Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres

  Zwei Fremde in der Gaspésie

Die Gaspésie ist ein Arme-Leute-Land, sein einziger Reichtum ist das Meer, und das stirbt gerade. (S. 303)

Jahrhundertelang war die ostkanadische Halbinsel Gaspésie zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie-des-Chaleurs für viele Einwanderer und Seefahrer erster Eindruck vom amerikanischen Kontinent. Prägend ist bis heute der Fischfang, obwohl dieser traditionell bedeutendste Wirtschaftszweig durch Überfischung zugunsten des Tourismus an Bedeutung verliert.

Der Erinnerung an schöne Ferientage 2014 in der Gaspésie, an Leuchttürme, verschlafene Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé (leider im Regen) und die wohltuende Stille nach dem lebhaften Montréal ließ mich 2022 zu einem Gaspésie-Krimi greifen: Die Korallenbraut von Roxanne Bouchard, zweiter Band der Joaquín-Morales-Reihe, mit dem von Montréal in die Gaspésie umgezogenen, aus Mexiko stammenden Ermittler. Nun habe ich den ersten Band Der dunkle Sog des Meeres nachgeholt, ebenfalls mit viel Gaspésie-Atmosphäre, allerdings nicht ganz so gut wie Band zwei. Bei beiden tritt die Krimihandlung zugunsten der Beschreibung von Meer, Land und Leuten, aber auch der Midlife-Krise des Ermittlers zurück. Krimifans könnten deswegen enttäuscht, Gaspésie-Interessierte dafür umso entzückter sein.

Eine Tote im Meer
Die 1972 geborenen, mehrfach ausgezeichnete franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard verwebt in Der dunkle Sog des Meeres mehrere Handlungsebenen und Perspektiven.

Zeitweise Ich-Erzählerin ist Catherine Day, Mitte 30, aus Montréal und nach dem Tod ihrer Pflegeeltern depressiv. Die Suche nach ihrer leiblichen Mutter führt sie nach Caplan an der Baie-des-Chaleurs, doch niemand dort will mit ihr über Marie Garant reden. Bevor es zu einem Treffen kommt, wird die Leiche dieser Frau, die die Dorfgemeinschaft polarisierte und die oft jahrelang mit ihrem Segelboot unterwegs war, aus dem Meer gefischt.

Glück für den Polizeiposten Bonaventure, dass zeitgleich der neue Ermittler Joaquín Morales aus Montréal eintrifft, der eigentlich zunächst das neue Haus für sich und seine Frau Sarah einrichten will. Kurzerhand überträgt man ihm den Fall, obwohl – oder eher gerade weil – er hier niemanden kennt.

© Einzelfotos: M. Busch, Collage: B. Busch

Düsteres Schweigen
Beide, Catherine und Morales, unvertraut mit der Mentalität und den Gepflogenheiten der Gaspésie, beginnen ihre Recherchen, Catherine nach dem Leben ihrer Mutter und ihrem unbekannten Vater, Morales nach der Todesursache Marie Garants: Unfall? Mord? Oder Selbstmord? Wenig tragen die Dörfler zur Aufklärung bei, freiwillig reden sie nur über das Meer. Außerdem ist der Ermittler viel zu sehr durch Eheprobleme und seine Midlife-Krise abgelenkt. Keine Chance, hier mit Montréaler Methoden zum Erfolg zu kommen, wie ihm der todkranke alte Fischer Cyrille Bernard vorwirft:

Weil Sie nicht wissen wollen, wer sie war, wie sie gelebt hat, was sie liebte. Sie wollen gar nichts wissen! Sie hängen viel zu sehr an ihrer Leiche, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern, dass das mal eine lebendige Frau war! (S. 274)

Insgesamt hätte ich mir für diesen ersten Band weniger männliche Lebenskrise und dafür mehr Spannung gewünscht. Menschliche Verwicklungen, die Atmosphäre im abgeschiedenen Fischerdorf, die Probleme der Gaspésie und Möglichkeiten der Neuorientierung beschreibt Roxanne Bouchard allerdings sehr gut, und wenn im Bistro mal wieder ein Gemüse brutal erdolcht wird, kann man, bei aller Düsternis, sogar schmunzeln.

Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres. Aus dem Französischen von Frank Weigand. Atrium 2021
www.w1-media.de

 

Weitere Rezension zur Joaquín-Morales-Reihe von Roxanne Bouchard auf diesem Blog:

Bd. 2

Jørgen Norheim: Der Adjutant

  Schuld und Verantwortung

Bücher über seelisch verwundete Aussteiger, die sich in die Einsamkeit skandinavischer Inseln oder Wäldern zurückziehen, üben schon lange eine große Faszination auf mich aus, Pferde stehlen von Per Petterson und Die italienischen Schuhe von Henning Mankell gehören dazu. Aus diesem Grund, und weil ich wissen wollte, warum ein norwegischer Autor so tief in die deutsche Geschichte eintaucht, stand Der Adjutant von Jørgen Norheim schon lange auf meiner Wunschliste, als ich ihn zufällig im Offenen Bücherschrank in Mainz-Bretzenheim entdeckte, ein vermutlich ungelesenes Exemplar, ausgeschieden aus der Katholischen öffentlichen Bücherei am Dom in Mainz. Schade, dass der Roman, der in Norwegen 2008, auf Deutsch in der Übersetzung von Frank Zuber 2010 erschien, hierzulande wenig Aufmerksamkeit fand und nur noch antiquarisch zu erwerben ist, während er in Norwegen 2008 für den bedeutenden Bragepreis nominiert war.

