Micaela Jary: Sterne über der Alster

Für Freunde von Beziehungsdramen

Leider, leider hat dieses Buch überhaupt nicht meinen Erwartungen aufgrund des Ankündigungstextes entsprochen. Eigentlich hätte ich es nach dem Cover ahnen können, doch das Versprechen einer geheimnisvollen Hamburger Familiengeschichte inmitten der Revolution von 1918/19 war zu verlockend.

Ich möchte dieses Buch trotz meiner subjektiven sehr schlechten Bewertung keineswegs verdammen. Da ich es in einer Leserunde gelesen habe, weiß ich, dass es fast allen sehr gut gefallen hat. Ich möchte nur denen, die vielleicht gleiche Erwartungen wie ich haben, davon abraten und dies im Folgenden begründen.

Hätte ich das Buch nicht in einer Leserunde gelesen und mich zu einer Rezension verpflichtet, hätte ich sicher nach spätestens 50 Seiten abgebrochen. Da ist zunächst die sehr einfache Sprache, kurze Sätze, nichts was in meinen Ohren klingt, keine geschliffene Formulierung, die man gerne zweimal lesen möchte und die hängen bleibt. Die geschichtlichen Hintergründe, die in der ersten Hälfte des Buches praktisch gar keine Rolle spielen, in der zweiten dann mehr Erwähnung finden, bleiben starr wie eine Kulisse im Hintergrund und sind für die Handlung fast ohne Bedeutung.

Was den Inhalt betrifft, so stehen die drei Töchter des zu Beginn des Romans durch Selbstmord aus dem Leben scheidenden Reeders Victor von Dornhain im Mittelpunkt. Dazu kommen eine illegitime Tochter, die im Haushalt der großbürgerlichen Villa Dornhain am Harvestehuder Weg als zweites Hausmädchen beschäftigt ist und deren wahre Abstammung  erst im Abschiedsbrief des Vaters enthüllt wird, sowie die Großmutter, eine in altem Denken verharrende, vor allem auf den äußeren Schein achtende Dame. Während draußen der Krieg verloren ist, die Revolution tobt, der Kaiser abdankt, das Volk hungert und politische Umwälzungen nie gekannten Ausmaßes ablaufen, sind die Gedanken der drei Töchter fast ausschließlich auf ihre privaten Beziehungen gerichtet. Selbst die älteste Tochter Ellinor Dornhain, die von ihrem Vater auf die Übernahme des Familienbetriebs vorbereitet wurde, zeigt wenig Unternehmergeist, sodass wir leider über die Reederei so gut wie nichts erfahren. Dafür sind die Liebesverwicklungen der drei jungen Frauen mit allen kleinen und großen Beziehungsdramen detailliert und in kurzen Sequenzen ähnlich einer Fernsehsoap dargestellt. Außer der illegitimen Tochter war mir keine der Figuren sympathisch, ich konnte mich nicht in sie einfühlen und an ihrem Schicksal Anteil nehmen.

Mir hat in diesem Roman viel gefehlt, z. B. das versprochene „hanseatische Flair“, ausführliche Personenbeschreibungen und eine Beschreibung der Beziehungen zwischen den Personen, die in meinen Augen so seltsam unverbunden agieren. Ich würde außerdem jedem, der den Roman gerne lesen möchte, unbedingt empfehlen, mit dem ersten Band Das Haus am Alsterufer zu beginnen, denn vieles war für mich ohne Vorkenntnisse nur zu erahnen.

Micaela Jary: Sterne über der Alster. Piper 2015
www.piper.de

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders

Ein Versuch, Geschichte zu verstehen

Uwe Timm, geboren 1940, einer der bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur und mehrfach ausgezeichnet, schreibt in diesem dokumentarischen Bericht über seinen 1943 am Dnjepr gefallenen Bruder und die Geschichte seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Bruder hatte ihn „abwesend und doch anwesend“ durch seine Kindheit begleitet, „in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern“.

Erst nach dem Tod der Eltern und der Schwester konnte sich Uwe Timm an dieses Thema wagen und hat dafür Fotos, Feldpostbriefe, das knappe Kriegstagebuch des Bruders, das Gehörte und die wenigen eigenen Erinnerungen verarbeitet. Zentrale Fragen waren dabei für ihn, warum der gerade 18-jährige Bruder sich freiwillig ausgerechnet zur Waffen-SS gemeldet hatte und warum er nach dem Krieg in der Familie so verehrt wurde. Man spürt den Wunsch Timms, der Bruder hätte den Gehorsam verweigert, und seine Angst, bei den Recherchen herauszufinden, dass die Division an Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung oder Juden beteiligt war.

