos zieht er durch Stockholmer Bars, trinkt zu viel, ohne die Romantik des einsamen Trinkers zu erleben, versucht sich an einem neuen Roman und zögert die Rückkehr in seine neue Bleibe zur Untermiete längst möglich hinaus:

Jag står där i baren och försoker att tänka på vad som helst – utom på de omständigheter som just rasat ner över mig. […] Det här är början på en ny tillvaro, en ny sorts resa. Jag ser inte alls fram emot den. (S. 7)

[Ich stehe da in der Bar und versuche, an nichts zu denken – außer an die Umstände, die gerade über mich hereingebrochen sind. […] Dies ist der Beginn eines neuen Lebens, einer neuen Art von Reise. Ich freue mich überhaupt nicht darauf.]

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Cover: © Pocketförlaget

Exakt ein Jahr später, am 4. Juli 2009, wird in Visby auf Gotland seine Tochter Charlie geboren. Dazwischen liegt, in Tagebuchform erzählt, die neue Liebesgeschichte mit seiner heutigen Frau Amanda Widell.

Ein Buch mit Happy End
Ich habe auch dieses Buch über ein aufregendes Jahr wie alles von Alex Schulman gern gelesen, obwohl es hinsichtlich seines fehlenden Selbstwertgefühls etwas kokett geraten ist, dafür aber nie peinlich. Spannender als die Liebesgeschichte fand ich Ereignisse, die Alex Schulman in späteren Romanen aufgegriffen hat, wie beispielsweise die Szene mit der Schwarzfahrerin, die in Endstation Malma eine bedeutende Rolle spielt. Am interessantesten waren für mich jedoch die Begleitumstände des Erscheinens von Skynda att älska im März 2008: die verblüffte Literaturkritik, die mit Stolz herbeigesehnte Signierstunde, die zum Megaflop wurde, oder die Interviews zum Buch:

En person som jag, som inte ens kunnat prata om sorgen efter sind döde far med sin mamma eller sin bror, tvingas plötsligt att tala om den i riksmedier. (S. 139)

[Jemand wie ich, der nicht einmal mit seiner Mutter oder seinem Bruder über die Trauer um seinen toten Vater sprechen konnte, ist plötzlich gezwungen, in den nationalen Medien darüber zu sprechen.]

Collage: © B. Busch. Cover: © Månpocket/Pocketförlaget/Bookmark/dtv

Selbst wenn es die Tiefe und Präzision des Buchs über seinen Vater und noch mehr von Glöm mig über seine Mutter oder Verbrenn all meine Briefe über seine Großeltern verfehlt, ist Att vara med… doch wie alle Schulman-Bücher sehr gut geschrieben, unterhaltsam, dazu untypischerweise bisweilen witzig und sogar mit einem Happy End.

Alex Schulman: Att vara med henne är som att spinga uppför ein sommaräng utan att bli det minsta trött. Pocketförlaget 2011
pocketforlaget.se

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Alex Schulman auf diesem Blog:

      Schulman  

Carl Nixon: Kerbholz

  Die Überlebenden

Am 4. April 1978 stürzt an der dünn besiedelten Westküste von Neuseelands Südinsel das Auto der sechsköpfigen britischen Familie Chamberlain auf regennasser Straße aus fast 20 Meter Höhe in einen Fluss. Nur die drei schlafenden Kinder auf dem Rücksitz überleben das Unglück: der 14-jährige Maurice mit einem kaputten Bein, die 12-jährige Katherine und der 7-jährige Tommy mit einer schweren Kopfverletzung. Es gelingt ihnen nicht, Hilfe zu holen, doch kommt nach drei Tagen ein wild aussehender Fremder mit einem Gewehr vorbei, der die Brieftasche und die Uhr des Vaters an sich nimmt und die Kinder zu einer einsam in einem Tal gelegenen Farm bringt. Martha, weiblicher Teil des Hippie-Pärchens und gesundheitlich angeschlagen, braucht Unterstützung bei der Farmarbeit, er selbst, Peters, der in einem alten Bus in der Nähe lebt, Hilfe auf seiner Marihuana-Plantage und mit seinen Bienen.

Collage: © B. Busch. Cover: © CulturBooks

Vergebliche Suche
Weil zunächst niemand die Familie vermisst, beginnt die polizeiliche Suche in dem zerklüfteten Gelände erst nach drei Wochen. Kurz darauf trifft Suzanne aus Großbritannien ein, die Schwester der toten Mutter. Insgesamt vier Suchaktionen startet sie in den Jahren bis 1983 und nimmt dafür sogar das Scheitern ihrer Ehe in Kauf. Ihre Bemühungen bleiben am Ende erfolglos, weil sie unmittelbar vor der Auflösung Opfer ihrer fehlenden Vorstellungskraft wird.

32 Jahre später erhält Suzanne 2010 plötzlich einen Anruf: Die sterblichen Überreste von Maurice wurden gefunden, zusammen mit einem geheimnisvollen Holzstück voller Einkerbungen, der Rolex seines Vaters, einem ledernen Hundehalsband und einem Geldbündel. Sensationell ist der Zeitpunkt seines Todes: Maurice muss, als er von einer Klippe ins Meer stürzte, 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein, hat also nach dem Unfall noch drei oder vier Jahre gelebt. Wo und wie hat er diese Zeit verbracht? Was geschah in jenem April vor 32 Jahren und wo sind die übrigen vermissten Familienmitglieder? Könnte noch jemand am Leben sein?

Anpassen oder rebellieren?
In 36, nicht chronologisch geordneten und jeweils mit einer Zeitangabe überschriebenen Kapiteln schildert der 1967 geborene neuseeländische Autor Carl Nixon, was zwischen dem April 1978 und der Beisetzung der sterblichen Überresten von Maurice in Großbritannien im Februar 2011 geschah: bei Maurice, Katherine, Tommy und Suzanne. Plötzlich auf sich alleingestellt und in einer Welt, die in nichts ihrer gewohnten Umgebung in einer gutsituierten britischen Mittelschichtsfamilie glich, nahmen die Kinder den Überlebenskampf in völlig unterschiedlicher Weise auf: von Anpassung bis Rebellion, von intensiver Bewahrung der Erinnerungen bis Vergessen.

Eine literarische Entdeckung
Obwohl Kerbholz bei seinem Erscheinen in der deutschen Übersetzung von Jan Karsten im Jahr 2023 auf der DLF-Krimibestenliste stand, gleicht es doch in keiner Weise einem gewöhnlichen Krimi, sondern ist vielmehr ein psychologisch höchst interessanter und überraschender, äußerst raffiniert komponierter Spannungsroman mit einem ungeheuren Sog. Atemberaubend sind die sehr lebendigen Naturschilderungen der rauen neuseeländischen Westküste, die mir immer wieder Atempausen beim schwer zu ertragenden Auf und Ab der Handlung gewährten. Sämtliche Figuren agieren nachvollziehbar, und obwohl die Sympathien klar bei den Kindern liegen, unterschlägt Carl Nixon auch positive Charakterzüge von Martha und Peters nicht.

Kerbholz ist ein genial erzähltes existentielles Drama, das durch seine Intensität ans Herz geht und dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche.

Carl Nixon: Kerbholz. Aus dem Englischen von Jan Karsten. CulturBooks 2023
www.culturbooks.de