„Manche Dinge sehe ich klarer, seit ich hier oben wohne.“ (S. 21)
Der namenlose Ich-Erzähler, der sich 1941 an den Sognefjord auf den alten westnorwegischen Berghof Hylla zurückgezogen hat, den man nur über einen zehn Kilometer langen Saumpfad mit 800 Meter Höhenunterschied erreicht, wurde 1871 in Königsberg als Sohn einer gutbürgerlichen Pfarrersfamilie geboren. Sein Interesse für Philologie stellte er zugunsten der elterlichen Erwartungen zurück und wurde kaiserlich-preußischer Offizier, nachdem er schon als junger Mann Kaiser Wilhelm II auf dessen Norwegenfahrten mit dem Vergnügungs- und Expeditionsschiff Hohenzollern begleitet und die Reisen dokumentiert hatte. In verantwortlicher Stellung bei der Vorbereitung und während des Ersten Weltkriegs, folgte er aus Loyalität Wilhelm II nach der Abdankung 1918 bis zu dessen Tod 1941 ins niederländische Exil.

© Hintergrund: M. Busch, Collage: B. Busch

„Man sieht erst hinterher, was man getan hat.“ (S. 125)
So abgeschieden er lebt, insbesondere im Winter, seine Gespenster verfolgen ihn doch. Wenn er auf seinem batteriebetriebenen Plattenspieler Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ hört, fragt er sich, ob „seine“ Leute an den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs beteiligt waren. Albträume plagen ihn nach dem Besuch seines Bruders Karl 1961, der vor dem Kriegsdienst in die USA flüchtete und als Fabrikant reich wurde. Karls Schuldzuweisungen, auch für das Schicksal der Familie, erschüttern ihn:

Ohne deinen Krieg hätte es auch keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. (S. 183)

Mach dich nicht kleiner, als du bist, du musst Verantwortung übernehmen. (S. 184)

Auch sein junger Vermieter, Obstgärtner, Sozialist und Kriegsdienstverweigerer, der ihn ab etwa 1957 regelmäßig besucht, „gräbt und gräbt“ (S. 157) und selbst dessen Tochter, die kleine Helga, stellt Fragen. Immer häufiger blättert der ehemalige Adjutant in alten Tagebüchern, versinkt in Erinnerungen, leidet unter Albträumen, wägt seine Schuld ab und sucht Erklärungen:

Ich verteidige nicht alles, was ich getan habe, aber ich möchte so gerne, dass er mich versteht! Dass er begreift, warum wir damals so dachten und handelten und wie wenig Spielraum wir hatten […] (S. 154)

„Ist es die Strafe des Herrn, dass ich Jahr für Jahr weiterleben […] muss […]?“ (S. 286)
Der Adjutant
ist ein stiller, ruhig erzählter Roman über persönliche Schuld und Verantwortung, der man nicht entkommt, aber auch über Freundschaft und Zuneigung, die dem Ich-Erzähler im hohen Alter zuteil wird – allerdings mit einem Zufall zuviel für mich. Die Beschreibungen des einsamen Lebens in den mächtigen Fjorden, verwoben mit den Kriegserinnerungen eines einflussreichen Offiziers, machen den Roman des norwegischen Historikers Jørgen Norheim so interessant und absolut lesenswert.

Jørgen Norheim: Der Adjutant. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber. Osburg 2010
www.osburg-verlag.de

Margaret Kennedy: Das Fest

  Wer überlebt? Und wer nicht?

 

Wer auf der Suche nach einer äußerst unterhaltsamen und trotz eines tragischen Ereignisses vergnüglichen, jedoch keinesfalls flachen Lektüre ist, dem möchte ich wärmstens einen modernen Klassiker der englischen Autorin Margaret Kennedy (1896 – 1967) empfehlen. Der Schöffling Verlag hat ihren neunten Roman Das Fest aus dem Jahr 1950 mit einem wunderschön passenden Cover veröffentlicht, für mich eine großartige Entdeckung.

Das Unglück
Bereits im Epilog erfahren wir von einer Tragödie, die sich im Sommer 1947 in einem Küstenstädtchen in Cornwall ereignet hat. Herabstürzende Klippen haben ein Hotel unter sich begraben samt allen, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks darin aufhielten, obwohl es rechtzeitig eine Warnung gegeben hatte. Glück im Unglück war das zeitgleich stattfindende titelgebende Fest außerhalb des Unglücksbereichs, ein Picknick, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmerin körperlich unversehrt blieben. Nur von einem Opfer erfahren wir bereits an dieser Stelle, aber wer sind die anderen? Wieviele der 23 Personen, Hotelgäste, Besitzerfamilie und Angestellte, sind umgekommen?

© Hintergrundbild: M. Busch, Collage: B. Busch

Literarisches Rätselraten
Es braucht Geduld, um dies zu erfahren, denn Margaret Kennedy spannt ihr Publikum bei vielen von ihnen bis zu den letzten Seiten auf die Folter, lässt sie ihre Pläne ändern und bringt Zufälle ins Spiel. Diese krimihafte Spannung einerseits und die eigene, moralisch nicht ganz einwandfreie Positionierung – wer soll überleben, wen soll das grausame Schicksal ereilen? – machen einen großen Teil des Lesevergnügens aus. Ein anderer Teil besteht in der Beschreibung der denkwürdigen und eigenwilligen Charaktere und der lebensverändernden Entwicklungen, die einige von ihnen in der dem Unglück vorausgehenden Woche durchmachen. Diese sieben Tage von Samstag bis zum Fest- und Katastrophen-Freitag bilden in sieben mit den Wochentagen überschriebenen Kapiteln den Hauptteil des Romans. Andere Figuren wiederum, insbesondere Mütter und Väter, sind charakterlich untragbar und völlig erstarrt, sieben lassen sich gar mühelos als Verkörperung der sieben Todsünden Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit identifizieren. Aber da das Leben bekanntermaßen nicht fair ist, gibt es keine Überlebensgarantie für die Fleißigen, Hilfsbereiten, Selbstlosen, Freundlichen, Friedfertigen und Großzügigen, die man so gerne gerettet sähe – oder doch?