Fair, ehrlich und in sehr klarer Sprache schreibt Uwe Timm in Anekdoten nicht nur über eine exemplarische Familie im Krieg und in der Nachkriegszeit, sondern reflektiert auch die Verdrängung der Nazizeit nach 1945 in Westdeutschland. Dennoch ist Am Beispiel meines Bruders keine Abrechnung, sondern ein Versuch, Geschichte zu verstehen.

Ich lese dieses in der wunderbaren, unverwechselbaren Uwe-Timm-Sprache verfasste Buch immer wieder mit sehr viel Gewinn und es hat einen Ehrenplatz in meinem Bücherschrank.

Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders. Kiepenheuer & Witsch 2003
www.dtv.de

Sabine Ludwig & Isabel Pin: Wie lange noch?

Ein Adventskalender zum Vorlesen

Wie lange noch?  – Wer kennt sie nicht, diese Frage der Kinder vor Weihnachten? Sabine Ludwig ist die Herausgeberin des gleichnamigen Buches mit dem Untertitel Die schönsten Adventsgeschichten in 24 Tagen, das aber auch Lieder, Gedichte und sogar Rezepte enthält.

Vertreten sind so unterschiedliche Autoren wie Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi, Charles Dickens, Erich Kästner, Tilde Michels, Klaus Kordon, Paul Maar, Kirsten Boie, natürlich Sabine Ludwig und viele andere. Die Geschichten sind mal lustig, mal traurig, und nicht so kurz wie sonst oft in Adventskalendern zum Vorlesen. Man sollte also für das abendliche Vorlesen im Familienkreis etwas mehr Zeit einplanen.

Die Illustrationen der Französin Isabel Pin untermalen die sehr gut ausgewählten Geschichten.

Entgegen der Altersangabe des Verlag von 5 bis 14 Jahren würde ich es frühestens ab 7, dafür aber ohne Begrenzung nach oben empfehlen.

Sabine Ludwig & Isabel Pin: Wie lange noch? Aufbau 2011
www.aufbau-verlag.de

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater

Eine Reise in die Belle Epoque – leider gekürzt!

Anne Gesthuysen erzählt in ihrem neuen Roman Sei mir ein Vater gleich zwei Geschichten. In der autobiografisch beeinflussten Rahmenhandlung geht es um die knapp vierzigjährige Pariserin Lilie, die sich während eines Jahres als Schülerin in Deutschland mit ihrem Gastvater Hermann einen Ersatz für ihren stets abwesenden biologischen Vater Yves gesucht hat. Mit Hermann, der sich im Endstadium einer Krebskrankheit befindet, und ihrer Wahlschwester Hanna unternimmt sie eine letzte Reise auf den Spuren ihrer Ururgroßtante, der Malerin Georgette Agutte (1867 – 1922), und eines geheimnisvollen verschollenen Bildes.

Was wir über diese Malerin und ihren zweiten Mann, den Juristen und Politiker Marcel Sembat, erfahren, macht für mich den Reiz dieses Buch aus. Obwohl Georgette Agutte als Malerin genauso wenig in der ersten Reihe stand wie ihr Mann als Politiker, war das Ehepaar mit vielen Künstlern und anderen bekannten Persönlichkeit ihrer Zeit befreundet, u.a. mit  Henri Matisse, Camille Pissaro, Pierre-Auguste Renoir und Emile Zola sowie dem Politiker und Pazifisten Jean Jaurès.

Dieser historische Teil macht für mich den Reiz des leicht erzählten Romans aus. Die Berühmtheiten ihrer Zeit, die im Hause Agutte-Sembat ein- und ausgingen, sowie die Zeitumstände, vor allem während des Ersten Weltkriegs, sind sehr gut und lebendig dargestellt und laden dazu ein, weitere eigene Nachforschungen anzustellen. Beim Hören habe ich deshalb immer wieder ein Lexikon und verschiedene Bildbände bemüht und den Roman damit „angereichert“.

Etwas schwächer ist dagegen die Rahmenhandlung, die zwar unterhält, aber bei weitem nicht so tiefgehend ist. Gut gefallen hat mir dagegen das Motiv, das die beiden so unterschiedlichen Frauen Lilie und Georgette Agutte verbindet: das Aufwachsen ohne Vater. Während Georgette ihren Maler-Vater wegen dessen frühem Tod nie kennengelernt hat, ist Lilies Vater zu egozentrisch, um sich um sie zu kümmern, und taucht nur sporadisch auf. Der glücklich verheirateten Georgette bleiben eigene Kinder verwehrt wohingegen die alleinlebende Lilie einen Sohn hat, der wiederum ohne Vater aufwächst – die Geschichte wiederholt sich.

Warum vergebe ich nur drei Sterne, obwohl ich mich durch das Hörbuch sehr gut unterhalten gefühlt habe und die Sprecherin Doris Wolters den Roman ausgezeichnet und mit der genau richtigen Menge an Schauspielerei liest? Ich habe dieses Hörbuch im Rahmen einer kombinierten Hör- und Leserunde gehört. Dabei ist mir aufgefallen, dass es leider an vielen Stellen gekürzt ist, und zwar vor allem bei der Geschichte um Georgette Agutte. So fehlt z. B. die sehr interessante Begegnung mit Renoir und auch das wichtige Nachwort ist dem Rotstift zum Opfer gefallen. Schade, denn ich würde für die vollständige Lesung gerne ein paar Euro mehr bezahlen. Dem Buch hätte ich vermutlich vier Sterne gegeben, für die Kürzungen des Hörbuchs ziehe ich einen Stern ab.

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater. Argon Hörbuch 2015
www.argon-verlag.de

Garry Disher: Drachenmann

Nichts für schwache Nerven

Es ist kurz vor Weihnachten in der sommerlichen Hitze Australiens. Das Wasser wird knapp, es drohen Buschfeuer und Detective Inspektor Hal Challis wünscht sich nichts sehnlicher, als die Gespenster aus der Vergangenheit, die anlässlig des bevorstehenden Fests wieder lebendig werden, mit einem neuen Fall zu vertreiben.

Sein Wunsch wird erhört: Auf dem Old Peninsula Highway vor Melbourne wird eine Frau auf brutale Weise vergewaltigt und ermordet. Kurz darauf geschieht ein weiterer Mord und in einem Brief an die örtliche Zeitung wird ein dritter angekündigt. Challis und sein Team begeben sich auf die Suche nach einem Serienmörder.

Drachenmann aus dem Jahr 1999 ist der erste Krimi aus der Serie um den Ermittler Inspektor Hal. Atmosphärisch dicht, spannend, mit schnellen Schnitten und aus wechselnden Perspektiven erzählt Garry Disher eine Geschichte, die zugleich Krimi und Milieu-Studie ist, und die man kaum noch aus der Hand legen kann.

Garry Disher: Drachenmann. Unionsverlag 2012
www.unionsverlag.com

Waldtraut Lewin: Mond über Marrakesch

Freundschaft und Liebe in schwierigen Zeiten

Berlin 1940. Kommerzienrat Moebius lässt aus Karrieregründen seine Ehe mit der Jüdin Sidonie annullieren und liefert sie damit den Nazis aus. Seine Tochter Rita, Halbjüdin, die mehr an ihrer Stiefmutter als am Vater hängt, wendet sich deshalb von ihm ab und flieht mit den Diamanten und Schecks aus dem Safe. Ihr Ziel ist Marrakesch, das sie von einer Postkarte Sidonies kennt.

In Straßburg lernt Rita den ehemaligen Fremdenlegionär Gabriel kennen, der von den Nazis gesucht wird. Gemeinsam fliehen sie vor der heranrückenden deutschen Wehrmacht und aus der Zweckgemeinschaft wird allmählich Liebe. Doch da sie nur einen Pass haben, kann plötzlich nur noch einer weiter, und nur einer wird den Mond über Marrakesch sehen…

Freundschaft und Liebe sind immer möglich, egal wie schwierig die äußeren Umstände sind. Eine packende Lektüre für Jugendliche ab ca. 13 Jahre und Erwachsene!

Waldtraut Lewin: Mond über Marrakesch. Ravensburger 2006
www.ravensburger.de

Birger Koch: Wau sucht eine Frau

Ein Hund auf Partnersuche

Weil sich der kleine Wau in seiner Hütte einsam fühlt, geht er auf die Suche nach einer Frau. Doch überall hat er Pech: Die Maus hat schon eine Familie, die Kuh ist zu groß, der Hahn will keine Henne abgeben, das Schwein schnacht und die Pudeldame ist zu vornehm. Doch gerade als er resigniert hat und traurig in seiner Hütte liegt, kommt Rettung…

Bei diesem Bilderbuch stimmt einfach alles: Die knappen Sätze mit eingeflochtener wörtlicher Rede sind schon für Dreijährige verständlich und die mit grobem Pinsel in leuchtenden Farben gemalten, ausdrucksstarken Bilder unterstützen den Text optimal.