Ein bunter Haufen
Die Gäste, die sich im malerisch gelegenen, etwas heruntergekommenen Hotel Pendizack, dem aus Geldnot umfunktionierten Familiensitz der ebenfalls anwesenden Siddals, ein Bad teilen und manchmal mehr schlecht als recht miteinander auskommen, sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen, ebenso wie die drei Angestellten. Sieben Kinder aus zwei Familien sind unter ihnen. Das Verhalten ihnen gegenüber wird am Ende ausschlaggebend für Tod oder Überleben sein.

So geht gehaltvolle Unterhaltungsliteratur
Dass man jederzeit den Überblick über die illustre Schar behält, ist ein großes Verdienst der Autorin, ebenso wie ihre sprachliche Gewandtheit, ihre leichte Hand und feine Ironie. Bedauert habe ich nur die unnötig gehäuften Druckfehler, über die ich jedoch dank des präzise durchdachten Handlungsaufbaus, der abwechslungsreichen Erzählweise mit eingebauten Briefen, Tagebucheinträgen, einer Predigt, inneren Monologen, vielen Dialogen und Streitgesprächen zur politischen und wirtschaftlichen Situation im Nachkriegsengland mit den daraus resultierenden Nöten und gesellschaftlichen Umbrüchen hinwegsehen konnte. Kein Wunder also, dass ich diese Mischung aus Moralgeschichte, Gesellschaftskomödie, Nachkriegstragödie und Familienroman von Beginn an kaum noch aus der Hand legen konnte.

Bitte weitere Übersetzungen von Margaret Kennedy!

Margaret Kennedy: Das Fest. Aus dem Englischen von Mirjam Madlung. Schöffling 2023
www.schoeffling.de

Lidia Ravera: Sprich mit mir

  Korrekturen

Ich bin eine alte Frau und an Einsamkeit gewöhnt.
Ich trinke viel.
Gelegentlich nehme ich Psychopharmaka.
Ich habe neun Jahre im Gefängnis gesessen. (S. 86)

Abgeschottet lebt die 66-jährige Ich-Erzählerin Giovanna Reggiani als Einsiedlerin in ihrer Eigentumswohnung mit Tiber-Blick in einem besseren Viertel Roms, die sie im Jahr 2000 mit dem Erbe ihrer Eltern als Rückzugsort gekauft hat. Allmorgendliche Spaziergänge, Stippvisiten im Supermarkt, eine nach seelischen Zuständen geordnete Plattensammlung und ihre Bücher bilden die einzige Abwechslung. Der letzte Haarschnitt liegt 26 Jahre zurück, ihren Körper nimmt Giovanna kaum noch wahr.

Wahrscheinlich wäre ihr Leben bis zum Ende so weitergegangen, hätte nicht im Sommer 2018 eine vierköpfige Familie die leerstehende Nachbarwohnung bezogen. Der 37-jährige Michele, ein mäßig erfolgreicher Musiker, seine hübsche Frau Maria, die gemeinsame dreijährige Tochter Malvina und Malcolm, Micheles 13-jähriger Sohn aus erster Ehe und Klimaaktivist, fachen nach langer Isolation Giovannas Neugier an:

Die Wahrheit ist, dass ich angefangen hatte, den Geräuschen hinter der Wand zuzuhören. Mit einer Neugier, die von Stunde zu Stunde gieriger wurde. (S. 30)

© B. Busch

Aus dem Schatten ans Licht
Zuerst lauscht sie nur an der Rigipswand und späht durch den Türspion, dann sorgt ein Missgeschick Malcolms für direkten Kontakt und schließlich wird Giovanna, die sie „Weißmähne“ nennen, zur ehrenamtlichen Kinderfrau. Obwohl ihre innere Stimme sie warnt, wird aus der anfänglichen Rolle als stumm-bewunderndes Theaterpublikum die eines unverzichtbaren Rädchens im Familiengetriebe. Doch gerade die zunehmende Vertrautheit und Liebe zu den Kindern lassen ihre unverarbeiteten Erinnerungen und Entbehrungen schmerzhaft neu erstehen:

Monatelang war die Nachbarschaft mit dieser jüngeren, ganz aus Kindern bestehenden Familie für mich das Vorbild eines Glücks, das ich nicht aufbauen konnte, als ich im richtigen Alter war. (S. 119)

Und noch eine Gefahr zieht herauf: Je weiter Giovanna ihre Fühler aus ihrem Schneckenhaus streckt, desto nackter und verletzlicher wird sie. Lässt sich die schambehaftete Vergangenheit dauerhaft schützen, während immer größere Nähe entsteht, nicht nur zur Familie nebenan, sondern auch zu Marias charmantem Vater Pietro, der unverholenes Interesse an ihr zeigt?

Im Sommer 2019, ein Jahr nach dem Einzug der Familie, beginnt Giovanni, die nach eigenem Bekunden nicht gerne schreibt, ein „rückläufiges Tagebuch“ (S. 10), einen Bericht über das Wendejahr und die sich anbahnende Katastrophe. Eingewoben sind Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit, der politischen wie der privaten, die sich allmählich zu einem Gesamtbild verdichten. Wie Giovanna das Leben der Nachbarsfamilie ausspioniert, habe ich Puzzlesteine über ihr Leben gesammelt und zusammengesetzt, immer neugieriger auf ihr Geheimnis.

Steigende Spannung
Es hat ein wenig gedauert, bis mich der Roman Sprich mit mir in Bann gezogen hat, aber schließlich haben das zunehmende Tempo und die ansteigende Dramatik ab dem zweiten Drittel dafür gesorgt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die 1951 in Turin geborene Autorin, Journalistin und Feministin Lidia Ravera hat den Roman äußerst raffiniert aufgebaut und lässt ihre geheimisvolle Protagonistin so viele kluge Gedanken und stimmige Bilder notieren, dass ich gedanklich stets mit dem Textmarker gelesen habe. Die Frage, ob sich ein durch Fehlentscheidungen verpfuschtes Leben spät korrigiert lässt sowie die Verbindung aus Einzelschicksal und neuerer italienischer Geschichte machen Lidia Raveras italienischen Bestseller auch für das deutsche Publikum zu einer sehr empfehlenswerten Entdeckung.

Lidia Ravera: Sprich mit mir. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?

  Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Im angesagten Villenviertel Kaltsee, keine 15 Autominuten vom Zentrum der Hauptstadt (Helsinki?), wird im Februar 2008 die 18-jährige Sascha Anchar aus einer privaten sozialpädagogischen Jugendeinrichtung Opfer einer Gruppenvergewaltigung mit anschließender Freiheitsberaubung. Täter sind vier Gleichaltrige aus dem privilegierten Viertel, verniedlichend auch „die Boys“ genannt. Motiv für die vom Haupttäter Nathan Häggert geplante Tat ist Rache wegen Zurückweisung:

Toy girl. Eine Puppe, die kaputtgegangen war. Alle Löcher und Öffnungen des Körpers mehr oder minder zerfetzt. (S. 194)

Im Mittelpunkt des Romans Wer hat Bambi getötet? der 1961 geborenen Finnlandschwedin Monika Fagerholm, für den sie den Großen Preis des Nordischen Rats 2020 erhielt, steht jedoch mit Gusten Grippen ein Täter, während Sascha größtenteils eine Leerstelle bleibt. Er hat das Opfer damals befreit, das Verbrechen gegen ihren Willen angezeigt und sich davon Erlösung von seinen Schuldgefühlen erhofft. Viel lieber hätte man im Villenviertel den Mantel des Schweigens über das Verbrechen gelegt und Saschas Mutter, eine in Kalifornien lebende Jetsetkönigin und Charity-Lady, großzügig finanziell abgefunden:

Wir hätten das doch klären können, between us, und wie man hört, war das schon auf einem guten Weg. (S. 182)

Als es doch zur Gerichtsverhandlung kommt, mit Staranwalt, Promitherapeut und skandalös mildem Urteil, reagiert Nathans Mutter Annelise Häggert, eine Top-Karrierefrau und operative Leiterin eines neoliberalen Think Tanks, mit den Worten des schwedischen Königs Carl Gustav nach seinem Sexskandal:

Jetzt blättern wir die Seite um, und eines schönen Tages werden wir so viele Seiten umgeblättert haben, dass nichts von alldem passiert ist. (S. 137)

2014, gute sechs Jahre nach der Tat, plant der ehemals gemobbte Mitschüler und jetzige Filmproduzent Cosmo Brant eine Verfilmung der Tat unter dem Titel Wer hat Bambi getötet?.

© B. Busch

 

Nur Verlierer
Nach dem milden Urteil hätte alles wieder so werden sollen, wie es war. Stattdessen sind Familien auseinandergefallen, wurden Karrieren nicht gestartet oder brutal abgebrochen, sind Menschen gestorben und die stolze Villa der Häggerts heruntergekommen. Auch der „Judas“ Gusten hat nie wieder Fuß gefasst, war in der Psychiatrie, leidet unter Schuldgefühlen und dem Verlust seiner große Liebe Emmy, die ihn verlassen hat. Mit deren Freundin Saga-Lill versucht er sich zu trösten.

Nicht mein Erzählstil
Zwar haben mir die schnellen Schnitte, Zeitsprünge und wechselnden Perspektiven gefallen und ich bewundere aufrichtig, wie Antje Rávik Strubel die komplizierte Übersetzungsarbeit gemeistert hat. Der fragmentierte Erzählstil mit unter anderem englischen Einschüben, verkürzten Sätzen, Kursivschrift, Großbuchstaben, Einrückungen und – für mich besonders störend – vielen Klammern, war mir aber definitiv zu dominant und leider habe ich keinen Zugang zum in den Feuilletons vielgepriesenen „punkigen“ Rhythmus des Romans gefunden. Am Themenpanorama liegt es jedenfalls nicht, dass ich mich beim Lesen schwergetan habe. Missbrauch und Gewalt, Rache, Schuld und Scham, Verdrängung und Verleugnung, Gruppendynamik und Gruppenzwang, Klassengesellschaft, Frauenfreundschaft und weibliche Konkurrenz, die Metoo-Debatte (finnlandschwedisch: #dammenbrister) und die Hintergründe einer solchen Tat sind großartige Romansujets – nur hätte ich eine andere Erzählweise vorgezogen.