Birger Koch: Wau sucht eine Frau. Bohem Press 2006
www.bohem.ch

Christopher Wilkins: Der Zeitmesser

Ohne Erinnerung kann es Zeit nicht geben

„Zeit ist Erinnerung. So einfach ist das. Ohne Erinnerung kann es Zeit nicht geben.“

Und eben dieses Erinnerungsvermögen geht der jungen Elisabeth verloren, als sie an Alzheimer erkrankt. Ihr Mann, der Mathematiker und Uhrmacher Robert Garrett, beschließt, ihr durch den Bau einer perfekten Uhr ein Denkmal zu setzen.

Christopher Wilkens verwebt in seinem ersten Roman die Liebes- und Krankheitsgeschichte mit einer Historie der Zeitmessung von den Uhren der Antike bis zur Atomuhr.

Ein spannender und interessanter Roman, der zudem durch seine gelungene Aufmachung besticht.

Christopher Wilkins: Der Zeitmesser. Rowohlt 2000
www.rowohlt.de

Simone van der Vlugt: Klassentreffen

 Gedächtnisverlust oder Verdrängung?

Die Niederländerin Simone van der Vlugt, ist bis 2006 nur als Autorin spannender und gut recherchierter historischer Jugendromane in Erscheinung getreten. 2006 ist mit Klassentreffen ihr erster Roman für Erwachsene und Jugendliche ab ca. 15 Jahren auf Deutsch erschienen, der es an Spannung mit jedem Thriller aufnehmen kann.

Die 23-jährige Sabine nimmt nach einem Burnout-Syndrom ihre Arbeit im Sekretariat einer Amsterdamer Großbank wieder auf. Ihre Psychologin hat sie dorthin zurückgeschickt, obwohl sie vermutet, dass der Zusammenbruch mit einem verdrängten Erlebnis aus früherer Zeit zusammenhängt, zu dem weder sie noch Sabine im Moment Zugang haben.

Bedingt durch verschiedene äußere Anlässe, wie das Mobbing im Büro, die Einladung zu einem Klassentreffen, die Begegnung mit einem Jugendfreund ihres Bruders und schließlich das Wiedersehen mit ihrer großen Jugendliebe lassen die Erinnerung an das vermeintlich Vergessene jedoch allmählich zurückkehren. Vor neun Jahren ist Sabines einst beste Freundin Isabel, die ihr zuletzt durch das Mobbing mit ihrer Clique das Leben zur Hölle gemacht hat, spurlos verschwunden. Langsam und puzzlehaft gelingt es Sabine, den Tag zu rekonstruieren und plötzlich weiß sie, dass sie damals einen Mord beobachtet hat …

Simone van der Vlugt: Klassentreffen. Diana 2007
www.randomhouse.de

Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht

Der Sohn des Patriarchen

Hanns-Josef Ortheil hat diesen Familienroman aus dem Jahr 2005 in der Branche angesiedelt, die er kennt wie kaum ein anderer: im deutschen Literaturbetrieb.

Der alte, hemdsärmlig und in Gutsherrenmanier regierende Patriarch Richard von Heuken, Herrscher über ein Verlagsimperium, hat seine drei Kinder Georg, Christoph und Ursula nie neben sich hochkommen lassen. Die Nachfolgeregelung ist offen und die drei sind vorläufig mit je einem Verlag als „Spielwiese“ abgespeist. Doch nun erleidet der Mann wie aus heiterem Himmel einen zweiten, lebensbedrohlichen Infarkt, und während er in kritischem Zustand auf der Intensivstation liegt, begleiten wir seinen ältesten Sohn Georg, 52 Jahre, auf der Spurensuche nach dem Vater, dem Kampf gegen seine Geschwister um die Leitung der Heukengruppe und seiner eigenen Neuorientierung. Er, der „Mann, dem man noch keine Gelegenheit gegeben hat, zu seiner Höchstform aufzulaufen“, versucht nun, die Kontrolle nicht nur über das Imperium, sondern auch über sein eigenes Leben zu bekommen und nichts aus seinem bisherigen Leben scheint mehr zu ihm zu passen: nicht sein Auto, nicht sein Haus und wahrscheinlich nicht einmal mehr seine Frau.

Hanns-Josef Ortheil zeichnet gleichzeitig das Porträt eines Mannes, der sich an einem Wendepunkt seines Lebens und auf der Suche nach einem eigenen Profil befindet, und einer Branche, in der die alten, im wahrsten Sinne des Wortes kriegserfahrenen Haudegen allmählich von Bord gehen.

Ein sehr unterhaltsamer Roman, der interessante Einblicke in die Buchbranche gibt und bei dem mir die Schilderung einer Lektorenkonferenz mit Vorschauplanung besonders gut gefallen hat. Etwas weniger gelungen fand ich dagegen die Schlusspointe.

Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht. btb 2007
www.randomhouse.de