Sehr empfehlenswert sind Interviews mit der Autorin und die begeisterten Diskussionen über den Roman, die man im Netz hören und nachlesen kann.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet? Aus dem Schwedischen übersetzt von Antje Rávik Strubel. Residenz 2022
www.residenzverlag.com

 

Weitere Rezension zu einem Roman, der mit dem Großen Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet wurde:

1964

Alex Schulman: Glöm mig

  Jenseits der Schmerzgrenze

Die beiden auf Deutsch erschienenen Romane des 1976 geborenen Autors Alex Schulman, in Schweden sehr prominent als Blogger, Podcaster, Fernseh- und Radiomoderator, habe ich mit so großer Begeisterung gelesen, dass ich mich nun an sein 2016 erschienenes Buch Glöm mig im Original gewagt habe. Obwohl ausgezeichnet als Årets bok 2017 auf der Buchmesse in Göteborg, wurde es leider bisher nicht übersetzt.

Immer wieder das Familienthema
Sein Roman Die Überlebenden von 2020, deutsche Ausgabe 2021, erzählt mit deutlichen autobiografischen Anklängen von einer dysfunktionalen Familie und der Entfremdung der drei Söhne. Für Verbrenn all meine Briefe aus dem Jahr 2018, deutsche Ausgabe 2022, hat Alex Schulman über seine Großeltern mütterlicherseits recherchiert, den Schriftsteller Sven Stolpe und seine Frau Karin, mit der Frage nach der Vererbung von Gefühlen und Verhaltensmustern. Auslöser war eine Familienaufstellung, die hohes Aggressionspotential in diesem Familienzweig zeigte.

Glöm mig (Vergiss mich) ist ein Buch über seine Mutter Lisette Schulman, geborene Stolpe, Fernsehmoderatorin, Juristin, Redenschreiberin für Wirtschaftsbosse, Politikerin. Alex Schulman setzte sich darin kurz nach ihrem Tod mit ihrer 30 Jahre währenden Alkoholsucht auseinander, damit, wie das Aufwachsen unter schrecklichen Bedingungen ihn bis heute prägt, wie er nach Versöhnung suchte und sich nach der Mutter aus seinen frühesten Kinderjahren sehnte:

Det har varit trettio mörka år. Och kanske några år till. Men bakom alla de där åren finns en sommaräng, där finns min riktiga mamma och väntar på mig. (S. 155)

[Es waren dreißig dunkle Jahre. Oder vielleicht mehr. Aber hinter all diesen Jahren gibt es eine Sommerwiese, auf der meine richtige Mama auf mich wartet.]

1983 begannen die drei Söhne, die leeren Pfandflaschen aus dem mütterlichen Kleiderschrank einzutauschen. Eine verwirrende Unsicherheit breitete sich in dieser Übergangsphase aus:

[…] den mamma jag hade en gång hade inte riktigt fanns kvar. Jag hade en ny mamma och hennes tålamod med mig var nästan alltid slut. (S. 43)

[…von der Mutter, die ich vorher hatte, blieb nicht wirklich etwas übrig. Ich hatte eine neue Mama, die kaum noch Geduld für mich aufbrachte.]

© B. Busch

Intuitiv verstanden die Söhne, dass über die Sucht unbedingt geschwiegen werden musste. Auch der 32 Jahre ältere Ehemann Allan Schulman, ein cholerischer Fernsehproduzent, der Mutter jedoch sehr zugetan, schaute lieber weg. Erst als Alex Schulman selbst zwei Kinder hatte, unter Panikattacken litt, nicht mehr arbeiten konnte und seine Ehe gefährdet war, suchte er professionelle Hilfe und konfrontierte die Mutter mit ihrer Sucht:

Jag säger det här både för din skull och min skull, för jag vill att vi ska överleva både två. (S. 119)

[Ich sage das für uns beide, weil ich will, dass wir beide überleben.]

Gestohlene Kindheit
Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland derzeit etwa drei Millionen Kinder mit  suchtkranken Elternteilen, verstrickt in eine Co-Abhängigkeit. Etwa ein Drittel von ihnen entwickelt selbst eine Sucht, ein weiteres leidet unter psychischen Erkrankungen. Fehlende Hilfe von außen, wie in Glöm mig, verschlechtert die Prognose.

Alex Schulman schildert höchst emotional, wie seiner Mutter der Alkohol wichtiger war als die Beziehung zu ihren Söhnen und Enkeln, wie die Kinder auch als Erwachsene unter dem Terror, der Manipulation und dem Ignorieren durch die Mutter litten und vom schweren charakterlichen Erbe – nicht als Abrechnung, sondern im Ringen um Verstehen und Versöhung. Thematisch erinnert der Roman an Shuggie Bain von Douglas Stewart, hat mich aber durch die ruhige, nachdenkliche Erzählweise noch mehr bewegt.

Ein trauriges, herzzerreißend ehrliches Buch, das man nach der Lektüre garantiert nicht wieder vergisst.

Zoom-Meeting für Bloggerinnen und Blogger mit Alex Schulmann am 15.08.2021. © B. Busch

Alex Schulman: Glöm mig. Bookmark 2020
bookmarkforlag.se

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman

Weitere Rezension zu einem Roman, der in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurde:

2021

Helga Flatland: Eine moderne Familie

  Stürmische Zeiten

So wie die Schrift auf dem Cover des Romans Eine moderne Familie in Schieflage gekommen ist, so gerät auch das Leben der darin porträtierten norwegischen Mittelstandsfamilie aus dem Lot. In ihrem 2017 mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichneten Roman zeigt die 1984 geborene Autorin Helga Flatland eine Familie, die nach der Trennung der Eltern komplett auseinanderzubrechen droht. Die Ankündigung der Scheidung anlässlich einer gemeinsamen Italienreise zum 70. Geburtstag von Vater Sverre kommt für die drei erwachsenen Geschwister wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nur Minuten, nachdem die älteste Tochter in ihrer Gratulationsrede die Einheit der Eltern Sverre und Torill für die Geschwister und füreinander beschworen hat, lässt der Vater die Bombe platzen:

«Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen», sagt er […] (S. 60)

«Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war», spricht Papa weiter, «Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.» (S. 61)

Drei Perspektiven für unterschiedliches Erleben
Nun könnte man erwarten, dass es im Folgenden um die Beweggründe der Eltern und die Durchführung der Trennung geht, aber weit gefehlt. Stattdessen lässt Helga Flatland die drei Geschwister aus der Ich-Perspektive erzählen, je zweimal Liz, die 40-jährige Älteste, und Ellen, ihre um zwei Jahre jüngere Schwester, sowie abschließend einmal den 30-jährigen Bruder Håkon. Obwohl alle längst auf eigenen Beinen stehen, reißt sie die Nachricht mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht und bringt nicht nur ihr Verhältnis zu den Eltern, sondern auch ihre Beziehung untereinander in schweres Fahrwasser.

© B. Busch

Liz, verheiratet und selbst Mutter zweier Kinder, hasst Veränderungen seit jeher, fühlt wie immer die gesamte Verantwortung auf ihren Schultern, geht auf Distanz zu Eltern und Geschwistern, schämt sich für Mutter und Vater, gefährdet ihre eigene Ehe und schlingert am Rande einer Depression:

Mit einem Achselzucken reißen sie alles ein, worauf ich mein eigenes Leben gebaut habe. (S. 135)

Ellen, die endlich den Mann fürs Leben gefunden hat, versucht verzweifelt, Mutter zu werden. Sie reagiert wütend, mit Unverständnis und verbittert:

»Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!« (S. 62)

Håkon, verhätscheltes, nie ganz erwachsen gewordenes Nesthäkchen, nimmt die Nachricht zunächst vergleichsweise gelassen auf und sieht sich in seiner Verweigerung monogamer Beziehungen bestätigt – bis eine Frau seine Lebensphilosophie erschüttert.

Komplexe Familienstrukturen
Zwei Jahre lang folgt Eine moderne Familie den drei Geschwistern, zeigt, wie die Nachricht sie in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster aus der Kindheit zurückwirft, wie alte Konkurrenzkämpfe neu aufleben und wie sie sich auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis und Miteinander machen. Der besondere Reiz des Romans liegt dabei für mich in der Erzählweise, die einerseits gleiche Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt, andererseits die Handlung vorantreibt.

Helga Flatland erzählt ruhig und nicht wertend über das Beziehungsgeflecht innerhalb einer ganz normalen Familie und die Neuzusammensetzung der familiären Puzzlesteine. Ihr Roman handelt von Rollen, Abhängigkeiten, Verletzungen, Empfindlichkeiten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, meist ernst, manchmal ironisch, mit hohem Wiedererkennungswert und absolut lesenswert.

Helga Flatland: Eine moderne Familie. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Weidle 2019
www.weidleverlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2003
2014
2015
Hjorth
2016
2018

 

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen

  Luxuria oder Der Moment der Wahrheit

Keine Institution war in den letzten Jahren so verstrickt in Missbrauchsskandale wie die katholische Kirche. Deshalb mutet der Beginn des Romans Die Summe des Ganzen von Steven Uhly wie eine Verdrehung der Umstände an, denn hier wendet sich ein junger Unbekannter wegen seiner pädophilen Neigungen ausgerechnet an einen Padre. In der Pfarrkirch des Heiligen Isidro in Horaleza, einem ärmlichen nordöstlichen Außenbezirk von Madrid, erscheint im Beichtstuhl von Padre Roque de Guzmán an einem Mittwoch Anfang März während der Coronazeit und dann fast täglich ein Sünder, der in gehetztem Ton Ungeheuerliches berichtet: Er sei im Begriff, sich an seinem zehnjährigen Nachhilfeschüler zu vergehen, einem „betörenden Engel“, der offensichtlich auch Gefühle für ihn hege:

Welch eine Beichte! Eine Beichte, die etwas zum Gegenstand hat, was noch gar nicht geschehen ist, wovon er aber weiß, dass es unvermeidlich stattfinden wird. Unvermeidlich! Und strenggenommen findet es bereits dadurch statt, dass er weiß, was er tun wird. (S. 21)

Unter Druck
Der Padre, ein gesetzter Mann von 50 Jahren, routiniert in der Abnahme der Beichte und der göttlich-autorisierten Befreiung von Sünde und Schuld bei Ehebruch, Gewalt und anderen alltäglichen Vergehen, gerät bei diesem für ihn gesichtslosen Mann von Beichte zu Beichte mehr ins Schwitzen. Zugleich wartet er dringend auf ihn und fürchtet seine Rückkehr. Nicht nur, dass der Missbrauch immer näherrückt, setzt ihn der offensichtlich gebildete, bibelfeste Sünder mit seinen Argumentationen, Rechtfertigungen und Schilderungen immer mehr unter Druck und veranlasst ihn zu Aussagen, über die er selbst staunt. Von Beichte zu Beichte schwindet seine professionelle Souveränität und das Wortgefecht lässt die Grenzen zwischen Sünder und Priester immer mehr verschwimmen…

© B. Busch

Verirrte Elefanten
Der überwiegende Teil von Stephen Uhlys achtem Roman, der für mich der erste war, spielt  im Beichtstuhl. Lediglich kurze Sequenzen zeigen den Padre außerhalb seiner Kirche und den jungen, von Selbstzweifeln gequälten Mann, Lucas Hernández, wenn er sich mit seiner Zufallsbekanntschaft, dem nigerianischen Drogenhändler Akachukwu trifft, „zwei verirrte Elefanten“, die vorübergehend „Elefantenbrüdern“ (S. 156) werden und sich gegenseitig stützen.

Bloß nicht zu viel verraten…
Es ist schwierig, über diesen Roman zu schreiben, ohne zu viel zu verraten. Bedauerlicherweise ist das bei einigen Rezensenten und Rezensentinnen des Feuilletons so, denn viel zu detailliert gehen sie auf den Inhalt und die Wendungen ein und verderben so die Spannung. Man sollte deshalb das Buch unbedingt vor den Besprechungen lesen. Leider habe ich aber – auch ohne sie zu kennen – recht früh das Ende vorausgeahnt, schade, auch wenn die Lektüre dieses wie ein Kammerspiel angelegten, mit 156 Seiten recht knappen Romans über Schuld, Buße, sexuelle Fantasien, Kontrollverlust, Rechtfertigung, Erlösung, Rache, Manipulation, Täuschung, Vertuschung und Machtmechanismen trotzdem sehr lohnend war. Obwohl oder gerade weil Steven Uhly die Abgründe, Mechanismen und Folgen von Pädophilie sehr genau ausleuchtet und bis an die Schmerzgrenze seiner Figuren, aber auch der Leserinnen und Leser geht, kann ich den theologisch-philosophisch-ethischen Schlagabtausch im Beichtstuhl als gewinnbringenden Beitrag zur aktuellen Debatte über Kindesmissbrauch sehr empfehlen.

Steven Uhly: Die Summe des Ganzen. Secession 2022
secession-verlag.com

Kent Haruf: Das Band, das uns hält

  Was ist schon gerecht?

Das Leben ist nun mal nicht gerecht. Und dass wir ständig denken, es müsste gerecht sein, spielt offenbar nicht die geringste Rolle, verdammt. Besser, du begreifst das jetzt als nie. (S. 159)

Es passiert häufiger, dass ich einen schönen Roman mit einer gewissen Wehmut beende, aber auf Das Band, das uns hält von Kent Haruf (1943 – 2014) trifft das in ganz besonderer Weise zu. Einerseits war auch dieser sechste Ausflug ins fiktive US-Präriestädtchen Holt im östlichen Colorado wieder eine rundum erfreuliche Lektüre, andererseits ist er unwiderruflich die letzte Begegnung mit seinen ganz besonderen Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Alltag und Schicksalen Kent Haruf sich in seinen sechs unabhängig voneinander zu lesenden Romanen widmet. Seit 2017 hat der Diogenes Verlag sie nach und nach veröffentlicht, beginnend mit dem unvergleichlichen, 2015 posthum erschienenen letzten Werk Unsere Seelen bei Nacht, und endet nun, 2023, mit seinem preisgekrönten Debüt von 1984.

Aus Holts Anfangszeit
Mit Edith Goodnough hat Kent Haruf eine weitere unvergessliche Protagonistin geschaffen, geboren 1897 in Holt. Sie ist das Kind von Roy Goodnough und seiner Frau Ada, die 1896 nach dem Homestead Act Präsident Lincolns von 1862 mit dem Pferdewagen aus Iowa ins östliche Colorado kamen, um Landbesitz zu erlangen. Was sie vorfanden war baumloses, sandiges, trockenes, flaches ehemaliges Cheyenne-Land und elende landwirtschaftliche Bedingungen. Sieben Meilen von Holt entfernt gründeten sie mühevoll eine Farm, die nächsten Nachbarn, eine Halb-Cheyenne namens Hannah Roscoe und ihr sechsjähriger Sohn John, eine halbe Meile entfernt.

Ein Leben in eiserner Disziplin
Schon für Ada, die ihre neue Heimat bis zu ihrem frühen Tod hasste und unter der Gewalt und der cholerischen Tyrannei ihres Mannes litt, war die Familie Roscoe der einzige Lichtblick. Diese enge, schicksalhafte Verbindung zwischen den beiden Familien setzte sich in den nächsten Generationen fort. Folgerichtig ist es Hannahs knapp 50-jähriger Enkel Sanders Roscoe, der im Frühjahr 1977 Ediths Lebensgeschichte mit viel Zuneigung und Bereitschaft zu ihrer Verteidigung erzählt. Es ist der Bericht über eine liebenswerte Frau, die ein hartes, enges Leben führte, nie für ihre Belange eintrat, ihre Zukunft, Liebe und Freiheit in demütigem Pflichtbewusstsein den Interessen ihres Vaters und ihres jüngeren Bruders Lyman opferte, dennoch stets ihre stille Würde bewahrte, die freudigen Momente aus vollem Herzen genoss und nun mit 80 Jahren unter einer schwerwiegenden Anklage steht.

© B. Busch

Ein schmales großes Werk
Kent Haruf hat mit dem unspektakulären Präriestädtchen Holt eine Bühne für seine universellen und zeitlosen Themen wie Pflichtbewusstsein und Würde, Einsamkeit und Ignoranz, Nächstenliebe, Menschlichkeit, Herzenswärme und Großzügigkeit, Gruppendynamik, Leidenschaft und Mut, Familienbeziehungen und Freundschaft, Enge und Weite geschaffen. Alle Holt-Romane sind packend und fangen das Prärieleben großartig atmosphärisch ein. Mit viel Empathie, einer zu den Menschen passenden schmucklosen, derben Sprache, in gemächlichem Tempo, voller schmerzhafter Traurigkeit und sanftem Humor und ohne jede kitschige Landleben-Romantik erzählt Kent Haruf ohne zu verurteilen bewegende menschliche Dramen mit tragischen, glaubwürdigen Heldinnen und Helden der High Plains.

Schade nur, dass Kent Haruf kein umfangreicheres Werk hinterlassen konnte. So bleibt nichts anderes übrig, als die sechs Holt-Romane irgendwann erneut zu lesen. Ich freue mich drauf!

Kent Haruf: Das Band, das uns hält. Aus dem amerikanischen Englisch von pociao und Roberto de Hollanda. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Kent Haruf auf diesem Blog:
         

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann

  „Die Moral ist in jedem Zeitalter das, was der herrschenden Klasse nutzt“

Romane über Dachbodenfunde anlässlich der Auflösung elterlicher oder großelterlicher Häuser gehören nicht zu meinen bevorzugten Lektüren, allzu abgedroschen ist das Thema inzwischen. Ist die Entdeckung jedoch der Roman selbst, wie bei dem 70 Jahre lang verschollenen Manuskript Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann des Ungarn János Székely (1901 – 1958), wird es richtig spannend. Er verließ sein Heimatland 1918 auf der Flucht vor dem Weißen Terror des Horthy-Regimes, arbeitete erfolgreich als Drehbuchautor in Berlin, emigrierte 1938 nach Hollywood, erhielt 1940 einen Oscar, veröffentlichte 1946 seinen bekanntesten Roman Verlockung und ging während der McCarthy-Ära wie viele Kunstschaffende ins mexikanische Exil. Dort entstand höchstwahrscheinlich das Manuskript, dessen englische Fassung der Übersetzer und Autor Tony Kahn 2020 auf seinem Dachboden in Truro, Cape Cod, fand und Székelys Tochter Katherine Frohriep übergab. Nun ist es erstmals im Diogenes Verlag auf Deutsch erschienen, mit reichem Anhang und als Übersetzung der englischen Übersetzung, denn das ungarische Original ist weiterhin verschollen.

Götterdämmerung
Der Romans spielt hauptsächlich in einer heißen Sommernacht 1944, als die Ungarn, je nach Gesinnung, die endgültige Niederlage der deutschen Wehrmacht herbeisehnten oder fürchteten. Ergänzend gibt es ausführliche Rückblenden und einen kurzen Epilog über das weitere Schicksal der wichtigsten Personen.

Ein Bogen über sieben Jahrhunderte
1944 geht es dem bäuerlichen Stand genauso schlecht wie seit 700 Jahren, die Herren wechselten, nicht jedoch die elenden Bedingungen. Im fiktiven Dorf Kákásd gewährt der wortkarge Bauer János Garas zwei Zigeunern – die editorische Notiz erklärt die ausnahmsweise Verwendung dieses Begriffs – Unterschlupf vor den Nazi-Schergen und ihren ungarischen Handlangern. Die aufgeweckte junge Wanderzigeunerin Julka, mangels Alternativen zum Wahrsagen und zur Prostitution verdammt, und der eitel-überhebliche Zigeuner-Primas Marci Balogh VI lernten sich bei der Flucht aus einem KZ-Deportationszug kennen. Sie stellen sich Garas als Geschwister vor, Julka lebt fortan bei ihm im Haus und bezahlt dafür mit ihrem Körper, Marci, rasend verliebt, findet sich im Stall wieder, bis Garas ihm eine Stelle als Geiger im Bordell vermittelt. Während sich im Dreiecksverhältnis unter Garas‘ Dach die Vorzeichen allmählich ändern, zittert die unter dem Schutz des dekadenten, nur noch als Verwalter im ehemals familieneigenen Schloss beschäftigten Grafen Tamás Boncza stehende jüdische Familie Stern/Rosenberg um ihr Leben, beginnt Marci eine gefährliche Affäre mit Nusi, der Frau des neuen Schloss-Pächters, Nazi-Massenmörders und Vize-Ministers Lóránt Barankay und planen die Bauern, getrieben von jungen Kriegsrückkehrern, den ersten Streik seit 700 Jahren:

Man hatte ihnen befohlen, Menschen zu ermorden, die ihnen nichts getan hatten, sodass sich jetzt ihre Mordlust gegen die wandte, die ihnen jahrhundertelang nichts als Leid angetan hatten. (S. 276)

© B. Busch

Die Welt verstehen
János Székelys Verlockung gehört für mich zu den ganz großen, unvergesslichen Romanen der Weltliteratur. Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann reicht nicht ganz an dieses frühere Werk heran, fehlt ihm doch merklich ein Lektorat. Viel zu lang und quälend detailliert sind für mich die Kapitel über die Sexbesessenheit Marcis im ersten Teil und auch der interessante politische Diskurs in der zweiten Hälfte hätte von einer Straffung profitiert. Trotzdem ist auch dieser Roman unbedingt lesenswert. Er strahlt durch seine vielen Einzelschicksale und zeigt am Mikrokosmos eines Dorfes das Schicksal Europas:

[…] du kannst die Welt nicht verstehen, wenn du Kákásd nicht verstehst. (S. 438)

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. Herausgegeben von Silvia Zanovello. Mit einem Nachwort von Sacha Batthyany und einer Erinnerung von Katherine Frohriep geb. Székely. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezension zu einem Roman von János Székely auf diesem Blog: